Putins Dekret Nr. 229

Nach mehr als einem Jahr Krieg hat Moskau seine außenpolitische Doktrin konzeptualisiert. Am 31. März 2023 hat Wladimir Putin hierzu Dekret Nr. 229 unterzeichnet. Darin legt der Kreml die künftigen Leitlinien seiner auswärtigen Politik fest und definiert die damit verbundenen Ziele und Herausforderungen. 

Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass Moskau mit der Invasion der Ukraine einen gravierenden Fehler begangenen hat. Schon im März 2022 war die ursprünglich intendierte handstreichartige Übernahme des Landes gescheitert. Dennoch entschied sich das Regime, den Feldzug fortzusetzen – ohne ein Konzept und fest umrissene strategische Optionen. Im Ergebnis steht ein Desaster. Nicht nur sind bis zu hunderttausend Mann gefallen, sondern ist das Militär materiell ausgedünnt. 

Immer wieder haben sich Beobachter daher die Frage gestellt, ob der Kreml womöglich irgendwann einlenken könnte. Doch anstatt sich durch eine Kehrtwende aus seiner verfahrenen Situation herauszumanövrieren, hält er unbeirrt am Dogma der Alternativlosigkeit seiner Politik fest. Was russische Funktionäre bislang vor allem wörtlich proklamiert hatten, wurde nun erstmals schriftlich verbrieft. Die neu formulierten Leitlinien des Kremls eröffnen einen intimen Einblick in seine künftige Außenpolitik. 

Trotz seiner herausragenden Bedeutung beginnt Dekret Nr. 229 mit einer bürokratischen Anordnung Wladimir Putins:

„Im Hinblick auf die Aktualisierung der vorrangigen Bereiche, Ziele und Zielsetzungen der Außenpolitik der Russischen Föderation beschließe ich folgendes:

  1. Das beigefügte Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation zu genehmigen.
  2. Die Verordnung Nr. 640 des Präsidenten der Russischen Föderation vom 30. November 2016 'Über die Annahme des außenpolitischen Konzepts der Russischen Föderation' (Gesetzessammlung der Russischen Föderation, 2016, Nr. 49, Artikel 6886) wird außer Kraft gesetzt.
  3. Dieser Erlass tritt am Tag seiner Unterzeichnung in Kraft.“

Insgesamt umfasst Dekret Nr. 229 sechs Abschnitte. Neben allgemeinen Bestimmungen (I) geht es um eine Analyse der modernen Welt (II) und die nationalen Interessen und strategischen Ziele Russlands (III). Den größten Raum nimmt die Behandlung der priorisierten (IV) und regionalen (V) Bereiche der russländischen Außenpolitik sowie ihre Gestaltung ein (VI).

Allgemeine Bestimmungen

In Abschnitt 1 werden zunächst die politischen und juristischen Rahmen des Dokuments definiert. In diesem Zusammenhang wird gesagt, die vorliegende Konzeption sei strategischer Natur und stehe auf dem Boden der Verfassung. Sie konkretisiere verschiedene Bestimmungen der nationalen Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation. Dabei würden die wichtigsten Bestimmungen anderer strategischer Planungsdokumente berücksichtigt, die den Bereich der internationalen Beziehungen beträfen. 

Interessant ist, wie die Autoren Russlands Rolle im globalen Machgefüge definieren. In Anbetracht seines entscheidenden Beitrags zum Sieg im Zweiten Weltkrieg sowie seiner aktiven Rolle bei der Schaffung eines modernen Systems internationaler Beziehungen und der Beseitigung des Weltkolonialismus fungiere Russland als eines der souveränen Zentren der Weltentwicklung. Es erfülle seine historisch einmalige Aufgabe, das globale Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten und ein multipolares internationales System aufzubauen, das die Bedingungen für eine friedliche, fortschreitende Entwicklung der Menschheit auf der Grundlage einer einenden und konstruktiven Agenda gewährleiste.

