Burkhard Müller-Ullrich / 24.10.2008 / 17:03 / 0 / Seite ausdrucken

“Aber der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!” - “Scheiße, wir haben den Scanner angelassen…”

Der Flugverkehr ist, wie wir von Erica Jong wissen, eine ziemlich erotische Angelegenheit. Erst wird man von Stewardessen in aufreizenden Outfits angemacht, dann schlagen sie leichte Fesselspiele vor und wollen dauernd Gurte festziehen, und wenn man erst mal über den Wolken ist, verabreichen sie aphrodisierende Getränke. Und künftig lädt die EU-Kommission alle Passagiere, bevor sie die Maschine besteigen (was für ein Ausdruck!), zum gemeinsamen Nacktscannen ein.
Der Nacktscanner ist ein Gerät, das den Prozeß der Zivilisation vor ganz neue Herausforderungen stellt. Denn wie wir von Norbert Elias wissen, ist Zivilisation aufs Innerste mit Schamgefühl verknüpft. Elias meinte, das Schamgefühl habe im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter zugenommen, wohingegen Hans Peter Duerr eher ein ständiges Sinken der Schamgrenzen sah. Beides hat viel für sich, und der Nacktscanner ist in seinen Auswirkungen genauso widersprüchlich: denn einerseits erlaubt er den zu Untersuchenden ja gerade, ihre Kleider an- und ihre Menschenwürde zu behalten, andererseits jedoch ist die Möglichkeit, einfach unter die Klamotten zu gucken, vielleicht das Ende der uralten und sogar etymologischen Verbindung zwischen Scham und Textilien.
Nun steckt in dieser Verbindung eine gewisse Dialektik: Nacktheit kann weniger sexy sein als manche Formen ihrer Verhüllung. Wenn sich die Massen von Flugpassieren dank Nacktscannern vor den Augen des Sicherheitspersonals in Spencer Tunicksche FKK-Horden verwandeln, dann ist der Verdacht, aus dem die ganze Empörung über diese Technik quillt, der Mißbrauchsverdacht sexistischer Blick-Penetration nämlich, eher gegenstandslos. Überhaupt könnte die Hi-Tech-Scannerei dazu führen, daß der Flugverkehr um jenen sublimen erotischen Stimulus ärmer wird, der in den klassischen Striptease-Vorführungen an den alten Geräten besteht.
Vielleicht ist es aber bloß ein genereller Widerwille gegen das Technische und Apparative, das hier viele Menschen abschreckt. So wie manche Völker glauben, daß mit jeder Photographie ein Stück von der Seele des Photographierten abgeht, so haben wir im avancierten Zeitalter der Vielfliegerei etwas gegen unsichtbare Strahlen, die unser Innerstes auf fremde Bildschirme bringen. Noch sind es nur die Umrisse der Haut, die sich auf diese Weise darstellen lassen. Könnte man tiefer in Gehirn und Gedanken eindringen, dann würde man etwas Erstaunliches sehen: Viele Menschen besitzen in der Großhirnrinde einen eigenen Nacktscanner. Ungefähr die Hälfte stammt von der Marke „Männerphantasien“.

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