Maxeiner & Miersch / 08.11.2014 / 19:43 / 8 / Seite ausdrucken

Orientalische Nostalgie

Der Früher-war-alles-besser-Mythos gedeiht in Deutschland in allen Schichten. Viele glauben, Omas Welt sei sicherer, gesünder und gemütlicher gewesen. Die Grünen und die AfD leben von diesem Irrtum. Und selbst der SPD ist es inzwischen fast peinlich, eine Fortschrittspartei zu sein.

Wir dachten immer, dies sei eine nationale Spezialität. Jetzt haben wir gelernt, dass andere Kulturen ebenso davon befallen sind. In einem Kiosk für internationale Presse, fiel unser Blick auf das linksliberale marokkanische Magazin „Tel Quel“.  „War es früher besser?“ fragt die Titelgeschichte. Gespannt lasen wir und waren verblüfft.

Das nordafrikanische Schwellenland Marokko verzeichnet seit Jahren erfreuliches Wirtschaftswachstum. Die relativ liberale Monarchie erlaubt ihren Bürgern mehr Freiheiten als in vielen Nachbarländern. Die meisten Marokkaner sind stolz auf die religiöse Toleranz ihrer Kultur. Islamisten kommen in der Bevölkerung nicht sonderlich gut an. Alles in allem also eine stolze Fortschrittsbilanz. Dennoch glauben laut „Tel Quel“ viele Marokkaner, erst seit heute sei die Welt so voller Probleme.

Mit einem kurzer Vorspann gibt das Magazin die Richtung vor: Vorsicht vorm Volkssport Vergangenheitsverklärung. Dann folgen Artikel zu den populärsten Gute-alte-Zeit-Mythen, die von der Redaktion mit Empirie widerlegt wurden. Hier ein paar Beispiele:

Mythos: Früher hatte man weniger Geldsorgen.
Tatsache: Zwischen 1980 und 2012 ist die Kaufkraft der Marokkaner um 371 Prozent gestiegen. Früher gab es einfach weniger zu kaufen, damit weniger Wünsche.

Mythos: Früher waren die Menschen gesünder.
Tatsache: Die Lebenserwartung der Marokkaner lag 1967 bei 49 Jahren, heute bei 75.

Mythos:  Früher waren die Schulen besser.
Tatsache: Früher war die Schule ein Ort für Privilegierte. In den 80er-Jahren konnten drei Viertel der Marokkaner nicht lesen und schreiben und weniger als drei Prozent gingen zur Uni.

Mythos:  Früher galten noch Werte.
Tatsache: Jungen Marokkanern stellen den unbedingten Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen in Frage, ebenso überkommene sexuelle Tabus. Werte wie Mitleid, Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit stellten die Jungen dagegen nicht in Frage.

Jetzt müssen wir noch rausfinden, ob die Marokkaner „die Deutschen des Orients“ sind, oder ob der Nostalgie-Virus eine globale Seuche ist.

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Leserpost

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Hans-Werner Unsinn / 10.11.2014

Ich frage mich was der Umstand , dass Schulen früher besser gewesen sein   sollen mit der sozialen Stellung der Schüler zu tun hat. Wahrscheinlich werden auch in Deutschland die Einstellungshürden deshalb gesenkt weil mehr Schüler das Abitur ablegen.

Peter Bereit / 10.11.2014

Toll.Toll.Toll. Und weil das alles so toll ist, benutzen die Afrikaner Marokko lediglich als Transitland auf dem Fluchtweg nach Europa, machen sich selbst Marokkaner auf den Weg nach Westeuropa, weil ihnen die hohe Lebenserwartung und das gestiegene Einkommen am A. vorbeigehen. Oder?

Thomas Petersen / 10.11.2014

Sehr lustig, wie ein kleiner Einleitungssatz sofort Schaum vor den Mund der AfD-Anhänger zaubert. Offenbar ein Volltreffer.