Auch die Beschreibung der russischen Außenpolitik ist bemerkenswert. Hier konstatieren die Autoren, Russland verfolge einen unabhängigen und multivektoralen Ansatz, der von seinen nationalen Interessen bestimmt werde und sich seiner besonderen Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit auf globaler und regionaler Ebene bewusst sei.

Russlands Außenpolitik sei friedlich, offen, berechenbar, konsequent und pragmatisch. Sie beruhe auf der Achtung allgemein anerkannter Grundsätze und Normen des Völkerrechts sowie auf dem Streben nach gleichberechtigter internationaler Zusammenarbeit zur Lösung gemeinsamer Aufgaben und zur Förderung gemeinsamer Interessen. Die Haltung Russlands gegenüber anderen Staaten und zwischenstaatlichen Vereinigungen werde durch den konstruktiven, neutralen oder unfreundlichen Charakter ihrer Politik gegenüber der Russischen Föderation bestimmt.

Diese Formulierung wirkt provokant. Sie richtet sich allerdings nicht an westliche Beobachter, sondern an die eigene Öffentlichkeit. Damit wird bereits früh deutlich, was die Autoren mit dem vorliegenden Dekret intendieren. Man will gegenüber der eigenen Bevölkerung das Gaukelbild Russlands als eines auf Frieden und Ausgleich hinwirkenden Staates aufrechterhalten. Für das Regime ist das überlebenswichtig. Nachrichtenmeldungen über die Veröffentlichung von Dekret Nr. 229 sollen als unumstößlicher Beweis für die Friedfertigkeit des Regimes und die Bedrohung durch ausländische Mächte dienen.  

Die moderne Welt: Grundlegende Tendenzen und Entwicklungsperspektiven 

Der Kreml ist davon überzeugt, dass sich die Menschheit in einer Ära des revolutionären Wandels befinde. Die Autoren stellen fest, dass eine gerechtere, multipolare Welt immer mehr Gestalt annehme. Das Ungleichgewichtsmodell der globalen Entwicklung, das jahrhundertelang für ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum der Kolonialmächte gesorgt habe, die sich die Ressourcen der abhängigen Territorien und Staaten in Asien, Afrika und der westlichen Hemisphäre angeeignet hätten, gehöre unwiderruflich der Vergangenheit an.

Mit Blick auf die Vereinigten Staaten als Führungsmacht der westlichen Welt konstatieren die Autoren, die unabhängige Außenpolitik Russland stelle eine Bedrohung für die westliche Hegemonie dar. Daher hätten die USA und ihre Satelliten die Maßnahmen, die die Russische Föderation zum Schutz ihrer lebenswichtigen Interessen in Richtung Ukraine ergriffen habe, als Vorwand genutzt, um die ihre antirussische Politik zu verschärfen und einen hybriden Krieg neuen Typs zu entfesseln. 

Dieser ziele darauf ab, Russland auf jede erdenkliche Weise zu schwächen, einschließlich der Untergrabung seiner schöpferischen zivilisatorischen Rolle, seiner Macht, seiner wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten, der Einschränkung seiner Souveränität in der Außen- und Innenpolitik und der Zerstörung seiner territorialen Integrität. Dieser westliche Kurs sei inzwischen allumfassend und auf der Ebene der Doktrin verankert. Russland wiederum werde sein Recht auf Existenz und freie Entwicklung mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen. 

In diesem Zusammenhang erklären die Autoren, der Krieg in der Ukraine sei nicht die Entscheidung Russlands gewesen. Man betrachte sich nicht als Feind des Westens, isoliere sich nicht von ihm und habe keine feindlichen Absichten ihm gegenüber. Stattdessen erwarte man, dass die Staaten der westlichen Gemeinschaft in Zukunft die Sinnlosigkeit ihrer Konfrontationspolitik und ihrer hegemonialen Ambitionen erkennen würden und zu einer pragmatischen Interaktion mit Russland zurückkehrten. Auf dieser Grundlage sei die Russische Föderation zu Dialog und Zusammenarbeit bereit.

