Ulrike Ackermann / 17.07.2007 / 13:03 / 0 / Seite ausdrucken

Freiheitsliebe

Der Freiheitsliebe habe ich meine jüngsten Gedanken zur Zeit im NRD/WDR am 14. Juli gewidmet.
Die Liebe zur Freiheit ist in Deutschland äußerst schwach entwickelt. Argwöhnisch und ängstlich wird sie beäugt. Daran hat selbst die historische Zäsur von 1989, der Sieg der Demokratie über den Kommunismus wenig rütteln können.

Freiheit ist in vielen Köpfen reduziert auf ihre ökonomische Dimension, die kapitalistische Marktwirtschaft. Und laustark wird gegen den sog. Neoliberalismus gewettert. Aber Freiheit bedeutet vielmehr!
Mit der deutschen und europäischen Wiedervereinigung ist nicht nur der realexistierende Sozialismus, sondern auch der seit Kriegsende prosperierende Wohlfahrtsstaat in Westeuropa an seine Grenzen gelangt. Gerade die historische Zäsur der Wiedervereinigung hätte die Chance des Aufbruchs in die Freiheit und einer strukturellen Modernisierung des Sozialstaats geboten. Statt dessen überwiegt bis heute die Angst vor Veränderung, vor Deregulierung, Innovation und Flexibilisierung. Freiheit wird in Europa nicht als Selbsttätigkeit, Risikobereitschaft und Gestaltungschance des Individuums begriffen, sondern erschöpft sich in der sozialen Sicherheit, die Vater Staat den Bürgern lange Zeit garantieren konnte. Den Deutschen und vielen Europäern ist die von der Französischen Revolution und später der amerikanischen Vefassung postulierte Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz im Laufe ihrer Geschichte offenkundig zusammengeschmolzen auf die soziale Gleichheit. Sie sehen sich nicht in erster Linie politisch als Staatsbürger einer Demokratie, sondern beziehen ihre Identität aus dem Sozialstaat. Sozialetatismus und Arbeitskorporatismus, Erbschaften aus beiden deutschen Diktaturen, sorgen bis heute dafür, dass Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft immer noch höhere Güter sind als die Freiheit des Staatsbürgers. Derart in Mißkredit geraten, ist die Freiheit jenseits ihrer ökonomischen Bedeutung buchstäblich auf der Straße liegengeblieben. Es ist also höchste Zeit, ihren Wert ins öffentliche Bewußtsein zurückzuholen, sich darauf zu besinnen, wie sie bis in die kleinsten Fugen des Alltagslebens hinein unsere demokratischen Gesellschaften prägt. Erst mit dem Beitritt der Ostmitteleuropäer und der baltischen Länder in die EU hat allmählich ein Erinnerungsprozess begonnen, der die Erhebungen für die Freiheit und ihre gewaltsame Unterdrückung und Vereitelung nach 1945 im gespaltenen Europa in ein breiteres Bewußtsein rückt. Damit eröffnet sich eine Perspektive, den Freiheitskampf vom 17. Juni 1953 in Berlin, die blutig niedergeschlagene Revolution in Ungarn 1956, den von den Sowjets gewaltsam beendeten Prager Frühling 1968, den Polnischen Sommer 1981 und letzendlich den Sieg der Demokratie 1989 im Zusammenhang einer antitotalitären Tradition in Europa zu sehen und – im besten Falle – zu begreifen, dass Freiheit schon immer unteilbar gewesen ist.
Karl Marx schied in seinen Frühschriften die sogenannte „formelle Freiheit“ der bürgerlichen Gesellschaft von der noch zu schaffenden „reellen Freiheit“, die erst in der klassenlosen Gesellschaft, im Himmelreich auf Erden ökonomisch zum Zuge kommen sollte. Ein Echo davon schwang noch bis 1989 in der westlichen Skepsis gegenüber den Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa mit: denn sie kämpften ja – im Unterschied zum Prager Frühling ’68 – „nur“ für bürgerliche Freiheiten und die Marktwirtschaft und seien vornehmlich konsumorientiert. Die Entwertung der errungenen politischen und individuellen Freiheiten ging im Westen einher mit der Weichzeichnung des Kommunismus, seine totalitären Elemente wurden ausgeblendet. Der Marxismus hatte den Ehrgeiz, die Gesellschaft von Grund auf zu gestalten und umzugestalten, sie mit Staat und Wirtschaft zu verschmelzen. Getreu seinem historischen Determinismus sollte dabei ein neuer Mensch erschaffen werden, ein Himmelreich auf Erden, in dem dem neuen Kollektivmenschen der gerechte Anteil im geschichtlichen Jenseits, d.h. in der Zukunft versprochen wurde. „Erlöse uns von dem Bösen“ der kapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft, so das Motto dieser „säkularen Religion“.
