Seit einigen Jahren kann man erleben, dass erwachsene Menschen auf dem Fußweg mit dem Fahrrad angerast kommen, wild klingeln und einen Arschloch nennen, wenn man nicht sofort aus dem Weg springt. Das könnte an den vermittelten sozialen Kompetenzen liegen – oder vielmehr an der Abwesenheit derselben. Sozialverhalten gibt es nur noch, sofern die eigenen Interessen berührt sind.
Die Pädagogik hat sich in den letzten fünfzig Jahren erheblich gewandelt. Kindererziehung diente früher noch nicht der Selbstfindung. Unsere Eltern bekamen Kinder, weil sie dazu gehörten und/oder weil die Verhütungsmittel versagt hatten. Unsere Generation wurde durchweg autoritär erzogen, was zwar auch suboptimal war, aber eben nicht nur Nachteile hatte.
So was macht man nicht! bekamen wir fast jeden Tag zu hören. Unsere Bedürfnisse standen nicht pausenlos im Vordergrund. So lernte man, dass das Leben nun mal kein Waldorfkindergarten im Glücksbärchiland ist. Und die Autorität von Erwachsenen stellten wir selten in Frage. Sie waren älter und erfahrener und konnten und wussten viel, viel mehr als wir. Zumindest bis zur Pubertät wurde daran nicht gerüttelt. Irgendwann kamen die Achtundsechziger Pädagogen mit ihrer falsch verstandenen Version der antiautoritären Erziehung. Einmal hospitierte ein ganzer Schwung von Ihnen in unserer Grundschulklasse. Wir brüllten mit ihnen im Chor Ho-Ho-Ho-Chi-Minh und lernten en passant, was Oralsex ist. Danach wollte ich nie erwachsen werden.
Im Vergleich zu heute aber waren das goldene Zeiten, denn mittlerweile wird die Autorität komplett an die Kinder abgegeben. Und obendrein auf deren geistiges und sprachliches Niveau herabgestiegen. In meiner Kindheit haben die Mütter sich noch wie Erwachsene vorgestellt: Guten Tag, ich bin Frau Reinhard. Heute heißt es: Hallöchen, ich bin die Mama von der Vanessa-Lara und dem Paul-Patrick.
Dreijährige Despoten werden durch den Supermarkt gekarrt und bei jedem Artikel um Kauferlaubnis gebeten. Früher gab es in den meisten Familien mindestens zwei Kinder. Zeit und Geld waren knapp, und solche Mätzchen wie Kindergartenkinder in Fragen der Haushaltsführung zu konsultieren oder zweistündige Schlafenszeitrituale abzuziehen, konnte man sich in Arbeiterfamilien nun mal nicht leisten.
Kinder- und Erwachsenenwelt waren strenger geschieden. Schularbeiten waren unsere Angelegenheit – wie hätte eine Mutter, die knapp den Hauptschulabschluss geschafft hat, uns auch beim kleinen Latinum oder der Analysis helfen sollen?
Wir lernten auch, dass es ohne Kritik keine Lernerfolge gibt. Wenn man seiner Tochter einredet, sie hätte eine entzückende Stimme und wäre eine fabelhafte Tänzerin, obwohl das nicht stimmt, darf man sich nicht wundern, wenn Dieter Bohlen diese Erziehungsaufgabe eines Tages übernimmt.
Erwachsenpartys waren damals Veranstaltungen, bei denen zwei Schachteln HB und anderthalb Flaschen Remy Martin das Zeitliche segneten und störungsfrei durchgehechelt werden konnte, wer in der Nachbarschaft mit wem eine Affäre hatte und welcher Betrieb gerade pleite ging. Dazu gab es garantiert nichtbiologische, erwachsenengerechte Snacks wie Cognacbohnen, Anchovisschnittchen und Heringssalat.
Die Kinder lagen schließlich seit acht Uhr im Bett. Nicht wie heute, wo einem irgendein Zwerg gegen halb zwölf Spielzeug unter die Nase hält und dazu schnarchlangweilige Geschichten erzählt, während Mutter hilflos im Hintergrund säuselt:
So, nun wollen wir aber mal langsam ins Bett, oder? Oder eben auch nicht. Wäre ich seinerzeit vor die Wahl gestellt worden, wäre ich auch nicht ins Bett gegangen.
Während uns streng verboten war, eigenmächtig ans Telefon zu gehen, ersuchen moderne Mütter ihre Sprösslinge um Erlaubnis für den Zugriff aufs Telefon. Es ist allerdings nicht jeder Anrufer maßlos entzückt, wenn bei einem dringenden Anliegen erstmal eine Rotznase Hallo! brüllt und anschließend minutenlang in die Sprechmuschel keucht wie ein Sittenstrolch.
Wer kennt nicht die Mütter mit Geldautomatensyndrom? Während sich hinter ihnen eine endlose Warteschlange langsam, aber sicher einmal um den Block wickelt, halten sie ein Kind im Krabbelalter an die Tastatur: Und jetzt den roten Knopf drücken! Nein, den roten! Das ist der grüne, Schatz. So. Feeeein! Und jetzt den Knopf da oben! Drauf drücken! Nein, drücken! Feeeein!
Ich weiß, dass kinderlosen Menschen wie mir gern jede Fähigkeit zur Beurteilung von Erziehungsmethoden abgesprochen wird – als ob jeder, der Kinder in die Welt setzt, dadurch im Selbstgang zum guten Pädagogen mutierte. Aber selbst größte Kompetenz kann ein Totalversagen als Elternteil nicht ausschließen. Ich kenne den Fall eines Lehrers und einer Erzieherin. Ihre sechsjährige Tochter ist schwer verhaltens- und essgestört.
Schlau, wie sie ist, hat sie schnell begriffen, dass Sie Papi und Mami mit Essensverweigerung zu fast allem erpressen kann. Jetzt haben die diplomierten Pädagogen rund um die Uhr damit zu tun, ihrer Tochter löffelweise Astronautennahrung einzutrichtern.
Liebe Eltern: Kinder sind süß, wild, liebenswert, fantasiebegabt und wissbegierig.
Dass sie besser Memory spielen können als ihr, heißt aber lediglich, das ihre Merkfähigkeit noch größer ist als eure; mitnichten dass sie euch geistig überlegen sind.
Sie kommen nicht als vernunftbegabte, sozial kompetente Minierwachsene auf die Welt.
Ihr müsst sie erst dazu machen. Ich wünsche viel Erfolg!