Die nationalen Interessen und strategischen Ziele Russland

Für den Kreml hat der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung, der Souveränität, der Unabhängigkeit und der staatlichen und territorialen Integrität der Russischen Föderation die höchste Priorität. Ebenso wichtig sind ihm die Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität und die Stärkung des internationalen Friedens und der Sicherheit. Gleiches gilt für den Schutz der Rechte, Freiheiten und legitimen Interessen der russischen Bürger sowie den Schutz russischer Organisationen vor ausländischen unrechtmäßigen Übergriffen. 

Große Bedeutung kommt ferner der Entwicklung eines sicheren Informationsraums und dem Schutz der russischen Gesellschaft vor den destruktiven ausländischen Informationen und psychologischen Einflüssen des Westens zu. Das russische Volk, die Entwicklung seines menschlichen Potenzials und die Verbesserung der Lebensqualität und des Wohlbefindens der Bürger werden ebenfalls als prioritär identifiziert. 

Insgesamt wolle Russland eine gerechtere und nachhaltigere Weltordnung anstreben. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse der Weltfrieden aufrechterhalten und die internationale Sicherheit, die strategische Stabilität, der Gewährleistung der friedlichen Koexistenz und der fortschreitenden Entwicklung von Staaten und Völkern sichergestellt werden. Zugleich müsse den antirussischen Aktivitäten ausländischer Staaten und ihrer Vereinigungen entgegengewirkt werden. 

Die Stärkung der Position Russlands in der Weltwirtschaft, die Verwirklichung der nationalen Entwicklungsziele der Russischen Föderation, die Gewährleistung der wirtschaftlichen Sicherheit und die Ausschöpfung des wirtschaftlichen Potenzials sollen ebenfalls sichergestellt werden. 

Ein wichtiges Ziel besteht zudem in der Bildung einer „objektiven Wahrnehmung“ Russlands im Ausland und in der Stärkung seiner Position im globalen Informationsraum. Erreicht werden soll ferner eine Aufwertung der Bedeutung Russlands im globalen humanitären Raum, die Stärkung der Stellung der russischen Sprache in der Welt sowie ein Beitrag zur Bewahrung der „historischen Wahrheit“ und der Erinnerung an Russlands Rolle in der Weltgeschichte im Ausland. 

Die priorisierten Bereiche der russländischen Außenpolitik

Das Primärziel der Russischen Föderation im Bereich der auswärtigen Politik besteht in der Schaffung einer multipolaren Weltordnung. Hierzu soll die Vorherrschaft der USA und anderer unfreundlicher Staaten in globalen Angelegenheiten beseitigt werden. Zugleich sollen sich alle Staaten zum Verzicht auf neokoloniale Bestrebungen verpflichten.

Hierzu will Russland die Rolle der UNO als zentraler Koordinierungsmechanismus für die Harmonisierung der Interessen der UNO-Mitgliedsstaaten und ihrer Maßnahmen zur Erreichung der Ziele der UNO-Charta wiederherstellen. Damit verbunden ist die Stärkung der Kapazitäten und der internationalen Rolle der BRICS, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU), der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), der RIC (Russland, Indien, China) und anderer zwischenstaatlicher Vereinigungen und internationaler Organisationen sowie von Mechanismen mit maßgeblicher russischer Beteiligung. 

Die Autoren betonen, Russland trete konsequent für die Stärkung der rechtlichen Grundlagen der internationalen Beziehungen ein und erfülle gewissenhaft seine völkerrechtlichen Verpflichtungen. Eine steile These, die keiner Kommentierung bedarf. Gleichzeitig dürften Beschlüsse zwischenstaatlicher Organe, die auf den Bestimmungen internationaler Verträge der Russischen Föderation beruhten und der russländischen Verfassung widersprächen, nicht vollzogen werden. 

