Gastautor / 16.03.2016 / 10:20 / Foto: Markytronic / 11 / Seite ausdrucken

Nicht dem Geschrei folgen - egal auf welcher Seite

Von Fabian Nicolay.

Knapp 70 Jahre Demokratie, Gedankenfreiheit, Kultur als Abkehr vom Wahnsinn. Das soll jetzt plötzlich vorbei sein, weil sich in unserem Land unversehens eine Partei dort aufbläht, wo früher Volksparteien unerzogenen Volkszorn wie ein Schwamm aufgesogen haben? Was ist so erstaunlich neu daran? Was so erschreckend, so widerlich, als sei es verseuchtes Neuland? Knapp 70 Jahre Demokratie – und nichts dazugelernt?

Ich habe auf dem Gymnasium lang und breit erfahren, was Totalitarismus und Fremdenhass anrichten. Ich habe wie meine Mitschüler ein geschichtliches Erbe angenommen, das heißt: nie wieder.

Mein Latein- und Griechischlehrer schwärmte von Sokrates, der für seine Meinung lieber den Giftbecher trank, statt klein beizugeben. Und für Ovid, dessen ausschweifend-obszöne Dichtung die bigotte Moral des Kaisers ankratzte, obgleich sein Reich längst korrupt und dekadent war. Er musste in die Verbannung und kehrte nie wieder zurück. Das alles für die Freiheit der Gedanken und die Freiheit der Kunst.

Mein Griechischlehrer war als alter Humanist sicher sehr konservativ. Trotzdem war er tolerant. Ich habe ihn dafür geliebt. Ich habe gleichzeitig meinem langhaarigen Sozilehrer an den Lippen gehangen, wenn er mit leuchtenden Augen von Hegel und Marx schwärmte, und ihn dafür bewundert, dass er an derselben Schule hemmungslos und angstfrei dem Muff aus tausend Jahren den Kampf ansagte und uns aufforderte, nichts hinzunehmen ohne es kritisch und hartnäckig zu prüfen. Er hat uns fast aufgewiegelt – und doch zur Toleranz ermutigt. Im Zweifel sollten wir immer Kulanz walten lassen. Ein Politkommissar wollte er nicht sein.

Als wir die Schule mit dem Abitur verließen, hatten wir das Rüstzeug, das ein demokratisch erzogener Mensch benötigt: Geschichtsbewusstsein, Menschenliebe, Zukunftzuversicht. Zwischen den Polen der konservativen und progressiven Lehrmilieus, die an dieser Schule gleichberechtigt existieren durften, erfuhren wir, dass demokratisches Selbstbewusstsein den fairen Widerstreit beider nie scheuen braucht. Dass die eigene Freiheit gleichzeitig die Freiheit des anders Denkenden sein muss, damit sich die Geschichte nicht wiederholt (was im Übrigen der Marxistischen Dialektik widerspräche).

So wurden wir Schüler zwangsläufig zu dem, was wir heute sind: liberal – nicht einfach im politischen Sinn, sondern vor allem im praktischen. Was hätte wohl mein knorriger Griechischlehrer zu dieser neuen Partei gesagt – was mein langhaariger Sozilehrer? Sie hätten uns sicher beide geraten, dem Argument, der Analyse und dem Glauben an die Freiheit der Meinung den Vorzug zu geben. Dafür haben sie uns ausgebildet: nicht dem Geschrei zu folgen, sondern der eigenen inneren Stimme, nicht leichtfertig den Fingerzeigern und Bezichtigern zu glauben, sondern selbst zu prüfen. Immer vorbehaltlos, in alle Richtungen.

Die Demokratie ist die beste aller Regierungsformen, weil sie den friedlichen Wettbewerb der Gesinnungen zulässt und fördert. Wer diesen Wettbewerb unterbinden will, indem er Denkverbote ausspricht oder die Bewegungsfreiheit der Meinungen einzuzäunen versucht, ist kein Treuhänder der demokratischen Freiheit, sondern ein Feind der offenen Gesellschaft, die er zu verteidigen vorgibt.

Schade, dass heute so wenige unserer Politiker sich dessen bewusst sind, in welch wertvollem Wettbewerb sie sich befinden, und sich stattdessen lieber dazu hinreißen lassen, den populistischen Posen ihrer Gegner mit gleichen populistischen Verrenkungen zu antworten. Meine beiden Lehrer gäben ihnen dafür sicherlich schlechte Haltungsnoten.

