Rainer Bonhorst / 18.03.2014 / 23:39 / 10 / Seite ausdrucken

Die Macht des Juchtenkäfers

Jetzt habe ich endlich mal den berühmten Juchtenkäfern von Stuttgart einen Besuch abgestattet. Es ist still um sie geworden, aber sie leben und wirken munter weiter. Sie wohnen sehr hübsch und zentral in einem kleinen Hain in Bahnhofsnähe. Und von dort aus torpedieren sie seit Jahren eine der wichtigsten deutschen Infrastrukturmaßnahmen, das Projekt Stuttgart 21.

Die Macht der kleinen Käfer reicht zwar nicht aus, um den Bahnhofsneubau ganz zu verhindern. Eines schönen Tages wird er fertig sein. Aber etliche Jahre verspätet und sehr viel teurer als geplant. Und damit erweist sich der Juchtenkäfer als eine scharfe Waffe in der Hand der deutschen Protest-, Blockade- und Verhindererszene.

Die Europäische Union hat dem Juchtenkäfer diese Power verliehen, indem sie ihn unter Artenschutz gestellt hat. Allerdings lässt sich der Kleine trotz des Schutzes so gut wie nie blicken. Zu bestimmten Zeiten, sagen Kenner, macht er durch einen unangenehmen Geruch auf sich aufmerksam. Der Geruch entströmt dann den Baumrinden, in denen er sehr zurückgezogen lebt. Entscheidend ist: Der Baum, in dessen Rinde der scheue Juchti wohnt, ist unantastbar. Auch dann, wenn er einem Milliardenprojekt wie Stuttgart 21 im Weg steht,

das Knotenpunkt der bedeutenden Bahntrasse von Paris über Stuttgart, Ulm, Augsburg, München nach Budapest werden soll;

das viele tausend Menschen vom Auto auf die Schiene umlenken wird;

das viele tausend Arbeitsplätze schafft

und das im Stuttgarter Zentrum eine große, baumreiche Grünfläche und attraktive Wohnungen entstehen lässt.

Im Landtag, im Stadtrat und bei einem Bürgerentscheid hatte das Projekt, das den neuen Bahnhof unter die Erde steckt, ein klare Mehrheit. Aber mit dem Juchtenkäfer ist nicht zu spaßen.

Keine Säge darf sich den Bäumen nähern, in denen er haust. Und das Sägeverbot gilt nicht nur für Bäume, in denen Juchti tatsächlich wohnt, sondern auch für die sogenannten Verdachtsbäume. Verdachtsbäume sind Bäume, die unter dem Verdacht stehen, dass sie möglicherweise einen Juchtenkäfer beherbergen könnten. Ob das ein heißer oder nur ein vager Verdacht ist, spielt keine Rolle: Die Bäume müssen bleiben.

Und sie sind nicht die einzigen, die wegen des Käfers nicht angerührt werden dürfen. Am Stuttgarter Hauptbahnhof stehen auch zwei Bäume, in denen der Juchtenkäfer erwiesenermaßen nicht wohnt, die er aber eines Tages eventuell als künftigen Wohnort wählen könnte. Das sind keine Verdachtsbäume sondern Potenzialbäume. Auch Potenzialbäume dürfen nicht angetastet werden. Wegen dieser beiden juchtenkäferfreien, aber möglicherweise für das Tierchen attraktiven Bäume wird es demnächst im Zentrum der Stadt jede Menge stinkender Autostaus geben, weil sie einem Straßenausbau im Weg stehen.

Gibt es gar kein Mittel gegen den Juchtenkäfer? Doch, das Gesetz weist den Weg: Man muss dem Käfer nur in erreichbarer Nähe ausreichend Alternativbäume anbieten, in der Hoffnung, dass er auf die neue Wohnlage fliegt. Ob der eigensinnige Käfer aber den Wohnort wechseln wird oder ob er bleibt, wo er ist, kann man nicht vorhersehen. Man müsste wohl einen Juchtenkäferflüsterer damit beauftragen, ihn zum Umzug zu bewegen. Denkbar ist leider auch eine gemischte Verhaltensweise: Der eine Käfer wechselt den Baum, der andere bleibt, wo er ist. Dann wäre man nicht weiter als zuvor.

Ein kompletter Umzug wäre sicher nicht im Sinne der Projektgegner. Aber die sind im Notfall gar nicht auf die am Ort vorhandenen Artenschutztierchen angewiesen. Im Internet gibt es eine gut besuchte Tauschbörse, an der Freunde des Protestes sich jederzeit Juchtenkäfer und dergleichen ausleihen können, um sie an geeigneter Stelle zum Zwecke einer Projektverzögerung einzusetzen. Ein weggezogener Juchtenkäfer kann also leicht durch einen organisierten Neuzugang ersetzt werden, der dann sein Boykott-Potenzial frisch entfalten kann.

