Gastautor / 26.12.2016 / 06:05 / Foto: Bundesarchiv/ Mehmet Sonal / 0 / Seite ausdrucken

Schöne Bescherung – eine Weihnachtsgeschichte (2)

Von Thommie Bayer.

Als sie nach quälenden zehn Minuten etwa endlich den Heizungsraum verlassen konnten, war ihnen nicht nur die Lust aufeinander vergangen, sondern auch eine große Schüchternheit zugewachsen. Sie wagten nicht, einander anzusehen, als sie vor das Schulhaus traten und sich auf einem Weihnachtsmarkt mit allerlei selbstgemachten Puppen, Bären, Holzspielzeug, Kuchen, Socken, Mützen und Baumschmuck fanden.

„Das ist jetzt eher nicht so gut gelaufen“, sagte er.

„Liebe macht wohl manche Menschen zu Bestien“, sagte sie kichernd. „So klang das jedenfalls.“

„Sind Sie auch hier zur Schule gegangen?“

„Ich glaube“, antwortete sie unsicher, „es kommt mir so vor?“

Winfried bemerkte, wie sie sich unschlüssig umsah und schlug vor, etwas zu trinken. „Ich lade Sie ein“, sagte er, „wir brauchen Flüssigkeit, um uns von unserer fast begangenen Sünde reinzuwaschen.“

„Sind Sie gläubig?“ fragte sie.

„War ich mal“, sagte er.

„Glühwein“, sagte sie und deutete auf einen Stand am anderen Ende des Schulhofs.

Ein paar Minuten später saßen sie auf einer Bank, und irgendwann sagte Jeannette: „Bitte halten Sie mich nicht für völlig ausgetickt, aber ich habe vorhin, als wir da so still stehen mussten, was geträumt. Sehr eigenartig. Sie kamen auch drin vor.“

„Was?“, fragte Winfried, der sich auch gerade fragte, wo die letzte halbe Stunde geblieben war.

„Eine Art Engel oder Monster hat uns angesprochen. Wir hatten andere Namen.“

„Und? Was hat er oder es gesagt?“

„Das Zeug schmeckt gut, mögen sie auch noch ein Glas?“

„Was ist daran eigenartig?“

„Nein.“ Jeannette lachte laut. „Das hat nicht der Engel gesagt, das sag ich. Jetzt. Ich will noch ein Glas.“

„Ach so. Ich hol noch.“ Winfried stand auf, aber sie drückte ihn mit einem Finger nieder und ging selbst.

Was sag ich ihr bloß für einen Namen, wenn sie mich fragt, dachte Winfried. Winfried ist scheiße, aber in der Eile weiß ich auch nichts Besseres. Ein seltsames Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Er kam sich vor wie neu geboren. So, als hätte er keine Geschichte, hätte eben erst angefangen zu leben. Wie die Erfindung eines Dichters kam er sich vor, die bei Null anfängt und alles, auch die Erinnerung noch vor sich hat. Es war ein beängstigendes und wunderbares Gefühl.

„Wie heißen Sie?“ fragte sie, nachdem sie ihm ein Glas Glühwein überreicht und sich wieder gesetzt hatte.

„Wir könnten uns eigentlich duzen“, sagte er, um die Peinlichkeit der Namensnennung noch hinauszuschieben. „Ich bin immer noch im besten Duzalter. Erst knapp über vierzig.“

„Gern“, sagte sie und reichte ihm sein Glas. „Wie heißt du?“

„Du könntest doch raten?“

„Wieso denn das?“

„Am liebsten wär mir, du taufst mich“, sagte er ganz ernst. „Mein Name ist scheiße, und außerdem kommt mir alles, was bis vor zehn Minuten in meinem Leben passiert ist, total unglaubwürdig vor.

„Paul wär gut. Willst du Paul heißen?“

„Hm, weiß nicht. Ist so altmodisch.“

„Axel?“

„Nein. Klingt wie Schulter.“

„Lars, Benno, Michael?“

„Nein. Wie heißt du eigentlich?“

„Jeannette.“

„Schön. Bist du zufrieden? Oder willst du auch anders heißen?“

„Laura.“

„Soll ich dich so nennen?“

„Nein.“

Sie lehnte sich zurück und trank einen Schluck.

„Was hat das Monster denn nun vorhin in deinem Traum gesagt“, fragte er, um das Thema zu wechseln.

„Ich glaube ..., das will ich nicht sagen.“

„Warum nicht?“

Sie dachte nach, bevor sie antwortete: „Ich fürchte, du verstehst es falsch.“

„Ich verstehe nie was falsch“, sagte er, und es klang beleidigt.

„Leute, die so reden, verstehen gar nichts“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen.

„Verstehe“, sagte er. Sie lachte laut und lange. Dann sagte sie noch: „Ich habe das Gefühl, ich kenne dich schon ewig.“

Jetzt strömten die Leute aus der Schule. Die Weihnachtsfeier war vorbei. Ein älteres Paar, beide so etwa Mitte, Ende Sechzig mit drei Kindern, zwei Jungs und einem Mädchen, steuerte direkt auf Winfried und Jeannette zu, nachdem sie sich umgesehen und die beiden auf der Bank entdeckt hatten. Die Kinder stritten. Einer der beiden Jungen drückte dem anderen die flache Hand ins Gesicht, das Mädchen trat ihn in die Kniekehlen, die Frau rief: „Finn, Leonie hört auf damit“, und der als Finn angesprochene gab zurück, Fabian, der Seichkopf, habe ihn blöd angemacht, das Mädchen behauptete, das stimme gar nicht, und der Mann sagte: „Schluss jetzt, sonst fällt die Bescherung nachher aus“.

Inzwischen standen sie vor der Bank und schauten alle fünf erwartungsvoll und leicht erschöpft auf Winfried und Jeannette.

„Ihr seid mir schöne Eltern“, sagte der Mann zu Winfried, „Lasst uns mit diesen ungezogenen Kindern in der Weihnachtsfeier sitzen, während ihr euch gemütlich einen ansauft. Nächstes Jahr fahren wir zu deiner Schwester.“

Zurück im Himmel unterrichtete Gabriel PAULA von der vollzogenen Strafe, und die lächelte zufrieden.

„Aber die sahen nicht so aus, als fänden sie‘s besonders schlimm“, sagte Gabriel.

„Abwarten“, sagte PAULA, „meine Mühlen mahlen langsam.“

Thommie Bayers neuer Roman: „Seltene Affären“ erscheint im Piper Verlag, hier eine Besprechung von Monika Bittl.

Foto: Bundesarchiv/ Mehmet Sonal CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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