Russland vertritt die Auffassung, dass seine Streitkräfte in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen und Normen des Völkerrechts, den internationalen Verträgen der Russischen Föderation und ihren Gesetzen eingesetzt werden könnten. In diesem Zusammenhang betrachten die Autoren Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen als eine angemessene und nicht revidierbare Rechtsgrundlage für den Einsatz von Gewalt zur Selbstverteidigung.

Der Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation könne unter anderem zur Lösung von Aufgaben zur Abwehr und Verhinderung eines bewaffneten Angriffs auf Russland und seinen Verbündeten, zur Beilegung von Krisen sowie zur Aufrechterhaltung des Friedens gemäß einem Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, anderer Strukturen der kollektiven Sicherheit mit russischer Beteiligung in ihrem Zuständigkeitsbereich, zum Schutz seiner im Ausland befindlichen Bürger und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Piraterie dienen.

Regionale Bereiche der russländischen Außenpolitik

Großes Interesse misst Moskau den einzelnen Weltregionen zu. In Bezug auf das nahe Ausland, wozu auch die Ukraine gehört, konstatieren die Autoren: „Das Wichtigste für die Sicherheit, die Stabilität, die territoriale Integrität und die sozioökonomische Entwicklung Russlands und die Stärkung seiner Position als eines der einflussreichen souveränen Zentren der globalen Entwicklung und Zivilisation ist die Gewährleistung nachhaltiger und langfristiger gutnachbarschaftlicher Beziehungen.“ Das Ziel bestehe darin, das nahe Ausland weiter in eine Zone des Friedens, der guten Nachbarschaft, der nachhaltigen Entwicklung und des Wohlstands zu verwandeln. 

Hierzu sei es nötig, der Stationierung oder Stärkung der militärischen Infrastruktur unfreundlicher Staaten und anderer Bedrohungen der russischen Sicherheit im nahen Ausland entgegenzutreten. Ferner sollten sämtliche Integrationsprozesse zum Nutzen Russlands, die strategische Interaktion mit der Republik Belarus, die Stärkung des gegenseitigen umfassenden multilateralen Kooperationssystems auf der Grundlage der Kombination des Potenzials der GUS und der EAG und die Entwicklung zusätzlicher multilateraler Formate, einschließlich des Mechanismus der Interaktion zwischen Russland und den zentralasiatischen Staaten vertieft werden. Im Zielbild stehe die Schaffung eines integrierten wirtschaftlichen und politischen Raums in Eurasien. 

Mit Blick auf Europa stellen die Autoren fest, dass die meisten europäischen Staaten gegenüber Russland eine aggressive Politik verfolgten. Damit sind die militärische Unterstützung der Ukraine sowie die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gemeint. Die Feindseligkeit des Westens ziele darauf ab, die Sicherheit und Souveränität der Russischen Föderation zu bedrohen, einseitige wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, die innenpolitische Stabilität zu untergraben, die traditionellen geistigen und moralischen Werte Russlands zu vernichten und die Zusammenarbeit Russlands mit Verbündeten und Partnern zu behindern. 

Um dies zu verhindern werde die Verringerung und Neutralisierung von Bedrohungen für die Sicherheit, die territoriale Integrität, die Souveränität, die traditionellen geistigen und moralischen Werte und die sozioökonomische Entwicklung Russlands, seiner Verbündeten und Partner angestrebt. Diese gingen vor allem von unfreundlichen europäischen Staaten, der NATO, der Europäischen Union sowie vom Europarat aus.

Aus diesem Grund strebt Moskau die Schaffung eines neuen Modells zur Koexistenz mit europäischen Staaten an, um die sichere, souveräne und fortschrittliche Entwicklung Russlands, seiner Verbündeten und Partner sowie einen dauerhaften Frieden im europäischen Teil Eurasiens zu gewährleisten, wobei auch das Potenzial multilateraler Formate, einschließlich der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa berücksichtigt werden soll. Daran wird deutlich, dass Moskau einen Unterschied zwischen den europäischen Staaten und den USA macht. In der russischen Optik kann es eine friedliche und einträchtige Koexistenz mit Europa geben, sofern sich Washington nicht einmischt. 