Das Online-Leihangebot enthält eine ganze Palette streng geschützter Fauna und Flora. Zur beliebten Protestfauna gehören die große Hufeisennase, der Ameisenbläuling und der Wiesenknarrer. Die Nase ist eine Fledermaus, der Bläuling ein Schmetterling und der Knarrer ist ein Vogel. Wo sie auftauchen, verursachen sie jedem Projektmanager Alpträume.

Im Kampf um Stuttgart sind die engagierten Projektgegner allerdings noch nicht auf solche ausgeliehenen Tiere angewiesen. Sie haben neben dem Juchtenkäfer bereits ein weiteres Eisen im Feuer: eine vermutlich unter Artenschutz stehende oder kriechende Mauereidechse.

Vermutlich? Ja: Es ist noch nicht klar, ob es sich um eine geschützte einheimische Mauereidechse handelt oder um eine schutzlose Migrantin. In Artenschutzkreisen herrscht ein strenger Patriotismus. Einheimisches wird gefördert, unverschämte Zuwanderer, ob Tier, ob Pflanze, werden gnadenlos abgeschoben, ja oft sogar liquidiert.

Sollte die besagte Eidechse also einen Migrationshintergrund haben, so könnten die Bauarbeiter fröhlich auf ihr herumtrampeln und ihrer Arbeit nachgehen, ohne vom Artenschutz daran gehindert zu werden. Handelt es sich aber um eine eingeborene und damit um eine geschützte Eidechse, so hat sie die gleiche Projektsprengkraft wie der Juchtenkäfer.

Wie aber stellt man fest, ob es sich im Einzugsbereich von Stuttgarter 21 um eine unantastbare Schwäbin oder eine nichtswürdige Fremde handelt? Der offizielle Vorschlag der Landesregierung lautet: Man solle an den Eidechsen doch einen Gentest vornehmen, um die Sache zu klären. Werden also in nächster Zeit alle Stuttgarter Mauereidechsen aufgerufen, sich zum Gentest zu melden? Oder werden sie gar zwangsvorgeführt? Das mag notwendig sein, stünde einer Juchtenkäfer- und Eidechsen-Demokratie aber nicht gut zu Gesicht.

Wolfgang Dietrich, der Sprecher des Projekts Stuttgart-Ulm, und seine Leute haben gelernt, sich mit Käfern und Echsen herumzuschlagen. Auch andere, planerische Verzögerungen, durch die neue politische Verhältnisse, neue Rechtslagen und neue Techniken entstehen, gehören zum Geschäft. Und jedes Mal bedeutet es: Zeit ist Geld.

Der verblüffte Besucher aber sagt sich: Bei diesem System ist doch irgendwo eine Schraube locker. Wahrscheinlich sogar mehrere. Und er verabschiedet sich vom Millionen verschlingenden Juchtenkäfer, ohne den Winzling zu Gesicht bekommen zu haben. Die Mauereidechse kommt vielleicht beim nächsten Mal dran. Es besteht ja keine Eile. Ein halbes Dutzend Jahre wird es sicher noch dauern, bis der erste Zug in Stuttgart unterirdisch hält.

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Frank Günther / 20.03.2014

Artenschutz ist für den BUND und seine Vorsitzende Brigitte Dahlbender offenbar ein sehr relativer Begriff.  Der Juchtenkäfer z.B. ist offenbar von ungeheurer schutzwürdiger Bedeutung, wenn mit ihm ein Bahnhof verhindert werden soll: “....möglicherweise der Juchtenkäfer seien unmittelbar gefährdet. ... “Wir wollen mit unserer einstweiligen Anordnung Zeit zum Innehalten gewinnen, eine sachliche Klärung herbeiführen und den durch die Bauarbeiten bedrohten Arten die gesetzlich gebotenen Schutzmaßnahmen zukommen lassen. Es ist bedauerlich, dass die Projektträger die Augen vor diesen Aufgaben verschließen und mit brachialer Gewalt Fakten schaffen wollen”, so Dahlbender abschließend.” Sehr anders argumentiert dieselbe Frau Brigitte Dahlbender, wenn es um Windräder geht und um davon betroffene, oiffenbar weniger schutzwürdige Vogel- und Fledermausarten: Da muß der Naturschutz erstaunlicherweise “im Einzelfall” plötzlich “Opfer bringen”, und auf den Straßen kämen ja noch viel mehr Tiere um, erklärt Frau Dahlberger mit erstaunlicher Kaltschneuzigkeit “16.1.04 - Die Umweltverbände Baden-Württembergs, der Bund für Umwelt- und Naturschutz (Bund) sowie der Naturschutzbund (Nabu) haben die Landesregierung aufgefordert, ihre Blockadehaltung gegenüber der Windkraft aufzugeben. Regenerative Energien können ihrer Ansicht nach sehr wohl im Einklang mit der Natur ausgebaut werden. Im Einzelfall müsse der Naturschutz Opfer bringen, erklärten die Landesvorsitzende des Bund, Brigitte Dahlbender, und der Nabu-Landesvorsitzende Stefan Rösler. Die Debatte über Windräder, die die Landschaft verschandeln oder gar als Vogelschredder wirken, bezeichneten beide als “scheinheilig” und “ideologisch”. Im Vergleich zu den Tieren, die auf Straßen oder durch Glasscheiben zu Tode kämen, sei die Zahl der Vögel, die von den Rotoren getötet würden, gering.” Die Heuchelei dieser angeblichen Naturschutzvereine, die in Wirklichkeit reine EE-Lobby-Vereine sind, ist atemberaubend. 

