„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ - eine solche Zeile wird man in einem Song der brasilianischen Música Popular eher nicht finden. In denen geht es um Sonne, Sand, Strand, Liebe und Sehnsucht. Auch Melancholie wird gerne besungen, aber nicht, weil es monatelang friert und dunkel ist, sondern weil der oder die Geliebte nicht da ist, um Sonne, Sand, Strand und Liebe zu teilen.
In Finnland oder der schattigen Eifel hingegen kann man Fausts Osterspaziergangsgedanken aus eigenen Erfahrungen reichlich abgewinnen. Des Frühlings holder, belebender Blick erlöst die Bewohner in Kuopio wie in Kall, in Pudasjärvi ebenso wie in Prüm, in Rovaniemi wie in Reifferscheid von Schneeschippen, Schlittenfahren und Schenkelhalsbrüchen.
Der große Bogen von Bahia nach Blankenheim
Sie finden den Bogen von Bahia zu Blankenheim etwas arg weit hergeholt? Nun ja. Bezogen auf das Große und Ganze haben Sie sicher recht, aber en détail finden sich durchaus verblüffende Parallelen, personifiziert in einer Sängerin, die mütterlicherseits finnische Wurzeln hat, in der Eifel lebt und sich seit Jahren der brasilianischen Musik verschrieben hat.
Die in Köln geborene Ulla Haesen singt und spielt, als habe sie ihr ganzes bisheriges Leben an der Copacabana verbracht. Eindrucksvolles Beispiel dafür ist ihr neues Album Abre Alas, zu deutsch Breite die Flügel aus. Es ist Ulla Haesens drittes Album; eingespielt hat sie es mit zahlreichen Gastmusikern, und derzeit arbeitet sie bereits an einem neuen Album, in dem sie die Eindrücke ihrer Brasilienreise vom Spätsommer 2015 musikalisch umsetzen will.
Musik hat Ulla Haesen schon immer gemacht; auf Samba und Bossa Nova kam sie dann vor rund neun Jahren. „Eine Verbindung zu Brasilien habe ich dadurch bekommen, dass ich damals ein sehr ergreifendes Konzert mit brasilianischer Musik erleben durfte, in dem die intensiv zelebrierte Gegensätzlichkeit ‘tristeza – alegria’ mich sehr berührt hatte. Das Konzert-Erlebnis war so einschneidend, dass ich mich seit dem Tag ausschließlich mit dieser Musik beschäftigt habe, mit ihrer Rhythmik, ihren Harmonien und auch mit der brasilianisch-portugiesischen Sprache,“ sagte sie mir im vorigen Jahr in einem Interview.
Diese Musik passt einfach immer
Wenn Sie Ulla Haesen nicht sehen, sondern nur hören, kommen Sie wohl kaum darauf, dass sie nicht mit Blick auf die Copacabana und Palmen ihre Tage verbringt, sondern den Nationalpark Eifel samt Buchen und Fichten um sich herum hat. Falls sie nicht gerade mit ihren Musikern auf Tour ist oder, wie derzeit, im Tonstudio. Das schöne an der brasilianischen Musik ist: man kann sie zu jeder Jahreszeit hören; sie passt einfach immer. Jetzt, im Frühjahr, weckt sie beim Hören erste Lebensgeister, die sich auf die anstehende warme Jahreszeit einstimmen wollen. Im Sommer, kann sie das stimmungsvolle Ambiente einer Gartenparty abrunden, im Herbst vermag sie mit ihrer subtilen Melancholie die Nachklänge des vergangenen Sommers wach zu halten und im Winter wärmt sie wie ein Kaminfeuer oder eine kuschelige Decke die sonnenhungrige Seele. Vielleicht kann Ulla Haesen uns Zuhörern ja sogar noch etwas mehr das tropische Lebensgefühl nahe bringen, als es eine Sängerin aus Rio oder Bahia könnte; als hier Heimische weiß sie schließlich, wie sehr wir uns nach Wärme und Gelassenheit verzehren und legt in ihre Musik noch eine Extraportion Sonne. Mir jedenfalls scheint, dass dem so ist.
Ein Bogen von Fontainebleau, der französischen Kleinstadt südöstlich von Paris, nach Brooklyn zu schlagen, ist nicht weniger unmöglich, als zwischen Finnland und Brasilien. Gewagt hat ihn vor Jahren die Sängerin Cyrille Aimée, und das mit viel Erfolg. Vom Trällern auf Plätzen und Straßen zur Bühne des Jazz Festivals in Montreux war es ein erster Schritt, und nicht gerade ein kleiner, wie man sich denken kann. Zudem sie bei dieser Gelegenheit auch noch gleich den Publikumspreis eroberte.
