Putins Nukleardoktrin

Wer Putins Äußerungen zum Einsatz nuklearer Waffen verstehen will, muss beachten, dass Russland seit dem Jahr 2000 einer neuen Nukleardoktrin folgt. Sie erlaubt es Moskau, einen Angriffsfall willkürlich zu definieren. Nukleare Verteidigung und nuklearer Präventivschlag gehen ineinander über.

Wir setzen Atomwaffen nicht als Erster ein, beantworten jedoch einen Atomangriff auf unser Gebiet mit einem vernichtenden nuklearen Gegenschlag. Zu „unserem” Gebiet gehören auch Territorien, deren Bewohner wir unterworfen und gegen ihren Willen annektiert haben. Selbst Paktpartner mit formaler Eigenständigkeit, die wir mit dort stationierten Truppen beherrschen, sind „unser” Gebiet. Einen konventionellen Angriff auf all das hingegen beantworten auch wir lediglich mit konventionellen Mitteln. 

Dieser Nukleardoktrin Sowjetrusslands entspricht seinerzeit der westliche Verzicht auf nuklearen Erstschlag. Beide Seiten können diese Doktrin allerdings dadurch unterminieren, dass sie ihre Potenziale für einen Erstschlag so effektiv ausbauen, dass er auf der Gegenseite alle Nuklearwaffen zerstört und ihr so den Gegenschlag verwehrt. 

Um eine solchen Umgehung des Erstschlagverzichts zu verhindern, entwickeln beide Seiten nukleare Zweitschlagpotenziale, die selbst bei einem umfassenden Angriff intakt bleiben. Da selbst Flugzeugträger – ungeachtet ihrer Beweglichkeit – versenkbar bleiben, setzen sie auf nuklearbewaffnete Unterseeboote für das Verhindern nuklearer Erstschläge.

Wer nach der allgemeinen Akzeptanz dieser Doktrin trotzdem mit nuklearen Erstschlägen operieren, aber keinen globalen Atomkrieg will, muss das beizeiten öffentlich machen, damit gegnerische Auslöschungsschläge durch Nuklear-U-Boote unterbleiben. Dafür ist der nukleare Erstschlag gegen einen konventionellen Gegner erst einmal zu definieren. Soll ihn der Nuklearschlag nur dann treffen, wenn seine konventionellen Kräfte in „unser“ Territorium eindringen? Soll also nur eine nukleare Gefechtsfeldwaffe im unteren Kilotonnenbereich eingesetzt werden? Oder soll der Erstschlag vorbeugend wirken, also einen Gegner treffen, der „uns“ keineswegs konventionell angreift, aber als Bedrohung empfunden wird? Meint der mögliche Angriff auf „uns“ ein Eindringen in „unser“ Gebiet oder ist bereits Beihilfe zur Behinderung „unseres“ – wo auch immer operierenden – Militärs ein Angriff?

Eine neue Doktrin

Unstrittig verkündet Russland im April 2000 – also zu Beginn von Putins erster Präsidentschaft – eine neue Doktrin (Dekret Nr. 706) nuklearer Erstschläge gegen „großangelegte Angriffe unter Einsatz konventioneller Waffen in Situationen, die für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation kritisch sind.” (Nikolai Sokov, „Russia’s 2000 Military Doctrine”, Nuclear Threat Initiative, undated, https://www.nti.org/analysis/ articles/russias-2000-military-doctrine/).

Im Oktober 2018 erläutert Putin, dass „unser Konzept ein Vergeltungs-Offensivschlag ist. […] Wir sind nur dann zum Einsatz von Atomwaffen bereit […], wenn wir überzeugt sind, dass jemand, ein potenzieller Angreifer, Russland, unser Territorium, angreift."

