Wenn man von der Autobahn ab und quer durch die Landschaft fährt, kommt es immer wieder zu Überraschungen. Wir hatten die Interstate 70, die von Washington, D.C. über Columbus, Indianapolis, St. Louis, Kansas City, Denver und schließlich quer durch die Rocky Mountains führt, bis ihr mitten in Utah die auf Las Vegas und Los Angeles zustrebende I-15 den Garaus macht, schon in Indianapolis verlassen. Zwar waren wir auf dem Weg nach Denver, aber da wir den sanften Kommandoton des GPS bei Langstrecken gerne ausschalten und uns nach altmodischen Automobilklubkarten richten, bei denen man wenigstens den Überblick behält und nicht bloß einem über den Bildschirm zuckenden Avatar gehorcht, sahen wir, daß die I-74 und schließlich die Bundesstraße 36 das gleiche Ziel wie wir verfolgten und uns dabei über das Städtchen Hannibal am Ufer des Mississippi führen würden. Meine Frau war noch nie zuvor in Hannibal gewesen, es war also an der Zeit.
1976, als ich ein Semester an der University of Iowa verbrachte, hatte ich eines Oktobersonntags einsam und alleine einen Ausflug zum Heimatort Mark Twains gemacht. Rita, mit der ich mich ein paar Wochen zuvor verbündelt hatte, war an dem Wochenende zu einer Freundin nach Chicago gefahren, und ich wollte eh dem rostigen Straßenkreuzer, den ich kürzlich für 250 Dollar erstanden hatte, etwas abverlangen, während ich mich dem romantischen Konzept der amerikanischen Countryside hingab. So lief ich durch die Straßen Hannibals auf den Spuren von Tom Sawyer und Becky Thatcher, stand vor Tante Pollys Zaun und wanderte ein bißchen am Ufer des breiten trägen Stroms entlang, wobei ich mir Huckleberry Finn und “Nigger Jim” auf ihrem Floß vorstellte. Sonst kam dabei nicht viel herum; ich konnte halt einen weiteren “point of interest” auf dem oberflächlichen touristischen Tableau meiner damals noch taufrischen Faszination mit Amerika abhaken, bevor ich an einer Imbißbude zwei Hamburger verputzte (Sonderangebot: zwei für den Preis von einem, 39 Cent) und meinen Spritfresser wieder nach Norden in die Kornfelder Iowas lenkte.
Wir hatten Glück und fanden einen Straßenparkplatz nicht weit von der Hill Street, wo Samuel Clarence Longhorne aufgewachsen war. Damals, 1976, drängelten sich weniger Touristen durch die engen Häuschen, die zum Mark Twain Boyhood Home & Museum gehören; oder vielleicht schien es mir nur so in verklärter Nostalgie, als noch jeder hundertfünfzig Jahre alte Waschtisch, an dem der kleine Samuel alias Mark vielleicht seine Katzenwäsche gemacht hatte, auf mich Eindruck schund. (Gab es da überhaupt einen Waschtisch, oder hat den mir meine Fantasie vorgegaukelt? Eigentlich erinnere ich mich nur an Dinge, die es dort in Twains Jugendjahren bestimmt noch nicht gab, wie die Erstausgaben seiner Werke…)
Wir ersparten uns die Mark Twain-Höhle (erinnnert ihr euch, Kinder? Wer hat nicht davon albgeträumt, dort verzweifelt im Dunkeln zu tappen) und warfen lediglich einen kurzen Blick auf die künstlerisch nicht eben beeindruckende Huck & Finn-Statue in der Stadtmitte, während wir entlang der Bundesstraße 36 nach Westen aufbrachen. Das Wetter war kalt, wie das in diesen Breitengraden im Winter halt ist, aber trocken, und so rollten wir durch den Nachmittag der linkskurvenden Sonne entgegen. Stark dreißig Meilen von Hannibal entfernt piepste der Tankwarnton; wie so oft hatte ich vergessen, auf die Anzeigenadel zu achten—aber das ist im Land der hundertfünfundsiebzigtausend Zapfstellen (danke, Google!) normalerweise kein Problem, und so brauste ich zunächst mal an einer kleinen ländlichen Tankstelle vorbei in der Hoffnung, eine billigere Großtankstelle zu finden.
Da sich jedoch auf der 36, mittlerweile zur vierspurigen kreuzungsfreien Schnellstraße ausgebaut, keine grünen BP-Blüten, rote Gulf-Sonnen oder red-white-and-blue Chevron-Winkel noch Shell-Muscheln pfennigfuchsend Konkurrenz machten und inzwischen der Spritmeilenzähler im Tacho seinen unerbittlichlichen Countdown auf die Null begonnen hatte, fuhr ich an der nächsten Ausfahrt von der Schnellstraße ab. “Clarence, Missouri”, stand da. “Two gas stations”, las mir Rita aus ihrem Smart Phone vor, die finden wir auch ohne GPS.
Kurz nach der Ausfahrt erstreckte sich linkerhand ein Friedhof—und da war sie ja schon, die erste Tankstelle, gleich hinter dem nach deutschen Vorstellungen etwas unordentlichen Sammelsurium an Grabsteinen auf schmuckloser Wiese, so typisch für viele Friedhöfe im Mittleren Westen. An den Zapfsäulen standen mehrere Autos; nur, komischerweise, fehlten die üblichen hellerleuchteten Neonschilder, auf denen man schon von weitem die Preise erfahren konnte. “Mensch, hier draußen auf dem Land fahren die Leute aber noch alte Kaleschen”, sagte ich. “Ich glaube, wir sind in der Twilight Zone gelandet”, erwiderte Rita. Und filmte bereits mit ihrem Handy.
http://www.youtube.com/watch?v=_4WsfZOMcTM
Nachher, als wir Clarence, Missouri vollgetankt wieder verließen, schauten wir nach. Weder unser Automobilklubreiseführer noch das Internet verloren ein Wort über diese fantastische Geistertankstelle. In der Stadt hatte uns die junge Kassiererin in Barry’s Self Service Station erzählt, das ganze gehörte einem “Holländer oder sowas” namens Van Houten; ihr Dad kannte die Van Houtens, die Familie hätten die Tankstelle jahrzehntelang betrieben und dann irgendwann, aus einer Marotte heraus, als sie den Betrieb zumachten, die Zeit angehalten; sie wüßte das nicht so genau, dafür sei sie zu jung.
Hätten wir weiter nachforschen sollen? Wir waren uns einig: Das reicht; es ist manchmal spannender, nicht immer alles ganz genau wissen zu wollen.