Gunnar Heinsohn / 24.07.2012 / 14:17 / 0 / Seite ausdrucken

Eine ungehaltene Merkel-Rede

Liebe Europäerinnen und Europäer! Ich habe am 14. Juni 2012 gesagt: „Unsere Stärke ist nicht unendlich.“ Man hat diese Aussage oft als Ausrede gegen die Übernahme weiterer Lasten gedeutet. Ich möchte deshalb noch offener werden.

Milliarden Menschen sehen Deutschland auf vollen Geldkisten sitzen, aus denen es endlich etwas hergeben müsse, weil viele Regierungen nur Schulden hätten und allein aus Berlin ein globaler Absturz verhindert werden könne. Doch wo immer wir helfen, tun wir das nicht mit frei verfügbaren Mitteln. Für alle Gaben müssen wir selber zusätzliche Schulden aufnehmen. Das könnten unsere Bürger doch leicht aushalten, wird gerne entgegnet. Schließlich gelte der deutsche Staat ihretwegen als bester Schuldner der Welt. In Wahrheit aber hat auch der deutsche Staatsbürger seit über 40 Jahren niemals tilgen können, sondern immer weiter hochschulden müssen. Schuldete er 1970 pro Kopf gerade mal 800, so sind es heute 24 000 Euro. Doch 1970 hatten unsere Bürger bei einem Durchschnittsalter von 34 Jahren noch viele aktive Jahre vor sich. Heute hingegen drückt sie ein Durchschnittsalter von 44 Jahren. Ich weiß nicht, wie sie von ihrer Last jemals wieder herunterkommen sollen. Im Stillen hoffe ich, dass die Rating-Agenturen unsere Ohnmacht nicht allzu schnell erfassen. Wir brauchen also selber dringend Rat, wo man von uns Entlastung erhofft.

Lassen Sie mich erläutern, wie wir mit unseren eigenen Schuldnern verfahren. Der Staat hilft ihren Gläubigern bei der Vollstreckung. Wenn jemand seine Steuern nicht zahlt, nehmen ihm unsere Gerichte Eigentum im Umfang der Schuldsumme weg. Wie können wir den so Behandelten weiteres Eigentum abverlangen, um es Ländern zu geben, in denen die Regeln des Kreditgebens und des Steuerzahlens nicht durchsetzbar sind?

Man sagt uns, dass 100 im Jahre 1970 geborene Griechen oder Portugiesen im Jahre 2030 lediglich 70 Enkel haben werden, die niemals für ihre Alten sorgen können. Mitleidlos verhalte sich Deutschland, wenn es da nichts gebe. Wir wissen um diese Not. Deshalb wurde ja der Löwenanteil der bald 40 000 Euro, die etwa jeder Grieche seit dem EU-Beitritt seines Landes bekommen hat, von Deutschen gegeben. Aber wir können das nicht mehr fortführen, weil 100 im Jahre 1970 geborene Deutsche im Jahre 2030 nicht einmal 70, sondern nur 60 Enkel haben werden. Wir wissen nicht, wer unsere eigenen Alten nebst ihren Schulden tragen wird. Wir stehen hilflos vor unseren demografischen Problemen. Und es beschämt uns, dass wir in Zukunft nicht einmal mehr das zahlen können, worauf man bisher so selbstverständlich rechnen durfte.

Wir hören, dass Spanien mit nur sieben und Portugal oder Griechenland mit sogar nur zwei europäischen Patenten auf eine Million Einwohner (2009) auch nach den Milliardenfluten niemals konkurrenzfähig werden und deshalb für alle Zukunft Berliner Unterstützung brauchen. Deutschland mit 114 Patenten auf eine Million Einwohner stehe dagegen glänzend da. Wir wissen um die Hoffnungslosigkeit dieses Raumes mit seinen 65 Millionen Menschen, und es stimmt, dass wir allein wegen unserer Innovationen anderen noch beistehen können. Doch auch wir befinden uns in schnellem Niedergang. Lassen Sie mich das mit Anträgen auf europäische Patente in der Hochtechnologie belegen. 2003 kamen aus Deutschland 3500, 2008 waren es nur noch 1900. Bei internationalen Patenten stand es 1990 zwischen Deutschland und China noch 700 : 100. Aber bereits 2009 ist der asiatische Gigant auf 130 : 100 davongezogen. Auch unsere Menschen können gegen die Begabung, den Fleiß und die Präzision der Menschen aus Ostasien immer weniger ausrichten.