Dieser konventionelle Angriff auf „unser“ Land solle allerdings nur mit einem nuklearen Gefechtsschlag gegen militärische Kräfte beantwortet werden, die noch nicht in Russland eingedrungen sind. Moskau entscheidet mithin allein, ob dieser potenzielle Angreifer seine Grenze tatsächlich überschreiten will. Nukleare Verteidigung und nuklearer Präventivschlag gehen mithin ineinander über. Das unterstreicht bereits 2009 Nikolai Patruschew, der als Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Putin im Falle schwerer Erkrankung vertreten soll: „In für die nationale Sicherheit kritischen Situationen ist ein vorbeugender Nuklearschlag gegen einen Aggressor nicht ausgeschlossen.“

Bedenken wird Moskau allerdings, dass die NATO selbst nach einem taktischen Nuklearschlag oder auch nur nach einer Schauexplosion nicht panisch wegläuft, sondern rein konventionell in wenigen Tagen alles zerstören kann, was Moskau auf fremdem Gebiet für Krieg und Genozid im Einsatz hat. Diese Eskalationsstufe hält die NATO ja mit Bedacht in Reserve. Russland selbst würde dabei nicht angetastet und Putin hätte dann keine Doktrin mehr unterhalb eines globalen Atomkriegs. Mit dem aber wird er daheim nicht durchkommen und deshalb auch mit der Stufe darunter auf Widerstand stoßen.

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Lutz Herzer / 09.05.2022

Nachtrag zu @giesemann gerhard. Falls Sie mir das mit den einflussreichen Kreisen nicht abnehmen: Suchauftrag “Able Archer”. Wie alt waren Sie 1983? Hatten Sie etwas davon mitbekommen? So viel zur Friedfertigkeit der NATO. In Wahrheit war es ein Versuch, die Sowjets zu triggern. Dank der Fähigkeiten Rainer Rupps, die Sowjets davon zu überzeugen, dass es sich nur um eine Übung handelt, ist dieses Spiel mit dem Feuer glimpflich ausgegangen. Und selbstverständlich ohne Konsequenzen für die Zündler.

Peter Neumeyer / 09.05.2022

Giesemann gerhard, das haben sie schön auf den Punkt gebracht mit dem Stockholmsyndrom so vieler hier vertretener Kommentatoren. Manchmal erinnern diese Kommentatoren mich auch an meinen Foxterrier, der aus Wut, wenn ihm ein anderer Hund zu stark war sich Steiftiere in unserer Wohnung schnappte und diese übel zu richtete. Dieses um den heissen Brei herumreden, dass da im Kreml ein widerlicherlicher größenwahnsiger Faschist im Antifaschstenrock hockt, der mit seinem belanglosem Verschwörungsgeschwurbel alle seine Greueltaten rechtfertigt, geht einem schon sehr auf den Keks.

Lutz Herzer / 09.05.2022

@giesemann gerhard; die Geiselnehmer der Europäer sind nicht die Russen, sondern die Amerikaner. Sie haben schon in einem vorhergehenden Kommentar auf die fünf Minuten-Reichweite russischer Atomraketen angespielt. Ich gehe davon aus, dass Ihnen klar ist, welche Ziele in fünf Minuten von Kaliningrad aus erreichbar sein könnten. Die USA zählen definitiv nicht dazu. Seit mehr als hundert Jahren haben sehr einflussreiche Kreise in den USA kein Problem mit einer regelmäßigen Zerstörung Europas insbesondere Deutschlands und Russlands. Eine der Marionetten dieser Kreise, Harry S. Truman sagte als US-Senator 1941: “If we see that Germany is winning the war, we ought to help Russia; and if that Russia is winning, we ought to help Germany, and in that way let them kill as many as possible…” (Quelle: NYT, Dec. 27 1972) Und so geschah es auch. Der Deutschenhasser Churchill führte dazu einen, unter Berücksichtigung damaliger technischer Möglichkeiten, maximal effektiven Vernichtungskrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Militärisch relevante Einrichtungen wurden geschont, um den Krieg in die Länge zu ziehen. Was in Auschwitz stattfand, war vor 1945 bekannt, jedoch von nachrangigem Interesse.

