Während sich Barack Obama foto- und videogen an der Siegessäule in Szene setzte, fuhr ich erstmals auf der hinteren Stoßstange meines Spritfressers meinen neuen Sticker spazieren, der mir an dem Tag von der linksliberalen Wählermobilisierungsorganisation MOVE-ON zugeschickt worden war. Da, wo man kürzlich noch undeutlich die Umrisse des Kerry-Edwards-Aufklebers von 2004 vermuten konnte, prangt nun schwarz auf weiß und dick und fett: OBAMA ‘08. An sich ist das in unserem geschichtsstolzen Universitätsstädtchen mitten in Virginia, Heimatort von drei der ersten fünf amerikanischen Präsidenten (Thomas Jefferson, James Monroe und James Madison—naja, wenn man’s genau nimmt, lebte letzterer etwa 30 Meilen entfernt, übernachtete aber des öfteren in Jeffersons Monticello) nicht ungewöhnlich, wenn es auch unter Anhängern des demokratischen Senators von Illinois wohl nicht allzuviele gibt, die schamlos so ein Achtzylinder-Ungetüm wie ich fahren. Ungewöhnlich dagegen, vielleicht einzigartig, ist die unmittelbare Nachbarschaft auf meiner Stoßstange, womit ich bereits links und rechts Anstoß erregt habe, den schmutzigen Blicken (“dirty looks”) nach zu urteilen, die mir an Ampeln zugeworfen werden: Denn da, auf einer weißblauroten Plakette, wo der American Eagle auf amerikanischem Flaggenwappen gekreuzte Schießeisen in den Krallen hält, gebe ich mich als Mitglied der National Rifle Association zu erkennen. (Warum ich Mitglied bin, habe ich bereits an anderer Stelle lang und breit erklärt: http://www.henryk-broder.de/forsicht_freddy/waffen.html .)
Bekanntlich tendieren die Führungsriege der NRA und wohl auch die Mehrheit ihrer Mitglieder rechtsrepublikanisch, und viele Demokraten haben ihren parteipolitischen Gegnern das Feld unter den Waffennarren sozusagen kampflos überlassen, indem sie das idealistische Mantra der Antiknarrenlobby undifferenziert nachbeteten. Seit Jahren habe ich demokratische Parteifreunde vor der gefährlichen Scheuklappentendenz gewarnt, die Feinde unserer Feinde für unsere besten Freunde zu halten und sie dabei auch noch öffentlich zu umarmen; ich muß mir doch nicht das unrealistische Programm radikaler Waffengegner zueigen machen, nur weil ihnen Cheney und seine Präsidentenmarionette genauso zuwider ist wie mir. So sind manche Wahlen verlorengegangen, wo diejenigen “single issue”-Wähler das Zünglein an der Waage spielten, deren Freiheitsbegriff ausschließlich einen Litmustest zuläßt: Bist du für oder gegen das “Second Amendment”, also den Zusatz zur Verfassung, der den Bürgern Besitz und Tragen von Schußwaffen erlaubt? Statt Bürgerfreiheiten miteinander zu verkuppeln und für untrennbar zu erklären—die Freiheit privaten Waffenbesitzes und, wenn nötig, gewaltsamer Selbstverteidigung, die Freiheit von staatlicher Beschnüffelung, die Freiheit der sexuellen Orientierung, die Freiheit der Frauen, über den eigenen Körper zu bestimmen—kuppelten viele demokratische Politiker das tief in der amerikanischen Mehrheitspsyche verwurzelte Recht auf Waffenbesitz davon ab, während die meisten Republikaner das genaue Gegenteil vollzogen, indem sie hinter ihrem lautstarken Zetern nach Waffenfreiheit anderen demokratischen Traditionen Gräber zu schaufeln begannen.
Glücklicherweise wendet sich neuerdings das Blättchen vor allem an der Spitze der Demokraten. Harry Reid aus Nevada, der Anführer der demokratischen Mehrheit im Senat, und der Parteivorsitzende Howard Dean aus Vermont sind seit Jahren als Second Amendment-Verfechter bekannt, hatten in dieser einen Sache aber einen schweren Stand oder kuschten gar gegenüber den Zeter und Mordio schreienden Idealisten der totalen Privatabrüstung. Und in meinem Heimatstaat Virginia ist den Republikanern das Fast-Monopol aufs Second Amendment längst entglitten; sowohl bei dem demokratischen Gouverneur Tim Kaine wie auch dem demokratischen Senator Jim Webb, dem demokratischen Vertreter meines Wahlbezirks im Staatssenat Creigh Deeds und dem früheren demokratischen Gouverneur und diesjährigen U.S. Senatskandidaten Mark Warner blieb den Vereinsoberen der NRA nichts anderes übrig, als ihnen aus Schützengildensicht zähneknirschend gute Noten zu erteilen. Und jetzt kommt Barack Obama daher und, ausgefuchster Pragmatiker, der er trotz aller Neunter Sinfonietöne ist (wofür ich ihn unter anderem bewundere), unterstützt tatsächlich die einzige Entscheidung einer konservativen Mehrheit des Obersten Gerichtshofs, die auch ich begrüßte: gegen die verfassungsrechtlich und realpolitisch unsinnigen Gesetze der Hauptstadt Washington, die Handfeuerwaffen und damit wirksame Selbstverteidigung ehrsamer Bürger in den eigenen vier Wänden illegalisierten, während gleichzeitig der kriminelle Untergrund der Stadt von Glocks und Smith & Wessons nur so überschwemmt ist und bis an die Zähne bewaffnete Mordbuben sich ins Fäustchen lachen.
