Burkhard Müller-Ullrich / 05.05.2008 / 00:52 / 0 / Seite ausdrucken

Schillers Schädel: Postmortales Identitätsmanagement

Was für eine makabre Blamage! Da hat sich Weimar jahrhundertelang einen falschen Schiller unterschieben lassen, hat sich damit gebrüstet und in letzter Zeit 60 000 Kulturpilger pro Jahr an der Nase herumgeführt. Jetzt, nachdem der Knochenschwindel aufgeflogen ist, klafft da, wie der Oberbürgermeister erschreckt feststellt, „eine fürchterliche Lücke“. Aber was für eine Lücke? Eine Begründungslücke, um als Tourist nach Weimar zu reisen? Nicht doch. Die deutsche Klassik hat dem Vernehmen nach vor allem mit geistigen Hervorbringungen zu tun; Skelette und Schädel sind da eher Nebensache, möchte man meinen.

Nun zeigt sich allerdings, daß der Kulturbetrieb weitaus weniger aufgeklärt ist als der Religionsbetrieb. Es fiele nämlich niemandem ein, gentechnische Untersuchungen an Heiligenreliquien zu verlangen, weil man sowieso davon ausgeht, daß sie diese Echtheitsprüfung nicht bestehen würden. Und weil man weiß, daß in solchen Knochensplittern die materielle Welt und die symbolische Welt zusammenfließen. Anders bei Schillers Schädel: da wird die halbe Biophysik in Marsch gesetzt, um Gewißheit zu bekommen: War es wirklich jenes Hirngehäuse, in dem „Das Lied von der Glocke“, „Don Carlos“ und „Wallenstein“ ersonnen und erdichtet wurden?

Es war zumindest nicht jenes, das bislang dafür gehalten wurde. Und da beginnt das hochmoderne Thema „Identitätsmanagement“. Sind wir nicht alle auch schon vor dem Ableben nicht unbedingt diejenigen, für die wir gehalten werden, ja sogar für die wir uns selber halten? „Je est un autre“, sagte Schillers späterer Kollege Rimbaud. Überhaupt kann das noch heiter werden, wenn die Wissenschaftler demnächst jeden Dichter auf dem Friedhof mit ihren Meßsonden und Analyseapparaturen aufsuchen, um anhand von DNA-Tests herauszufinden, was im Reich der Verwesung alles nicht stimmt. Zu jeder Editionsgeschichte kommt noch eine Mazerationsgeschichte; wir brauchen nicht nur historisch-kritische Buchausgaben, sondern auch historisch-kritische Grablegen.

So kommt zum Rätsel des Genies auch noch das Rätsel der Identität. Bei Shakespeare haben wir uns daran gewöhnt, bei Schiller sind wir auf dem Weg. Vermutlich war Friedrich Schiller wirklich ein anderer als derjenige, den alle Welt zu kennen glaubt. In Wirklichkeit wurden Schillers Werke nämlich von einem aus Marbach am Neckar stammenden Mann geschrieben, der sich später mit Goethe befreundete, nach Weimar zog und dessen Name bloß zufällig Friedrich Schiller war.

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