Der Haß auf die „Dekadenz“ des Westens, seinen Kapitalismus, Konsumismus und Individualismus war der kommunistischen Ideologie ebenso eingeschrieben wie dem radikalen Islam heute. In der Verschmelzung von Glauben und Gesellschaftsordnung, von Wahrheit, Hierarchie und sozialer Realität entstand eine „säkulare Umma“, in der der Einzelne vergemeinschaftet werden sollte. Das Individuum ist allen Totalitarismen suspekt: es ist nämlich unberechenbar, triebgesteuert, egoistisch, eigensinnig und anarchisch soll ihm die jeweilige Umma die Zügel anlegen. Zum Wohle der Volksgemeinschaft, der Klassengemeinschaft oder der Religionsgemeinschaft soll es domestiziert werden. Millionen Tote waren der Preis für das kommunistische Gesellschaftsexperiment, Millionen Tote waren die Opfer von Nationalsozialismus und Faschismus.
Die Angst vor der Freiheit und die Sehnsucht nach Einheit, Ordnung und Harmonie haben den schmerzlichen Prozeß der Aufklärung und Säkularisierung auf dem Weg in die Moderne schon immer begleitet. Der Freiheitsgewinn ging einher mit einem Bindungsverlust, mit Zersplitterung und Entzauberung vormals ganzheitlicher Kulturen und Lebenswelten. Vernunft trat an die Stelle der Gottesfürchtigkeit und des Glaubens ans Jenseits. Doch die Anziehungskraft der totalitären Ideologien im letzten Jahrhundert, ihre Versprechen, den Einzelnen aus seinen komplizierter gewordenen Verhältnissen zu erlösen, zeigte, wie tief verwurzelt der Wunsch ist, sich einem Kollektiv oder Führer zu überantworten. Er ist verbunden mit der Sehnsucht nach einem letztem Sinn, nach Erhabenheit, Vollkommenheit, Homogenität und Reinheit. Also nach all dem, was in der vermeintlichen Sinnleere und Profanität der bürgerlich-kapitalistischen Moderne verlorengegangen ist.
Diese Neigungen scheinen bis heute fester Bestandteil der menschlichen Natur zu sein. In seiner Schrift Die Zukunft einer Illusion widmet sich Sigmund Freud diesen Sehnsüchten und Wünschen des Menschen nach einer behaglichen, gerechten Welt, in der für ihn gesorgt wird, in dem seinem Schutzbedürfnis entsprochen und damit seine eigene Hilflosigkeit erträglich wird. In der Religion, bei Gott-Vater findet der Mensch solche tröstlichen Versicherungen. An anderer Stelle schreibt Freud: „Wenn wir die religiösen Lehren als Illusionen erkannt haben, erhebt sich die Frage, ob nicht auch anderer Kulturbesitz, den wir hochhalten und von dem wir unser Leben beherrschen lassen, ähnlicher Natur ist. Ob nicht die Voraussetzungen, die unsere staatlichen Einrichtungen regeln, gleichfalls Illusionen genannt werden müssen?“
Desillusionierung ist bekanntlich ein schmerzhafter Prozeß, aus dem im günstigten Fall die Skepsis als Siegerin hervorgeht und Wissen den Glauben ablöst. In der offenen Gesellschaft des Westens haben sich die Verstrickungen von Glauben, Macht und Gesellschaft zum Glück weitgehend aufgelöst. Ihre Errungenschaft ist gerade die Trennung der Sphären von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht, Religion und Privatheit – damit ist sie das Gegenteil einer Umma, einer Gemeinschaft. Die Ordnung in der Demokratie ist nicht heilig. Gesellschaftliche Bindungen und Zusammenschlüsse sind freiwillig und können jederzeit wieder gelöst werden.
Die Pluralität der über Jahrhunderte hart erkämpften individuellen und politischen Freiheiten steht heute unter dem Schutz der jeweiligen Verfassung, und geregelte Prozeduren garantieren die politische Teilhabe der Bürger am Gemeinwesen. Die Institutionen und demokratischen Einrichtungen schaffen die Bedingungen für die Entfaltung der Freiheit. Pluralistische und der staatlichen Macht entgegenwirkende politische Zusammenschlüsse und Institutionen der Wirtschaft sorgen für Dynamik und Balance; der Wettbewerb ist dabei Entdeckungsverfahren und Entmachtungsinstrument zugleich.
