Innenministerin Faeser will die anlasslose Überprüfung auch privater Handys und Computer ermöglichen, und der politmediale Komplex fällt über Springer-Chef Döpfner her, weil er privat sagt, was man nicht sagen darf. Die Gedankenpolizei ist auf dem Weg, machen Sie bitte die geistige Rettungsgasse frei!
Wenn man die „Skandale“ und ihre Debatten verfolgt, drängt sich der zugegebenermaßen pauschale und vorschnelle Eindruck auf, es gäbe zwei Arten von Menschen: die stoischen Hedonisten und die wütenden Asketen. Es scheint trotz dieses schablonenhaften Vorurteils doch etwas dran zu sein: Die einen wollen leben, wie es ihnen passt, und sie nehmen mehr oder weniger in Kauf, kritisch und allgegenwärtig von den anderen beäugt zu werden. Sie haben meist etwas Alltägliches zu verbergen, weil es niemanden sonst etwas angeht. Es muss nicht wirklich gravierend sein – aber schlimm genug ist es allemal, um die Tugendwächter auf den Plan zu rufen, die schon ein falsches „Wording“ ahnden. Sie beobachten die „Verfehlungen“ der Hedonisten mit Argusaugen. Mit der Empathie von Kneifzangen wollen sie nun zurechtbiegen, was nicht konform ist.
Es sind die Anprangerer und Denunzianten, die das Klima vergiften, weil sie nicht ertragen können, dass sehr viele Menschen schon beim leisesten Versuch scheitern, es ihnen, den Tugendwächtern, recht zu machen. In den Augen der Kneifzangen haben alle „verschissen“, die Spaß haben wollen und deshalb den Tugendrat nicht fragen, ob sie es dürfen. Im besten Deutschland der Kneifzangen kann alles „Pornografie“ sein, was mit Offenheit, Kritik, Polemik, Ironie, Lust, Laune, Satire, Ausgelassenheit, aber ohne korrekte „Haltung“ auftritt. Das muss man dringend bekämpfen und holt schon mal die ganz große Kanone raus: Die Gedankenpolizei ist auf dem Weg, machen Sie bitte die geistige Rettungsgasse frei.
Es gibt zu viele „Skandale“, die im eigentlichen Sinn nichts Anstößiges transportieren – wenn man es freiheitlich betrachtet. Der triviale Wirbel um solche Skandale wird von Menschen betrieben, die wichtigtuerisch die Backen aufblasen und uns weismachen wollen, ein Sturm der Entrüstung müsse dringend ausgelöst werden. Denn es habe sich erneut herausgestellt, dass es (noch immer) keine verlässliche Moral gibt, die allumfassend, quasi tiefenpsychologisch, im menschlichen Charakter kollektiv verankert ist. Das alte Lied, der menschliche Makel, der Ruch der Ideologie. Wie die Kirche anno dazumal lebt die Cancel-Culture von der falschen Behauptung mangelnder Moral. Sie ist der Papiertiger unserer Zeit, der eine perfide Scheinheiligkeit zum Maßstab des eigenen Anspruchs erhoben hat und akribisch dem alltäglichen Sündenfall des Bürgers und seiner Vorbilder auf der Spur ist.
1. Bekenne, dass du gut, integer und zutiefst verlässlich bist
Wie die Inquisition, die Jakobiner, die Tscheka, die Kulturrevolutionäre will die Cancel-Culture die Welt von Menschen mit „schädlichen“ Gedanken säubern und alle anderen erziehen. Deshalb haben moralistisch ausgerichtete Institutionen, Stiftungen, Medien und Unternehmen Konjunktur – gepampert von einem Staatswesen, das mit dem Verlust seiner Deutungshoheit an den Rändern links und rechts ohnehin immer mehr an Legitimation verliert. Aber es bröckelt auch schon in der bürgerlichen Mitte, wo die Aktivisten erzogen wurden, die heute moralische Weltrettung betreiben. Dabei wird der Cancel-Culture eine Wirkmächtigkeit überlassen, die sie gar nicht beanspruchen könnte, wenn nicht so viele vor ihr einknickten und im kollektiven Empörungsrausch mitschwämmen.