Obama hat mich in den letzten Monaten überzeugt, daß er trotz aller Kompromisse und wankelmütiger Repositionierungen, ohne die ein Politiker wohl kaum genügend Wahlvolk hinter sich scharen kann, nicht nur meine Stimme bekommt (dem unsäglichen Heuchler und grauenhaften Langweiler McCain würde ich eine Vogelscheuche vorziehen), sondern daß er meinen früheren Befürchtungen zum Trotz wählbar ist. Dabei unterschätze ich keineswegs den heutzutage mehr unter- als oberschwelligen Rassismus vieler, vor allem älterer weißer Amerikaner, denen weniger der “unamerikanische” Name Barack Obama als die Hautfarbe Unbehagen bereitet—egal ob sie zur republikanischen oder demokratischen Partei tendieren.
Ich gestehe, daß ich aus meiner eigenen Einschätzung des unterschwelligen Rassismus in den USA (ich bin seit dreißig Jahren mit einer schwarzen Frau verheiratet) zu Anfang des Vorwahlkampfes Obama kaum Chancen einräumte und den früheren Senator aus North Carolina, John Edwards, unterstützte, der sich vor vier Jahren als Vizepräsidentschaftskandidat John Kerrys bereits profiliert (und beim Litmustest der NRA nicht schlecht abgeschnitten) hatte. Ich hielt ihn für die Präsidentschaftswahl am 4. November, wo wie immer die “unabhängigen” Wähler zwischen den Parteifronten entscheidend sein werden, am wählbarsten: Er ist weiß, sieht gut aus, spricht und diskutiert hervorragend, aber mit Südstaatenakzent, der bei “Rednecks” gut ankommt, stammt aus einer Arbeiterfamilie, hat sich zum millionenstarken Rechtsanwalt hochgehangelt (die Amis lieben weiterhin “vom Tellerwäscher bis zum Millionär”-Stories; die geben ihnen Hoffnung auf den eigenen Lottogewinn)—und hätte schon mit diesen Attributen nach der Bush-Katastrophe jeden republikanischen Kandidaten zur Schnecke gemacht. Als er im Februar das Handtuch warf, hab ich ihm nachgetrauert. Heute bin ich heilfroh, daß er damals bei der Mehrheit meiner Parteifreunde durchgefallen ist und die sich lieber auf Hillary und Barack konzentrierten—denn diese Woche bräute sich das Gewitter eines clintonesken Sexskandals über ihm zusammen, eines Sturmes, der sich offenbar schon vor knapp einem Jahr zusammenzuballen begann.
Damals hatte sich ein Korrespondent des liberalen Online-Magazins SLATE gewundert, warum die Edwards-Kampagne bei seinen Recherchen über die Herstellung von Edwards-Werbespots so komisch mauerte und ihn nicht an die nicht gerade branchenbekannte Filmemacherin Rielle Hunter heranlassen wollte. Kurz darauf behauptete das nicht immer vor Lügen, Verdrehungen und Übertreibungen zurückscheuende Skandalblatt National Enquirer, Rielle Hunter sei mit Edwards’ Kind schwanger. Die Edwards-Kampagne wies dies empört zurück, und ein verheirateter Mitarbeiter und Freund von Edwards bekannte sich zu Affäre und Vaterschaft. Letzten Montagabend dann erwischten Reporter des National Enquirer Edwards dabei, wie er sich heimlich mit Rielle Hunter im Beverly Hills Hilton traf und erst am Dienstagmorgen kurz vor drei ihr Zimmer wieder verließ. Obwohl die großen amerikanischen Medien bisher sehr vorsichtig mit der Sache umgehen, nach dem Motto, was beweist das schon, und dann noch der National Enquirer!, sieht dies nicht prächtig aus für jemanden, dessen Frau, Elizabeth Edwards, an unheilbarem Krebs leidet und der sich bestimmt Hoffnung machte, von einem siegreichen Obama für ein wichtiges Regierungsamt erkoren zu werden.
Naja—manche Männer können ihren Ballermann eben nicht in der Hose lassen; sie spielen zu leichtsinnig damit rum und schießen sich dann womöglich selbst ins Knie. Bleibt nur zu hoffen, daß Barack Obama das nicht nötig hat—oder seine Frau Michelle ihn an der Kandare zu halten weiß.