Und Akteur ist das Individuum, mit seinem „Leben, seiner Freiheit und dem Streben nach Glück,“ wie es als unveräußerliches Recht des Menschen in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 proklamiert ist. Ein jedes Individuum kann wählen, auf welche Weise es sein Glück findet. Just in dieser Vielfältigkeit spiegelt sich die Pluralität der offenen Gesellschaft. Skepsis, Ambivalenz, Streit und Spott begleiten indes den Menschen seit der Aufklärung auf der Suche nach seinem Glück. Aber Freiheit ist ein offener Prozeß, ein Experiment und keineswegs eine Garantie auf Glück. Sie bedeutet daher weder den Sieg des Guten noch die Suspendierung des Bösen. Dennoch ist der Wunsch nach „Erlösung von den Übeln dieser Welt“, nach Sicherheit und Führung zäh und Propheten des Heils sind immer wieder gefragt. Immer lauter wird die Frage: Kann es denn überhaupt eine gesellschaftliche Ordnung ohne Erlösungsversprechen, Transzendenz und Utopien geben? Der Mensch brauche doch Orientierung in der „Kälte“ der offenen Gesellschaft, gepeinigt vom Wettbewerb der Interessen und einer Rationalität, die bar jeder Herzenswärme den Einzelnen sich selbst überlasse? Und plötzlich stehen die errungenen Freiheiten des mühseligen Säkularisierungsprozesses des Westens wieder zur Disposition.
Es scheint mir höchste Zeit, dass der Westen seine Freiheiten und die daraus folgenden Lebensstile viel offensiver gegen seine Kritiker und fundamentalistischen Feinde verteidigt. Im Kern das Recht des Individuums gegenüber allen politisch oder religiös motivierten Visionen des „guten Lebens“.
Teils explosiver Haß schlägt dem Westen entgegen: auf den „habgierigen Kapitalismus“, auf die „Hure Großstadt“, die für einen dekadenten Kosmopolitismus steht; der Haß auf seinen Geist, wie er in Wissenschaft und Vernunft zum Ausdruck kommt, bar jeder Spiritualität; der Haß auf seinen „Materialismus“ und „Hedonismus“, auf die Sexualität und ihr Urbild, den weiblichen Körper, der Haß auf den Gottlosen, der im schlimmsten Fall vernichtet werden muß, um den Weg frei zu machen für eine Welt des reinen Glaubens, für die globale Herrschaft des Kalifats. Archaische, vormoderne Denk- und Lebensweisen, die sich am religiösen Kollektiv orientieren, prallen auf moderne, säkularisierte, in denen die Freiheit des Individuums im Zentrum steht. Gegen die Moderne gerichtete Kritik und fundamentalistische Strömungen finden sich auch im Westen. Selbstzweifel, die in Selbstverleugnung oder gar Selbsthaß münden. Aber die grundlegendste Infragestellung erfahren die westlichen Freiheiten im Islam und seinen radikalen Zuspitzungen. Deshalb spricht die ehemalige niederländische Parlamentsabgeordnete und Filmautorin Ayaan Hirsi Ali davon, „dass der Islam mit der liberalen Gesellschaft, wie sie sich im Gefolge der Aufklärung herausgebildet hat, nicht vereinbar ist.“ Ihre Kritik weckt inzwischen nicht nur den Zorn und Widerspruch ihrer ehemaligen Glaubensbrüder, sondern auch jenen europäischer Intellektueller. Sie warfen ihr vor, eine „Fundamentalistin der Aufklärung“ zu sein, die mit ihren Einlassungen Öl ins Feuer gieße. Für die aus Somalia stammende, ehemals streng gläubige Muslim Ayaan Hirsi Ali sind die Errungenschaften der Aufklärung, die Trennung von Staat und Religion, die Selbstbestimmung des Individuums, die Vernunft und die Gleichberechtigung der Geschlechter allerdings von fundamentaler Bedeutung. Angesichts der „schleichenden Scharia“ in Europa ist die Kritik an dieser mutigen Dissidentin sehr beunruhigend. Zumal sie eingebettet ist in eine in Europa weit verbreitete Appeasementhaltung gegenüber dem Islam und seinen radikalen Ausformungen - wie man im Streit um die Mohammed-Karikaturen beobachten konnte. Immer noch wird ein Multikulturalismus gefeiert, der die Toleranz gegenüber fremden Kulturen predigt - und gleichzeitig die Errungenschaften der westlichen Aufklärung samt der daraus entstandenen Lebensstile relativiert.
Die Weichzeichnung des Islamismus erinnert an jene des Kommunismus vor 1989 - nicht zuletzt aufgrund seines Antikapitalismus und Antiamerikanismus. Galten die Freiheitsliebenden der Dissidenz in Ostmitteleuropa seinerzeit als “Störenfriede der Entspannungspolitik” zwischen Ost und West, so fallen heute Dissidentinnen des Islamismus wie Ayaan Hirsi Ali, Necla Kelek oder Seyran Ates in Ungnade, weil sie angeblich „Störenfriede des Dialogs der Kulturen“ seien. Dabei pochen sie zurecht auf die Freiheit des Individuums vor dem Kollektiv.
Erst unter dem Schutz der politischen Freiheiten, die wir im Westen mühsam erkämpft haben, kann das Individuum seine persönlichen entfalten, für ein bewußtes Leben im Diesseits. Sie müssen immer wieder verteidigt und neu erschaffen werden. Es ist ein stetiger Befreiungsprozeß mit offenem Ende und im besten Falle erwächst daraus Selbstbestimmung und Autonomie.

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