Die verwerfliche Doppelmoral, die die Cancel-Culture anprangert, wohnt jedoch ihrem eigenen Handeln inne. Unserer Welt mangelt es an Transzendenz, wenn die Forderung nach moralischer Beweisführung bis ins Privateste so übermächtig geworden ist: Jeder Mensch, jede Handlung, jeder Gedanke und jedes geäußerte Wort sieht sich dem permanenten Zwang zum allumfassenden Bekenntnis gegenüber. Die postmoderne, weltanschauliche Beweislastumkehr bedeutet schon wieder: „Bekenne, dass du gut, integer und zutiefst verlässlich bist. Beweise es dem Kollektiv.“
Weil die Moral am Menschen durchexerziert wird, kann sie nicht als eine jenseits der weltlichen Erfahrbarkeit mögliche, ausreichende Ethik angenommen werden, die auch Nischen der Fehlbarkeit zulässt. Der real existierende Moralismus ist die pure Anwesenheit von Verhaltensregeln und Bekenntniszwängen und säkularisiert seine Anhänger bis ins letzte Refugium. Jede noch so banale Moralvorstellung kann verlangt werden, wenn sie ideologischer Teil einer Welt- oder Menschheitsrettung geworden ist. Das ist nicht neu, und wir kennen es aus Geschichts- und Philosophiebüchern zur Genüge. Wir erleben es heute als Wiedergeburt der Gesinnungsprüfungen. Der permanente Beweis der Tugendhaftigkeit als dem Menschen innewohnende menschliche Eigenschaft ist eine Forderung, die in einer freien Gesellschaft nicht notwendig ist und sich generell als Farce herausstellt: Der Mensch ist nun mal ein widersprüchliches Wesen mit ambivalenten Zügen.
2. Denunziere, weil nur so die Welt gerettet werden kann
Und weil die Moral dem Menschen immanent sein soll, also als eine ihm innewohnende Eigenschaft und sichtbares Bekenntnis gefordert werden darf, muss nichts der Interpretation überlassen werden. So leben wir in einer Zeit massiver (intellektueller) Verunsicherung, wo nichts dem Zufall, der Deutung oder subjektiven Schlussfolgerung überlassen werden darf, wo es keine Transzendenz gibt – also eine Erfahrbarkeit jenseits möglicher Belegbarkeit –, sondern nur sogenannte „Fakten“. Das verengt unseren gesellschaftlichen Handlungsspielraum enorm: Es gibt immer weniger Laissez-faire, immer weniger Vertrauen in die Eigenverantwortung des Menschen. Das Bedürfnis nach Einmischung in die Welt privater Gedanken wird immer mächtiger, weil man dem Individuum misstraut.
Dementsprechend fühlen sich die Politiker ermächtigt. Nancy Faeser, die Bundesinnenministerin, hat sich nun durchgesetzt: Sie will die anlasslose Überprüfung auch privater Handys und Computer ermöglichen. Das Gewissen des Bürgers soll erforscht werden, indem die Innenministerin Bilddaten, Chat- und E-Mail-Verläufe durchforsten lässt. Vordergründig geht es dabei um sexuellen Missbrauch und Kinderpornografie. Jedoch stellt sie die Gesellschaft unter Generalverdacht, und wer weiß, wozu es noch gut ist. Die Unschuldsvermutung kommt als bürgerliches Schutzrecht vor dem Staat ins Hintertreffen, der Überwachungsstaat wird schleichend Realität für einen zunehmend gläsernen Bürger.
Wenn moralische Integrität den täglichen Tugendbeweis erfordert – „ich bin doch kein Rassist, kein Nazi, kein Antifeminist, kein Sexist! Ich esse keine Tiere, quäle keine Kinder, bin kein Pädophiler, hinterziehe keine Steuern, spare CO2 und habe eine PV-Anlage auf dem Dach! Ich verzichte extra auf Flugreisen, finde mich als Mann ungeheuer toxisch und Gendern dagegen prima, weil es die Welt gerechter macht! Ich bin solidarisch, wenn ich mich impfe, ich folge der Wissenschaft und glaube ans Klima! Ich zeige deshalb Menschen an, die sich falsch verhalten, die die Meinungsfreiheit missbrauchen und schwurbeln, ich denunziere, weil nur so die Welt vor dem Kollaps gerettet werden kann!“ – dann sind wir in einer Gesellschaft angekommen, die ethisch auf Dauer versteinert und den freien Willen beerdigt.
3. Unterscheide Dunkeldeutschland und helles Deutschland
Was ist denn so enttäuschend daran, wenn sich eine Person privat abfällig äußert? Wenn jemand politisch unkorrekte Witze erzählt oder seinen Ressentiments freien Lauf lässt, aber dies nicht öffentlich tut, ist das durchaus normal, erlaubt und entspricht unserer täglichen Lebenspraxis. Jeder hat das Recht auf Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz – die Gedanken sind frei, oder? Mathias Döpfner ist auch so ein Mensch, der hinter vorgehaltener Hand anscheinend hin und wieder ein Ventil öffnet und es sprudeln lässt. Na und? Ich ebenfalls, ich nehme an, Sie als Leserin und Leser auch – und wahrscheinlich auch (fast) alle Moralapostel dieser Welt, die berufs- und berufungsbedingt trotzdem empört „Skandal“ rufen. Es ist jedoch noch kein Skandal, wenn festzustellen ist, dass es eine private Person hinter der offiziellen gibt, die von der Außensicht abweicht.