Nicht zufällig identifizieren die Autoren die Vereinigten Staaten als Hauptfaktor, der die Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und den Staaten Europas erschwert. Im Kern der Entfremdung zu Europa stehe die strategische Politik der USA und ihrer einzelnen Verbündeten. Diese ziele darauf ab, Trennlinien in der europäischen Region zu ziehen und zu vertiefen, um die Wettbewerbsfähigkeit der russischen und europäischen Wirtschaft zu schwächen, die Souveränität der europäischen Staaten einzuschränken und die globale Dominanz der USA zu sichern.

Für Russland fungieren die USA daher als größter strategischer Gegner. Aus diesem Grund müsse die russische Politik gegenüber Washington einen kombinierten Charakter haben, der die Rolle der USA als eines der einflussreichsten souveränen Zentren der globalen Entwicklung und gleichzeitig als Hauptinitiator, Organisator und Exekutor der aggressiven antirussischen Politik des kollektiven Westens, der Quelle großer Gefahren für die Sicherheit der Russischen Föderation, den internationalen Frieden und eine ausgewogene, gerechte und fortschrittliche Entwicklung der Menschheit berücksichtige.

Nichtsdestoweniger sei die Russische Föderation an der Aufrechterhaltung der strategischen Parität, der friedlichen Koexistenz mit den Vereinigten Staaten und der Herstellung eines Gleichgewichts der Interessen gegenüber den Vereinigten Staaten interessiert. Die Aussichten auf die Gestaltung eines solchen Modells der russisch-amerikanischen Beziehungen hingen jedoch davon ab, inwieweit die USA bereit seien, ihre Politik der gewaltsamen Vorherrschaft aufzugeben und ihren antirussischen Kurs zugunsten einer Interaktion mit Russland auf der Grundlage der Prinzipien der souveränen Gleichheit, des gegenseitigen Nutzens und der Achtung der gegenseitigen Interessen zu revidieren.

Gestaltung der russländischen Außenpolitik 

Schließlich definieren die Autoren die Verantwortlichkeiten und Kompetenzen bei der Gestaltung der Außenpolitik. In einer kurzen Zusammenschau wird neben der Rolle des Präsidenten auch die Beteiligung von Regierung, Staatsduma, Föderations- und Staatsrat erläutert. Dadurch soll dem Betrachter ein reibungsloser demokratischer Entscheidungsfindungsprozess vorgegaukelt und die tatsächliche diktatorische Staatsführung Wladimir Putins verschleiert werden. 

Die Bedeutung von Dekret Nr. 229 lässt sich am besten auf verschiedenen Ebenen ermessen. Seine außenpolitische Dimension besteht darin, dass das Regime die zunächst bestehende Konzept- und Planlosigkeit seiner auf dem Angriffskrieg gegen die Ukraine basierenden Außenpolitik in Europa nun durch ein umfangreiches strategisches Konzept ersetzt hat. Damit ist es gelungen, die Fortsetzung des Krieges, die Teilmobilmachung und den Wechsel auf Kriegswirtschaft in einen konsistenten Zusammenhang zu setzen und als Maßnahmen einer stringenten politischen Linie darzustellen. Gleiches gilt für alle Maßnahmen, die das Regime in Zukunft noch ergreifen wird. 

In innenpolitischer Hinsicht dient Dekret Nr. 229 dem Zweck, sich gegenüber der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Von Anfang an hat der Kreml seinen Feldzug gegen die Ukraine zu einem Akt der Selbstverteidigung verklärt. Der Angriff sei erfolgt, um einen Überfall auf Russland zu verhindern. Diese Erzählung operierte von Anfang an mit dem eigens für sie geschaffenen Begriff der speziellen Militäroperation. Speziell deshalb, weil sie gemäß ihrer ursprünglichen Zielstellung niemals einen großflächigen Krieg, sondern lediglich die Beseitigung der ukrainischen Staatsführen intendierte. 