Georg Schäfer / 10.11.2014

Sind die Marokkaner die Deutschen des Orients? Eindeutig nein! Erstens, weil Marokko gar nicht im Orient (Osten) liegt, sondern im Westen. Zweitens, weil das damals 1911 mit dem Panthersprung ja nicht geklappt hat und die Franzosen Marokko bekommen haben und nicht wir.

Rene Havekost / 09.11.2014

Sorry, wieso fangen sie hier von der Achse jetzt auch damit an, auf die AFD einzudreschen. Wollen sie sich jetzt vielleicht doch dem politischen Mainstream anbiedern? Ich überlege mir, weiterhin diesen im Prinzip realitätsnahen Blog zu besuchen und zu empfehlen. Ich vermute, dass man bei der Achse überwiegend der FDP nahe steht. Diese Partei hat sich selbst zerlegt. Die AFD ist momentan die einzige Hoffnung für Deutschland. Die Innenpolitik und Klientelpolitik der FDP fand ich stets weltfremd. Den schwammigen Begriff (Liberal) auf alles anzuwenden, ist geradezu lächerlich. Was nützt den Menschen eine herbeigeschaffelte Freiheit ohne Sicherheit. Die, die es sich leisten können, mögen ja ihre Wohnbezirke eine Weile durch eine Security sichern können.  Man kann nur hoffen, dass die AFD sich von eingeschlichenen Nazis befreien kann.

Emil Kaacksteen / 09.11.2014

Maxeiner & Miersch mögen die AfD nicht, weil sie eine Revitalisierung “ihrer” FDP verhindert. Hierbei verkennen (oder verdrängen?) M&M dass die FDP in ihrem tatsächlichen Regierungshandeln NIE eine liberale Partei war und M&M’s energiepolitischen Überzeugungen, die ja den Schwerpunkt ihrer publizistischen Tätigkeit bilden, diametral entgegensteht. Kurioserweise ist die verbrämte AfD bei Energiewende und Klimawandel voll auf M&M-Linie.

Dieter Sulzbach / 09.11.2014

Immerhin schreiben Sie AfD inzwischen richtig. Dass Sie von dieser Partei etwas gelesen resp. verstanden haben, halte ich für unwahrscheinlich. Sie könnten mir ja jetzt z.B. erklären, wieso die Verteidigung der Familie (Kind plus Mutter plus Vater) gegen mannigfache Diskriminierung (konservativ, rechts usw.usf.) rückwärtsgewandt ist. Das wäre schon spannend, zumal Sie zeigen müßten, dass die AfD andere Lebensentwürfe weder zur Kenntnis nimmt noch toleriert! Oder meinen Sie die D-Mark? Die ist nicht aus nostalgischen Gründen wichtig, sondern weil der derzeitge Eurowahn unsere Kinder und Enkel teuer zu stehen kommen wird, je länger dieser Wahn andauert. Oder ist das Denken an Kinder und Enkel auch schon ‘retro’? Wenn man prominente Wirtschaftsfachleute zur Kenntnis nimmt, wird deutlich: Der Eurowahn wird als solcher durchaus auch außerhalb der AfD wahrgenommen. (Oder sollten Sie das Vorhandensein konservativer Menschen in der AfD als rückwärtsgewandt definieren? - Meine sehr geschätzten (!) Autoren, das wäre deutlich unter Ihrem Niveau!) (Mit den Grünen in einem Satz erwähnt zu werden! Brrrrrr ...)

Eckhardt Kiwitt, Freising / 08.11.2014

* Früher hatte man weniger Geldsorgen. * Wenn ich an meine ganz frühe Kindheit zurückdenke, dann kann ich dem vorbehaltlos zustimmen—als kleines Kind hatte ich keine Geldsorgen. Damals wusste ich gar nicht, was Geld ist. Und vor dreißigtausend Jahren hatten die Menschen ebenfalls keine Geldsorgen—damals gab’s nämlich noch kein Geld. So gesehen war früher zumindest einiges, nun ja, “besser” ...

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