Es gibt eine Scheinheiligkeit und Doppelmoral, die eine düstere, kriminelle Seite hat: Das kann man an pädophilen Priestern und Politikern feststellen, die auf ihren Laptops Kinderpornografie sammeln. Auch korrupte Staatsbeamte, die dem Gemeinwesen schweren Schaden zufügen, oder Pharma-Lobbyisten, die sich auf „die Wissenschaft“ berufen, um das Vertrauen ahnungsloser Bürger zu missbrauchen und medizinische Massenexperimente an ihnen durchzuführen. Wer die Wahrheit kennt, aber mit einer anderen „öffentlichen Wahrheit“ hantiert, um Mitbürger mit dem Hebel der Bürokratie, des Glaubens oder der Angst zu instrumentalisieren und gefügig zu machen, handelt tatsächlich skandalös und verbrecherisch. Wer sich jedoch in privaten E-Mails über Ostdeutsche despektierlich äußert, ist noch lange kein Schuft, sondern maximal ein „Besserwessi“, dem die Gnade der örtlichen Geburt zu Kopf gestiegen ist. Mehr nicht. Niemand sollte von einem Privatmann, der sich öffentlich anders äußert als privat, erwarten, dass er ein Vorbild ist.
Die Skandaltreiber vergessen gern, dass das nicht coram publico geäußerte Ossi-Bashing Döpfners nicht so gravierend einzuordnen ist wie die öffentlich geäußerte Bezeichnung „Dunkeldeutschland“ des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der damit als Träger des höchsten Staatsamts herausheben wollte, dass im Osten Fremdenfeindlichkeit und Extremismus ihr Unwesen treiben, die dem „hellen Deutschland“ der freiwilligen Helfer diametral entgegenstünden. Dieselben Medien und Politiker, die heute Döpfners Rücktritt als Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE beschwören, waren sich in den vergangenen Jahren nie zu schade, die Sachsen offen als „Nazi-Sachsen“ zu bezichtigen. Erlaubt ist, was gefällt?
4. Dinge nicht denken dürfen
Der Fall Döpfner hat uns vor Augen geführt, dass die soziale Kontrollwut vor allem ideologische Züge trägt, die bis ins Private reichen. Der Skandal entsteht erst durch die zwanghafte Feststellung, dass die öffentliche Person Döpfner nicht hundertprozentig mit dem privaten Mathias kongruent ist. Es braucht offensichtlich eine kriminelle, die Persönlichkeitsrechte verletzende Energie einer Schmutzkampagne, um mit dem Vorwurf der Doppelzüngigkeit dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE am Zeuge zu flicken. Der Skandal, der keiner ist: Mathias Döpfner äußert sich im Privaten anders als öffentlich, er hat dezidierte Meinungen, die er nicht öffentlich äußern will. Er unterscheidet, was er an welcher Stelle sagt und wem er welche Aussage zumutet. Offensichtlich mutet er Menschen in seinem direkten Umfeld, Geschäftsfreunden und der Familie andere Gedanken zu als der medialen Öffentlichkeit. Ist das verwunderlich?
Mathias Döpfner kennt als Journalist die imaginären Grenzen der Meinungsfreiheit, die von einem postdemokratischen Moralismus geprägt sind und immer enger definiert werden. Nicht öffentlich, sondern privat hat er Ostdeutsche „beleidigt“, hat Vorbehalte gegen Muslime geäußert und findet nichts daran, zukünftig in einer wärmeren Welt zu leben. Die Frage ist also auch, ob es nicht ein viel größerer Skandal ist, dass man solche Dinge nicht denken darf. Da Döpfner diese Privatmeinungen nicht offiziell geäußert hat, werden sie auch nicht dadurch zur öffentlichen Äußerung, dass irgendjemand aus seinem (ehemaligen) Umfeld die private Korrespondenz an die Zeit durchgestochen hat, um damit einen Gegner zu beschädigen. Nun wird Döpfner an seinen Worten gemessen. Aber wird das auch Joachim Gauck oder die Chefredaktion des Spiegel, die auf ihren Titeln seit Jahren gegen die „Nazis“ im Osten wettert? Die Doppelmoral und das Messen mit zweierlei Maß waren schon immer ein scharfes Kochrezept des Journalismus.
Dieser Text erschien in leicht gekürzter Fassung zuerst im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.