Nach dem offenkundigen Scheitern dieses Plans begab sich das Regime auf die Suche nach Rechtfertigungen für eine Fortsetzung des Krieges, der bis heute erhebliche personelle und materielle Ressourcen verschlungen hat. Mit Dekret Nr. 229 hat der Kreml seinen Staatsmedien nun einen reichhaltigen Fundus an Futter für seine Propaganda geliefert. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, dass die Bevölkerung die Fortsetzung des Krieges auch in Zukunft befürworten wird. 

Foto: Andrey Mironov/ bearbeitet CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Sybille Schrey / 03.04.2023

@ sybille eden, Sie waren ganz sicher freiwillig und mit Begeisterung in der DSF und der SED, denn es gab ja ohnehin zu beidem keinen Zwang. So was kommt dann dabei heraus. Ich war weder noch und kann Ihre Aversion darum nicht teilen. Wohl kaum jemand, der die russische Kultur (mit welcher Sie bezeichnender Weise lediglich Matroschkas verbinden) und Mentalität schätzt, wäre als „Postsowjetfan“ zu bezeichnen. Damit offenbaren Sie nur Ihre persönliche, höchst bedenkliche Einschätzungsgrundlage. Und nun lesen Sie nochmal nach, was die Begriffe Imperialismus und Atavismus bedeuten, das könnte vielleicht (da hab ich allerdings wenig Hoffnung) hilfreich sein. Zum Müllhaufen der Geschichte gäbe es auch noch einiges zu sagen, aber das würden Sie nicht verstehen. Die übrigen der Rußlandhasser und Kriegstreiber hier auf der Achse allerdings auch nicht.

Horst Oltmannssohn / 03.04.2023

@sybille eden: „Der russische Imperialismus gehört auf den Müllhaufen der Geschichte !“ - steht der Russe mal wieder an der amerikanischen Grenze?

Albert Martini / 03.04.2023

Was für ein glänzendes Klartextmanifest das hätte sein können ohne den verbrecherischen Massenmord im Hintergrund.

P. Meyer / 03.04.2023

@sybille eden haben Sie in ihrem Schwarz-Weiss-Denkschema ggf. noch Raum für die Überlegung, dass es keine “Putin-Freunde” sind, die gegen den Westen argumentieren, sondern Bürger des Westens, die schlichtweg der Bigotterie und der Propaganda des Westens (“wir sind die Guten, die allen Demokratie bringen” - während ein Land nach dem anderen bombardiert wird ...) überdrüssig sind und erkannt haben, wie verlogen und falsch unsere “Werte” doch alle sind? Bevor wir mit dem Finger auf die Verfehlungen anderer zeigen, sollten wir endlich mal die permanent in unserer Propaganda kommunizierten Werte in unsere eigene, gelebte Realität umsetzen. Solang wir hier im Westen das nicht tun, so lange besteht nicht der geringste Anlass dazu mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es ist nicht so, dass es eine entweder-oder-Entscheidung ist. Man muss nicht den Westen und seine „WeRtE“ gut finden, um Putin und die Russische Außenpolitik schlecht zu finden. Man kann beides schlecht finden und man kann beides kritisieren. Und wenn man so weit ist, dann ist man ggf. sogar in der Lage festzustellen, dass die USA und der Westen in den letzten Jahrzehnten weitaus mehr Kriege geführt haben als Russland. Wer im Glashaus sitzt soll nicht mit Steinen werfen! Wenn wir hier im Westen so ehrlich geworden sind, wie wir immer gerne tun, dann bin ich auch gerne bereit Putin zu kritisieren. So lang wir hier maximal verlogen, bigott und hochmütig bleiben, kann ich nur sagen: jeder kehre vor seiner eigenen Türe, da ist Dreck genug. Und zu Herrn Osthold bleibt nur zu sagen: nice try, keine 5 Cent würde ich auf Ihre Nato-Propaganda verwetten. Wir glauben es einfach nicht mehr, da könnt ihr euch so hochtrabend ausdrücken wie ihr wollt.

