Das Enterische Nervensystem besteht aus bis zu fünfmal mehr Neuronen als das Rückenmark und ist zuständig für die Verdauungstätigkeit. Manche Wissenschaftler nennen dieses Nervengeflecht „Darmhirn“. Weil es die Befehlszentrale im Oberstübchen außer Kraft setzen kann, wenn der Geruch eines Bratwurstgrills in die Nase zieht.
Womöglich erklärt die Machstellung der Darmhirns, warum nur 3,3 Prozent der Deutschen Vegetarier oder Veganer sind, obwohl wir doch seit Jahrzehnten ausführlich darüber informiert werden, das Fleischessen unethisch, ungesund und umweltschädlich ist. Noch mehr zu denken gibt die Tatsache, dass selbst in Indien, wo die Religion seit Jahrtausenden den Fleischverzicht predigt, nur die ganz besonders Frommen sich wirklich daran halten. Der Hinduismus war mit seinem Ernährungsgebot nicht erfolgreicher als die katholische Kirche mit dem Zölibat.
Vergangene Woche hat die Fleischkritik einen neuen Anlauf genommen. Die Heinrich-Böll-Stiftung und der BUND brachten eine Broschüre heraus, in der alle Anti-Fleisch-Argumente nochmals versammelt und in Form bunter Grafiken aufbereitet sind. Die Daten belegen: Wasser-, Flächen- und Futterverbrauch der Milliarden Nutztiere verursachen gewaltige Umweltprobleme. Die Ausscheidungen der globalen Viehherde verseuchen Gewässer und beeinflussen das Klima. Obendrein sind die Umstände, in denen Stalltiere ihr Leben fristen müssen, oftmals erbärmlich und die Methoden in vielen Schlachthöfen unnötig grausam. Und schließlich tut übermäßiger Fleischkonsum der Gesundheit nicht gut. Das ist alles richtig und kann gar nicht oft genug betont werden. Leider jedoch kann das Darmhirn weder lesen noch fernsehgucken.
Das Aufkommen einer vegetarischen Massenbewegung bleibt äußerst unwahrscheinlich. Müssen Tierleid und Gülleflut also für alle Zeiten hingenommen werden? Immerhin zwei von 50 Seiten widmet die Broschüre dem Thema „Fleisch aus dem Labor“. Dort steht, dass aus Stammzellen erzeugtes Kunstfleisch wesentlich umweltfreundlicher sei, als das Mästen lebendiger Tiere. Sehr ungewöhnlich für eine Publikation von Grünen und Öko-Verbänden, die ja sonst alles vehement ablehnen, was irgendwie mit Gentechnik zu tun hat. Bisher wurden in Holland nur ein paar Gramm Stammzellenfleisch erzeugt. Aber immerhin: Die Sklaven des Darmhirns dürfen hoffen.
Erschienen in DIE WELT am 18.01.2013