Helmut Zott / 20.03.2014

Tiefbahnhof Ein Mensch lebt in der Hegelstadt, wo er ein Haus und Freunde hat, und wo er einst die Frau gefunden, mit der er liebevoll verbunden. Er mag die Stadt und ihre Leute, die schönen Plätze und Gebäude. Den Bahnhof will man neu gestalten, dabei den größten Teil erhalten und auch die Gleise tiefer legen: Für Stuttgart wäre das ein Segen. Doch das, was in die Zukunft weist und man gewöhnlich Fortschritt heißt, wird boykottiert - sogar gehasst - von Leuten, denen das nicht passt. Nicht nur die Jungen, auch die Alten wollen den Kopfbahnhof erhalten. Doch ist es nur ein kleiner Haufen von Leuten, die Plaketten kaufen und zeigen, dass sie Fortschritt hassen und sich durch nichts belehren lassen. Was einst im Parlament beschlossen behindern Grüne und Genossen. Helmut Zott

Helmut Zott / 20.03.2014

S21-Naturschutz Ein Mensch bekennt ganz unumwunden, dass er in Liebe tief verbunden dem Baume war, den man gefällt, auch wenn man ihn für irre hält. Nichts ahnend von dem Liebespakt, hat man den Liebsten umgehackt. Er steht im Weg, so war die Haltung der Bahn und auch der Stadtverwaltung. Sind Bäume nicht auch Lebewesen? „Mord!“, schrie er aus, „ist das gewesen“. Man hat, wenn man es richtig wichtet, auch Juchtenkäfer hingerichtet, denn in dem Ast von diesem Baum, der morsch war, war ihr Lebensraum. Helmut Zott

Franz Hoffmann / 19.03.2014

Vorschlag für die nächste Eskalationsstufe: Vermitteln Sie Putin, dass der Juchtenkäfer ursprünglich aus Russland stammt. Er wird Käferexperten schicken, die äußerlich russischen Soldaten ohne Hoheitsabzeichen stark ähneln, aber nur engagierte Schützer des eigentlich russischstämmigen Juchtenkäfers sind. Dann wollen wir mal sehen, ob Stuttgart 21 noch gebaut wird! Da der Käfer EU-geschützt ist, sind Proteste der Bundesregierung und der EU nicht zu erwarten.

Christoph Andreas / 19.03.2014

Der arme Juchtenkäfer, der seinen angestammten Wohnraum aufgeben soll ist ein klassisches Opfer der Gentrifizierung. Weit schlimmer ist aber das Los der schwäbischen Mauereidechse. Sie darf sich nicht mit aus dem Süden eingewanderten Artgenossen einlassen. Das ist im Namen der Artenschützer eine ganz üble Fremdenfeindlichkeit. Eine Eidechsenausländerbeauftragte könnte hier Abhilfe schaffen.

Hjalmar Kreutzer / 19.03.2014

Oberirdisch sollten in Stuttgart auch keine Züge fahren, weil sonst der dort nistende Rotbackenpfeifdrüsling hustet!

Thomas Schlosser / 19.03.2014

Besser hätte man die Zustände in Absurdistan ( fka ‘Deutschland’ ) nicht beschreiben können… Offensichtlich ist nach 40 Jahren linker Gehirnwäsche ein nicht unbeträchtlicher Teil der Deutschen schlicht verrückt geworden… Konsequenterweise schlage ich als neues Wappentier dieser Republik den Juchtenkäfer vor….

Ludger Weß / 19.03.2014

Lieber Herr Bonhorst, da lässt sich ein interessantes Geschäftsmodell draus machen. Die Webseite Feldhamsterverleih.de bietet bereits seit einiger Zeit als Dienstleistung die vorübergehende Ansiedlung geschützte Tiere und Pflanzen in der Nähe von Großprojekten an. Der Juchtenkäfer ist noch nicht dabei, es kommen aber ständig neue Tierarten dazu.

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