"Einer schenkte mir eine Gitarre"
Musikalisch beeinflusst wurde die jetzt 31-jährige Cyrille-Aimée Daudel, so ihr Geburtsname, von einer Scene, die nur wenige Kilometer von Fontainebleau entfernt ihre Wurzeln hat und dort jedes Jahr ein Festival feiert, das, im wörtlichen Sinne, mehrere Tage rund um die Uhr stattfindet. In Samois sur Seine lebte bis zu seinem frühen Tod im Mai 1953 das Gitarrengenie Django Reinhardt, der Begründer des bis heute weltweit geliebten Gypsy Swing. Wer schon einmal in Samois gewesen ist und die knappe Woche Festival durchgemacht hat, kann sich leicht vorstellen, wie inspirierend für ein junges Mädchen dieses allgegenwärtige muntere Schraddeln und Singen im Dorf, am Ufer der Seine und zwischen den vielen Wohnwagen der Zigeuner sein muss. Cyrille freundete sich mit den Musikern an („Einer schenkte mir eine Gitarre, ich brachte ihm dafür das Lesen bei“), begann zu spielen und singen und wusste sogleich: Das will ich weiter machen! Was sie dann auch mit großem Erfolg bisher umgesetzt hat. Dass man sie in Deutschland noch nicht kennt, muss dringend geändert werden.
An einem Märztag über eine öde Autobahn durch eine dazu passend öde Gegend fahren müssen, dazu bei Wetter, wie man es eigentlich für diesen Winter schon abgehakt hatte, ist nicht gerade das, was man an einem Samstagnachmittag machen will, aber manchmal spielt einem das Leben halt übel mit. Wie gut, dass ich eine neu eingetroffene CD eingepackt hatte. Ich entfernte beim Fahren mit den Zähnen das Cellophan und schob die Scheibe in den Schlitz, und kaum, dass die ersten Takte von Cyrilles Album „Let's get Lost“ erklangen, wusste ich: DAS ist ja mal etwas ganz besonderes! Eine unverschämt sympathische Stimme, die auch dem übelsten Stinkstiefel gute Laune schenkt, dahinter ein swingendes Arrangement von „Live along and like it” und über die ganze Platte hinweg weitere vertraute, aber auch neue Songs, und schon fuhr es sich durchs Industriegebiet wie in Richtung Urlaub. Wie schreibt jemand unter eines ihrer Videos bei Youtube? „Actually I was a little bit sad, and accidentally heard this... :) I cant describe how refreshing this was, and I feel way better now!"
Massentauglich aber nicht seicht
Cyrilles Musik ist eine homogene Mischung aus gepflegtem, dezenten Jazz, französischer Chanson-Tradition, dem Great American Songbook sowie Gypsy Swing. Massentauglich, aber alles andere als anbiedernd oder gar seicht. Sie ist auf ihre Art stilistisch und interpretatorisch eigenständig und schöpft aus vielen Quellen, darunter selbst der Musik von Stevie Wonder und Michael Jackson. Cyrilles Musik wird auch in Deutschland geliebt werden, so die schöne Sängerin hier endlich einmal in Erscheinung tritt.
Ulla Haesen und Cyrille Aimée – zwei Musikerinnen, die ich Ihnen herzlich ins Osternest legen möchte. Und die sich zwar nicht persönlich kennen, aber - neben vielen weiteren - eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit verbindet. Während Cyrille mit renommierten Gypsy-Swinggitarristen wie Djangos Enkel David Reinhardt oder, auf „Let's Get Lost“, mit Adrien Moignard zusammen spielt, hat Ulla sich nun für Aufnahmen und Liveauftritte mit Deutschlands wohl versiertesten Meister dieser Stilrichtung, Joscho Stephan, zusammen getan. Ich habe davon schon etwas hören dürfen. Freuen Sie sich drauf!
Links für einen ganzen Ostersonntag:
Ulla Haesen Quartett live in Bonn
Medley aus dem Album Abre Alas.
Ausführliches Interview mit Ulla im Herrenzimmer.
Website von Ulla Haesen (mit Liveterminen).
Cyrille Aimée live in Fontainebleau.
Ein TV Portrait über Cyrille Aimée.
Cyrille Aimée live mit Thelonius Monks „Well you needn't“.
Cyrille Aimée & Diego Figueiredo "Just the Two of Us"
Website von Cyrille Aimée