Foto: Markytronic CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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Dragan Isakovic / 18.03.2016

Sicher ist die Demokratie eine wichtige Regierungsform aber Toleranz ist nicht ihre Grundlage, sondern westliche Kultur mit entsprechender Gesetzgebung als ihrer Quintessenz. Die westlichen Demokratien haben sich nach dem Schock zweier Weltkriege in den atomaren Abgrund schauend auf die allgemeinen Menschenrechte als universelle moralische Grundlage ihres Umganges miteinander geeinigt und ihre Rechtssysteme entsprechend angepasst. So gut, so schön. Das gilt aber nur in der westlichen Welt und nicht bei Menschen, die anders sozialisiert wurden. Treffen sich ausschließende moralische Überzeugungen aufeinander, kann es keine Toleranz geben. Eine Frau ist dem Mann entweder gleich gestellt oder nicht. Ihre Rechte als Bürger sind gleich oder nicht. Religion ist Privatsache oder nicht. Diese kulturellen und damit rechtlichen Festlegungen wurden in den westlichen Demokratien getroffen, sie sind Teil der Menschenrechte und nicht verhandelbar ohne sie auf zu geben. In Fällen von Massenmigration sind kulturell unterschiedliche Prägungen die zu miteinander nicht vereinbaren Verhaltensweisen führen nicht mehr zu ignorieren, es kommt zu einem Kampf um die kulturelle Hoheit. Der Schwächere passt sich an und nicht der moralisch Unterlegene. So viel Realitätssinn sollte man schon haben. Liest man mal Poppers “Offene Gesellschaft und ihre Feinde”, so hat er sich ganz klar zur wehrhaften Demokratie bekannt und Toleranz gegenüber ideologischen Gegnern der Demokratien abgelehnt. Welche andere Schlussfolgerung sollte eine Generation auch ziehen, die den Aufstieg von Hitler und Stalin noch aus erster Hand erfahren haben.

Tommy Bishop / 17.03.2016

@Paul Mittelsdorf / 16.03.2016, Wie kann es sein, daß eine Partei, die den Islam kritisiert, als “fremdenfeindlich” hingestellt wird und ebenjener Autor, der alles “kritisch und hartnäckig” prüft und “nichts hinnimmt”, das anscheinend einfach so schluckt? Dieses Gerede von der “Islamophobie” ist eine plumpe sprachliche Nebelkerze! Mein Nachbar, vor über dreißig Jahren vor Khomeini nach Deutschland geflüchtet, kann diesen dummen Begriff nicht mehr hören!

Martin Wessner / 17.03.2016

Nun ja, bisher dachte ich eigentlich, dass das Abitur nicht zwingend zur Menschwerdung notwendig ist. Autor Fabian Nicolay hat mich eines Besseren belehrt. Man lernt offenbar selbst im fortgeschrittenen Alter nie aus. Danke insofern.

Andreas Rühl / 16.03.2016

Tja. Ich hatte auch Lehrer, die ähnlich getickt haben. Überhaupt bestand die ganze Schulzeit darin, was das Politische angeht, uns die Demokratie zu lehren. Alles Demokratische war gut. Daher die alten Griechen, also, wenn mans genau nimmt: nur die Athener, auch hoch im Kurs standen. Ich denke, ich habe tatsächlich 10 mal, gefühlt 1000 mal die Verfassung der athenischen polis “durchgenommen”. Danach richtete sich alles aus: die Kaiserzeit. Pfui. Das Mittelalter: Bäh. Absolutismus (300 Jahre übersprungen, aber der Lehrplan gabs nicht her), ohgottogott. Neunzehntes Jahrhundert: ausgefallen, halt! Arbeiterbewegung! Marx! Das Gelbe vom Ei! Und Weimar: an den fehlenden Demokraten gescheitert. Der Rest meines Geschichtsunterrichts (99%): Hitler. Was ich gelernt habe aus alldem: Nix. Und das ist fast zu viel gesagt. Heute stelle ich fest: Die Gehirnwäsche hat nicht funktioniert bei mir. Alles, worauf es ankommt, wurde nicht angesprochen: Privateigentum an den Produktionsmittel (nur als sozialschädlich dargestellt, wenn überhaupt), der Rechtsstaat (als Nächtwächterstaat diffamiert), die Ökonomie (Feind des Sozialen, der Gerechtigkeit also). Immerhin kam die Religion nur am Rande vor und mussten wir uns nicht wirklich damit auseinandersetzen als - politische - Kraft. Wenn jemand versagt hat, dann meine Lehrer. Und zwar in einem Ausmaß versagt, das jeder Beschreibung spottet. Sie tun mir leid, meine Lehrer. Sie wollten - wie Hitler - nur das Beste. All das, was der Autor da oben für lobenswert hält, ist nicht zu loben, sondern eine Selbstverständlichkeit. Angst macht, dass wir uns über solche Dinge glauben neu verständigen zu müssen. Wohin geht diese Hochkultur? Allmählich wird mir klar, warum bestimmte geschichtliche Epochen ausgespart wurden: die, in denen die Kacke so hochdampfte, dass man sie nicht mehr kontrollieren konnte: Der Verfall der griechischen Stadtstaaten. Die späte Kaiserzeit. Das frühe Mittelalter. Die späte Neuzeit. Deshalb nur konnte man die Hitlerzeit so einzigartig darstellen. Ich glaube nicht an “Toleranz”. Was soll das sein? Ich toleriere gar nichts. Die Wahrheit kennt keine “Toleranz”. Vielleicht sollte man stattdessen einfach Wahrheiten setzen, an die wir glauben (und sei es, weil wir nicht wissen, an was wir sonst glauben sollten.)

