„Wir“ waren in der Sauna

Der Tod von Michail Gorbatschow ist ein Anlass zu Erinnerungen und motiviert auch viele namhafte Politiker dazu – wie die Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Also erinnern wir uns doch mal mit ihr.

Angela Merkel äußert sich laut Welt zum Tode des ehemaligen und vorläufig letzten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow:

„Ich kann noch heute die Angst nachspüren, die ich zusammen mit vielen Menschen in der DDR 1989 hatte, ob wie 1953 wieder Panzer rollen würden, als wir ‚Wir sind das Volk‘ und später ‚Wir sind ein Volk‘ riefen. Doch dieses Mal – anders als 1953 – rollten keine Panzer, fielen keine Schüsse.“

In einem von der Süddeutschen Zeitung zitierten Interview klang das 2010 noch etwas anders:

„Im ARD-‚Morgenmagazin' verriet die Kanzlerin außerdem ihre ganz persönliche Geschichte zum 9. November 1989: Merkel sagte, sie sei zum Zeitpunkt des Mauerfalls in der Sauna gewesen. Nachdem sie von den Ereignissen gehört habe, sei sie anschließend in Richtung Grenzübergang Bornholmer Straße gegangen. Ein Bäcker habe schon gebacken, man habe sich noch Verpflegung geholt. Dann ging es los in Richtung Mauer: ‚Man war sprachlos und glücklich', sagte sie."

Weiter oben wird es interessanter:

„Sie selbst habe nicht an einen ‚dritten Weg‘ der DDR zwischen Sozialismus und Kapitalismus geglaubt.Es gab Menschen, die sehr an einen sogenannten dritten Weg geglaubt haben. Ich habe da nicht so richtig dazugehört', sagte sie dem ARD-‚Morgenmagazin' weiter."

N-TV berichtete 2013 dagegen:

„Als die Reformwelle 1989 die DDR erfasste, sei Merkel für einen demokratisch geprägten Sozialismus in einer eigenständigen DDR eingetreten. ‚Wenn wir die DDR reformieren, dann nicht im bundesrepublikanischen Sinn', soll die spätere Kanzlerin im September 1989 in einem Gespräch mit West-Vertretern gesagt haben."

Von da ist es dann nicht natürlich nicht mehr sehr weit, auch die Bundesrepublik nicht im bundesrepublikanischen Sinn zu „reformieren“.

Etwas später, so die Stuttgarter Zeitung, war es für die spätere Kanzlerin so:

„Merkel erinnerte auch an den 9. Oktober in Leipzig. Die große Montagsdemonstration an diesem Tag gilt als Durchbruch der friedlichen Revolution in der DDR. Merkel spricht von einer ‚Mischung aus Mut und Angst' in diesen Tagen. Sie erinnert sich, dass sie zu dieser Zeit an einem Tag aus der Uckermark zurück nach Berlin gekommen ist, wo sie damals als Wissenschaftlerin arbeitete. ‚Da stand die ganze Schönhauser Allee voller Panzerwagen mit so Schiebeschildern. Da war ganz klar: Es war überhaupt nicht entschieden, ob Gewalt angewendet wird oder nicht. Das war einerseits Angst und andererseits ganz viele Leute, die bereit waren, etwas zu tun, was sie noch nie getan hatten.' Am Ende, sagt Merkel, ‚haben die vielen, vielen Menschen den Staatsapparat einfach zum Erliegen gebracht'."

Sind das „wir“? – Ich war im August und September 1989 an der Uniklinik in London, danach an der Uni in Berlin. Am 9. November 1989 war ich im Bett. Ich musste mich wachklingeln lassen. Aber, dass viele, viele Menschen gemeinsam einen Staatsapparat zum Erliegen bringen können, das bleibt natürlich wahr. Manchmal, so heißt es, schaffen das sogar wenige Regierende; auch wenn wir, Angela und ich, es damals nicht waren und es heute nicht sind. In diesem Sinn: „Wir schaffen das!“

In memoriam Michail Gorbatschow (1931-2022), Helmut Kohl (1930-2017), Eduard Schewardnadse (1928-2014), Hans-Dietrich Genscher (1927-2016)

Foto: CDU/Konrad-Adenauer-Stiftung CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Helmut Driesel / 01.09.2022

  Den dritten Weg gibt es ja jetzt. Und es ist schnurzegal, ob we!che wie “wir” da schon vor 89 dran geglaubt hatten. “Geglaubt”, ja, natürlich, ich hatte 1971 in einem Wortgefecht zu meiner Lehrmeisterin gesagt, in zehn Jahren würde über so etwas wie Marxismus nur noch gelacht. Das hatte ich natürlich sofort bereut. Es war halt geglaubt, und zwar ergebnisoffen, darüber ist ja hier in den letzten Tagen viel diskutiert worden. Etwas glauben heißt, es nicht zu wissen, und daraus folgt der Zwang zum spekulativen Handeln. Wie es auch sei und gekommen ist, ich vermute, meine Lehrmeisterin kriegt heute eine auskömmliche Rente. Sie hatte das Richtige geglaubt, den Umständen entsprechend.

Dietrich Herrmann / 01.09.2022

Unglaublich, was Merkel für eine Freiheitskämpferin war.  Aber auch Kohls größter Irrtum.

Torsten Hopp / 01.09.2022

Viele aus der Politikkompetenz erzählen mal so und mal so. Manchmal können sie sich überhaupt nicht erinnern. Sicher war Angela schon immer bei so vielen Migranten skeptisch und für Atomstrom war sie ja sowieso. Schuldenbremse und ein stabiler Euro in einer Union, wo jedes Land für seine Schulden selber aufkommen muss: Eine Herzensangelegenheit der FDJ-Sekretärin. Das wir jetzt bald frieren und Waschlappen benutzen kann sie nicht verstehen.

Gunter Hesse / 01.09.2022

Merkel erinnert sich an Gorbatschow? Da muss man aber sehr gut zwischen den Zeilen lesen können.

Wilfried Cremer / 01.09.2022

Lieber Herr Dr. Matthes, der Tag hat so schön angefangen – und jetzt das Bild von Merkel in der Sauna.

Dirk Jäckel / 01.09.2022

Sie mag unfassbar dreist sein, aber nicht dumm im Sinne eines geringen IQ. Sie, welche offenbar nie einen Fuß nach draußen gesetzt hat, um mitzudemonstrieren, als es noch etwas kostete, versucht hier mit verquaster Sprache zu suggerieren, sie hätte irgendeinen Anteil gehabt. Eine Ohrfeige für alle, welche etwa riskiert haben. Turpiter est. In memoriam Bärbel Bohley.

Ludwig Luhmann / 01.09.2022

In der hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft sehe ich ein Grabmal, das augenblicklich zum Schandmal wird.

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