giesemann gerhard / 09.05.2022

@Wolfgang F.: Stimmt, ich glaube, Putin will lediglich die USA auf seine Seite ziehen, damit er das dröge Russland aus seiner Rückständigkeit bewegen kann – ganz so wie im Großen Vaterländischen Krieg, bei dem die Russen auch die USA auf ihrer Seite hatten. Und noch ein paar Mächte aus dem Westen. Gegen die paar Nazihanseln! Denn der größte Feind Putins sind die alten Männer, die da in der ersten Reihe hinter ihm hocken, mit viel Lametta. Und Putin weiß, wie lächerlich die aussehen, die morbiden Typen, einschließlich Lawrow. Und diesem Shogiu da. Wenn Putin es so schafft(!) - ein wenig hinterfotzig, wohl wahr - dem ewigen Drang der Russen nach Westen auf seine Weise Bahn zu schaffen, dann wird er in die Geschichte eingehen wie Peter der Große und Katharina, auch die Große. Deshalb hat Merkel ja so von der geschwärmt, oder? Und Putin kann mit seiner Yacht/seinen Yachten auch noch woanders herumschippern als bloß im Schwarzen Meer. Ohne dass ihm das Ding von den Itackern vertäut wird, bis sich die Muscheln ansetzen. Man sieht: Putin handelt hoch rational. Er weiß es zwar nicht, aber DAS ist unsere Aufgabe, ihm das zu verklickern. Nochmal: Hell sink i - das ist bayrisch-finnugrisch.  Schließlich hatten wir hier in Bayern auch schon mal die Ungarn - auf dem Lechfeld bei Augsburg am Lech ... .

Benno Römer / 09.05.2022

Die russisch Doktrin erlaubt also einen Nuklearschlag ohne einen solchen zuvor erlitten zu haben. Könnte also gleich losgehen? Aber nein, denn Moskau wird bedenken, dass die NATO daraufhin konventionell antworten würde. Das ist doch mal eine Abschreckung. Donnerwetter!

Arne Ausländer / 09.05.2022

@Dirk Jäckel: San Marino trifft es besser, wenn man die Situation Rußlands dem Westen erklären will. Wegen der Einkreisung. Unverständlich der Langmut der Repubblica, es den Italienern nicht schon längst mal gezeigt zu haben, rein präventiv. Putin ist - in unverkennbar ähnlich eingekreister Lage - deutlich temperamentvoller. Und gleich sind alle neidisch! Im Ernst, es ist erschreckend, wie bereitwillig die Einkreisungsrethorik hingenommen wird. Weil man sie schon von früher, vom Warschauer Pakt, hörte? Weshalb sie daher einfach wahr sein muß? (Nach Lewis Carroll, The Hunting of the Snark: “I have said it thrice: What I tell you three times is true.”)

Stanley Milgram / 09.05.2022

Empfehlung: Youtube - “Angstfrei durch den Supergau - Ken Jebsen im Gespräch mit Julia Szarvasy” oder will die Achsgut den Atomkrieg??? lol

Wolfgang Fischer / 09.05.2022

Problematischer dürfte sein, das sich die EU Schlümpfe, allen voraus der Scholz und die Grünen und die Strack Zimmermann, glauben, sie könnten den Putin besiegen. Und damit glauben die offensichtlich, sie könnten einen Atomkrieg mitten in Europa gewinnen! Und nun, wo die Doctorspiele gegen die eigene Bevölkerung zu langweilig geworden sind, schickt sich die Fettgefressene deutsche Politelite an, Sandkastenkriege gegen den fetten Vladimir vom Spielplatz zu planen und dem mal vorsorglich schön ans Bein pinkelt. Das ganze gefasel vom bösen Russischen Bär ist alles Blödsinn und wird kaum helfen, diesen Krieg zu beenden. Genauso wenig, wie deutsche Kanonen und Panzer, die nun schon mal wieder gen Osten entsandt werden. Lustiger Weise bestehet die Riege der Deutschen Kriegsanheizer aus Leuten, die noch nie auch noch eine einzige Nacht auf einem Kalten Eisenschwein ausharren mussten.

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