Judith Jannach / 16.03.2016

ich bin österreicherin und ich frage mich warum 80% der deutschen eine pro migranten pro merkel politik gewählt haben.. es gab eine alternative ..die afd..war die wirklich unwählbar? wäre eine spd eine variante gewesen? warum grün warum csu ..die förmlich nach migranten rufen? ist die alternative ..freibrief für merkel für den europa-kill trip - zu ertragen? ich finde nicht

Sybille Mainauer / 16.03.2016

Meinen Sie ernstlich, dass Sie für Ihre Zeilen ein angemessenes Feedback hier im Blog finden werden? Wenn Sie denn überhaupt ein Echo erhielten. Hier geschieht doch regelmäßig genau das, was Ihr humanistisches Bildungsbürgertum konterkariert.

Jupp Posipal / 16.03.2016

Ja wir haben uns leider alle verändert; leider nicht Positiv. Vom “Ich denke also bin ich” zum “Ich klicke, also lebe ich”. Persönlich fand ich meine eigene Schulzeit schrecklich,  wobei aber der Versuch auf die Vorbereitung einer selbst bestimmten Handlungsweise nicht völlig in die Hose gegangen ist. Die jüngsten Ausschreitungen bei eskalierenden Abi-Feiern markieren doch nur einen Zwischenschritt in der nach oben unendlich zweifelhaften Entwicklung. Viel schlimmer als das Ausrasten einzelner Mitschüler ist entweder die Teilnahmslosigkeit oder das fehlende Nachdenken hinsichtlich “wahrscheinlich” damit verbundener Konsequenzen (Randale, Sachbeschädigungen, Verletzte, ...) im direkten Umfeld. Also bei der schweigenden “Mehrheit”, bzw. heimlich jodelnden / mitfeiernden Mitschülern. Und das bei einer Bevölkerungsgruppe, die zeitlich später an vielen Stellen im Land die Verantwortung (für was eigentlich) übernehmen soll. Ohne Hirn oder bisher einvernehmliche Vorstellungen für ein gemeinschaftliches Zusammenleben, im gegenseitigen Respekt und Toleranz kann das ja noch heiter werden. Die jetzige Generation (bis <40) ist doch schon viel zu träge und bräsig geworden. Warum sich anstrengen oder für irgendwas eintreten.  Das hält doch nur vom Tratsch via WhatsApp oder dem Austausch von Belanglosigkeiten via Facebook ab. Wenn denn überhaupt noch die reale Welt, bzw. gesellschaftlich demokratische Entwicklungen bzw. zweifelhafte Trends außerhalb des 7”-Bildschirms wahrgenommen werden. Wer nur hin- und wieder vom klicken “aufblickt”, lässt sich nur allzu gerne mit max. 90 Sekunden-Statements von nur noch politischen Selbstdarstellern (z.B. in der Tagesschau) “beruhigen”. Was schon eine erhebliche Konzentrationsleistung voraussetzt, wenn i.d.R. sonst bis zu 140 Zeichen in einem SMS-Flash den längsten selbst verfassten Thread darstellt. Sie säen nicht, sie ernten nicht; aber sie erben wahrscheinlich was. Warum den dann nachdenken wie es in eigener Sache weitergehen könnte. Die industrielle Globalisierung (Arbeitsplatzchancen; IoT 4.o), die ersten toten Flüchtlinge von Lampedusa (2013), der Verfall der Währung (EZB-Risiken), ein demographisch ungelöstes Pflegeproblem im eigenen Alter, uvm.: alles weit, weit weg. Aber wehe wenn mein Smartphone nicht funktioniert, oder der Nachbar bzw. Kollege auf meinem “beanspruchten” Parkplatz steht. Ja die Welt ist ein Chaos, und es gibt viel zu viele Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen. Aber leider kann man persönlich nichts dagegen tun!!!    

Waldemar Undig / 16.03.2016

Soll das das Brandenburger Tor sein?

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