Dr. Markus Hahn / 03.04.2023

@Marc Greiner Nato-“Partner““ sabotieren“ die Energieversorgung des Natomitglieds Deutschland. Eigenartige Wertegemeinschsft, dünkt mich.

Dirk Lehmann / 03.04.2023

Lieber Christian Osthold, fragen Sie doch bitte mal einen Erwachsenen, der des komplexen Denkens fähig ist, warum der Petrodollar die Ursache des Ukrainekrieges ist, ebenso wie die Verteufelung Chinas! Warum jetten unsere Politiker staendig in irgendwelche “Brics”-Staaten? Auch das ist dem immer labiler werdenden Petrodollar geschuldet! Warum möchten die USA aus Taiwan eine neue Ukraine machen? Wie sagte ein US General? Der grösste Erfolg ist, einen Krieg zu führen, ohne die eigenen Soldaten einsetzen zu muessen?

STeve Acker / 03.04.2023

Der Ukraine-Politiker Danilov hat grad einen Plan vorgelegt was die Ukrainer auf der Krim machen werden, wenn sie diese “befreit” haben. Im Grunde ist das was er vorlegt , eine ethnische Säuberung. Selbst auf Welt.de wurde in dem Artikel “befreiung” in Anführungszeichen gesetzt.

Wilfried Düring / 03.04.2023

Liebe Frau Eden, Ihr Beitrag macht mich schon traurig. Wir sollten doch versuchen, bei unterschiedlichen Standpunkten gesprächsfähig zu bleiben. Ich weine dem Staat und dem System DDR und der sowjetischen Besatzung Osteuropas bestimmt keine Träne nach. Viele meiner Kommentare auf der Achse bezeugen das! Aber das verbrecherische stalinistische Sowjet-Regime hat doch nur sehr bedingt etwas mit dem russischen Volk zu tun!? Schuld ist immer an bestimmte Personen gebunden, ist personal - eine Kollektivschuld gibt es nicht! Da wehren wir uns mit guten Gründen aber wechselndem Erfolg doch auch als Deutsche dagegen. Was können denn die Literatur von Puschkin, Tolstoi, Solschenyzin; die Musik von Tschaikovsky, Schostakowitsch, Rachmaninow oder russische Sportler etc. etc. für die Verbrechen des stalinistisch-kommunistischen Sowjet-Systems. Die Russen waren (vor den Ukrianern) das größte Volk innerhalb der Sowjetunion; aber man kann doch wegen dem Sowjet-Imperialismus jetzt nicht das russische Volk verfluchen. und was können denn die ‘einfachen Menschen’ Rußlands in den Städten des Ural, in Sibirien, in Südrußland oder am Nordmeer für die Politik Putins? Was können Sie ändern?  Was können WIR denn ändern, an der Politik ‘unserer’ Regierung? Ich bin auch kein Putin-Fan. Ich glaube nur nicht, daß die Politik ‘unserer Bundes-Regierung’ - die NICHT die meine ist; da lege ich als Dunkel-Deutscher wert drauf ! - dem Frieden dient und zu Verständigung und Ausgleich führt. Ich glaube, daß diese Bundesregierung, viele ‘Werte’, die in der Ukraine angeblich ‘verteidigt’ werden, selber längst verraten hat. Und SIE muß ich schon fragen: Kennen Sie Russen persönlich ? Sie sind russischen Menschen mal begegnet, in Schule und/oder Universität, auf der Arbeit; ggf. als Ehepartner einer deutsch-russischen ‘Misch-Ehe’ - evtl. auch NACH der Wende? Ich kenne solche Menschen. Und ich kann meinen Bekannten nur weiter in die Augen sehen, wenn ich Ihnen hier widerspreche.

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