Manche erinnern sich, dass Deutschland bei Kameras und Telefonen, Fernsehern und Speichermedien, Medikamenten und der Unterhaltungselektronik, im Schiffbau und bei Atomkraftwerken bis in die 1970er-Jahre Weltspitze war. Wir haben diese Industrien nicht nur verloren, weil andere Länder geringere Löhne zahlten, sondern weil sie schneller und einfallsreicher waren. Das sieht man daran, dass wir diese Branchen auch dann nicht zurückgewinnen konnten, als unsere Löhne unter die Einkommen der Konkurrenz fielen. Wir haben für eine Aufholjagd einfach keine Köpfe mehr. Dabei verschlechtert sich unsere Bilanz weiter, weil ein Fünftel unserer Kinder nicht ausbildungsreif wird und in keinem Land der Erde die Schulleistungen der Einwandererkinder tiefer unter dem einheimischen Niveau liegen als bei uns. Während wir viele hunderttausend der Besten ziehen ließen, haben wir Hilflose aus der ganzen Welt in Obhut genommen. Da werden Millionen ein Leben lang Unterstützung fordern, aber niemals Patente entwickeln. Wir wissen nicht, wie lange wir diese Mitbürger noch versorgen können, denn das Durchschnittsalter unserer männlichen Leistungsträger überschreitet mühselige 46 Jahre, während der versorgte Sektor bei 26 Jahren liegt. Wir wissen aber, dass niemand außer uns für diese Menschen etwas tun wird.

Erlauben Sie mir zum Schluss ein paar Worte an unsere angelsächsischen Ratgeber. Wir bewundern ihre Universitäten und haben Respekt vor ihren Nobelpreisträgern. Sie versichern uns, dass nach 1945 die Schuldenstände noch höher lagen als heute und man bereits 1970 wieder gut dastand. Das ist richtig, aber damals haben wachsende und viel jüngere Bevölkerungen – in den USA sogar noch sich weiter verjüngende – diese Lasten abgetragen. Heute stehen vergreisende und schrumpfende Bevölkerungen vor den Billionenbergen, und es gibt die brillante Konkurrenz aus Ostasien, die zwischen 1945 und 1965 keine Rolle spielte. Hier ist man im Blick auf die Vergangenheit viel zu optimistisch.

Man warnt uns auch vor neuer politischer Radikalisierung à la 1933, wenn wir nicht endlich garantieren und zahlen. Auch ich habe manchmal mit neuen Kriegsgefahren argumentiert. Aber ich verstehe längst, dass die jungen Männer, die sich damals in roten, braunen oder schwarzen Hemden gegenseitig terrorisierten, aus den Jahrgängen der Zeit vor 1914 kamen, als Europas Frauen mit vier bis fünf Kindern vor Problemen standen wie jetzt die Mütter in Syrien oder dem Gazastreifen. Solche paramilitärischen Millionenheere gibt es bei weniger als einem Sohn pro Frau in Europa nicht mehr. Hier ist man im Blick auf die Vergangenheit also viel zu pessimistisch.

Gleichwohl warnt man uns und mich persönlich immer öfter vor dem Hass der ganzen Welt. Wir fürchten uns vor diesen Emotionen. Aber wir haben auch viel zu selten dargelegt, warum wir sie nicht verdienen.

Erstmals erschienen in FOCUS Nr. 27 vom 2. Juli 2012

http://www.focus.de/magazin/archiv/politik-europaeerinnen-und-europaeer-wir-haben-fertig_aid_776179.html)

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