Peter Grimm / 05.02.2024 / 15:00 / Foto: R.Letsch / 35 / Seite ausdrucken

Vergessenes Verfassungsbruch-Jubiläum?

Heute vor vier Jahren erfolgte ein Verfassungsbruch, wie das Bundesverfassungsgericht den  Aufruf der Bundeskanzlerin, die Wahl des FDP Ministerpräsidenten Kemmerich rückgängig zu machen, bezeichnete. 

Es war ein geschichtsträchtiger Tag, dieser 5. Februar 2020. Ihm folgte eine bis dato in der Bundesrepublik unbekannte Demokratie-Verachtung. Daran muss erinnert werden, wo doch allenthalben die Demokratie „verteidigt“ werden soll und alle nach Antworten suchen, warum denn die AfD so stark geworden ist. Also blicken wir zunächst zurück, denn da lassen sich vielleicht ein paar Antworten finden. Ich hatte diese Ereignisse damals für Achgut verfolgt und schrieb genau vor vier Jahren:

Wahrscheinlich gab es in der deutschen Nachkriegsgeschichte noch nie einen Ministerpräsidenten, der von seiner eigenen Wahl so überrascht war, wie der neue Ministerpräsident des Freistaats Thüringen. Thomas Kemmerich schien beinahe noch unter Schock zu stehen, als er die Frage der Landtagspräsidentin, ob er die Wahl annehme, mit „Ja“ beantwortete. Er nahm die Glückwünsche der Abgeordneten entgegen, aber war in keiner Weise darauf vorbereitet, eine Antrittsrede zu halten.

Sie erinnern sich: Im dritten Wahlgang wurde der FDP-Fraktionschef mit Stimmen der CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden, obwohl das niemand so geplant hatte:

„Wann ist ein politisches Ereignis der Regie der Partei-Polit-Strategen schon einmal so entglitten? Die bürgerlichen Parteivertreter im kleinsten Freistaat wollten doch gar nicht an die Macht, weil das doch mit den Stimmen der AfD geschehen würde und nun auch geschehen ist. Lieber hätten sie eine linke Minderheitsregierung geduldet, ohne offiziell die Duldung auszurufen. (…)

Die CDU sollte nach dem Willen der Berliner CDU-Führung nicht mit einem eigenen Kandidaten antreten. Der Thüringer CDU-Chef Mohring hatte nicht den Mut, dies gegen den Willen aus Berlin zu tun. Selbst als sich CDU-Politiker anboten, in den Ring zu steigen, lehnte Mohring ab.

Kemmerich hatte seine Kandidatur damit begründet, dass im dritten Wahlgang, in dem eine relative Mehrheit reicht, niemandem zugemutet werden solle, nur zwischen Rechtsaußen und Linksaußen wählen zu können. Wenn man sich der greifbaren Macht schon verweigerte, dann sollte wenigstens ein bürgerliches Fähnchen gezeigt werden.

Offenbar hatte niemand die Gefahr gesehen, dass die AfD-Mandatsträger trotz eines eigenen Kandidaten geschlossen für Kemmerich stimmen oder die Parteiführer von CDU und FDP glaubten, es würden sich hinreichend eigene Mandatsträger der Stimme enthalten. Doch die wollten – im Gegensatz zu den Funktionären – offenbar lieber eine bürgerliche als eine linke Minderheitsregierung haben und stimmten – bis auf einen – ebenfalls alle für Kemmerich.“

Ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte

Es gab einige wenige Stunden, in denen jeder Kommentator der Ereignisse vollkommen auf sich selbst gestellt war. Eigentlich war es schön, das Schweigen der Funktionäre. Aber es ließ sich dennoch auch in dieser kurzen Phase schon ahnen, was kommt.

„Doch was nun? Im politischen Berlin – sonst überparteilich nie um schnelle Kommentare verlegen – herrschte zunächst beinahe Schockstarre. Für die FDP freute sich immerhin Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki über den Erfolg seiner Partei. Ansonsten muss man leider befürchten, dass die FDP auch diese Chance verspielt, sich endlich als liberale und demokratische Alternative zum Merkel-Mehltau zu profilieren, damit die AfD nicht die auf vielen Politik-Feldern einzige reale Oppositionspartei bleibt.“

Genau an dieser Konstellation arbeiteten Berliner Parteiführungen aber. Es folgte ein wirklicher Tabubruch, ein Verfassungsbruch der Bundeskanzlerin und die Nötigung eines Ministerpräsidenten zum Rücktritt. Der Achgut-Kommentar dazu:

„Doch nun gab es … einen tatsächlichen Damm- oder Tabubruch. Dass eine Bundeskanzlerin öffentlich erklärt, dass das Ergebnis der Wahl des Ministerpräsidenten eines Bundeslandes rückgängig gemacht werden müsse, ist schon ohne Beispiel in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Ohnehin war es atemberaubend, wie vielstimmig die Politiker eines föderalen Staates das Hohelied auf den Zentralismus sangen. Die Bundesparteivorsitzenden müssten ihre Landesverbände und -vorstände in den Griff bekommen, hieß es allenthalben. Wer die frühere Bundesrepublik nicht kennt, musste den Eindruck bekommen, dass es zur bundesdeutschen Normalität gehöre, wenn Parteizentralen eigenwillige Landesverbände auf Linie bringen. Als die Bundeskanzlerin dann aus Südafrika erklärte, das Ergebnis der Kemmerich-Wahl müsse rückgängig gemacht werden, schlossen sich viele Berliner Politiker der Forderung an.

Der Druck auf Thomas Kemmerich, jetzt zurückzutreten, nahm enorm zu. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner reiste schnell nach Erfurt, um das zu erreichen. Wie er das geschafft hat, obwohl Kemmerich noch am Donnerstagmorgen erklärt hatte, weder Rücktritt noch Neuwahlen zu erwägen, erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Aber offenbar war er erfolgreich, denn Kemmerich kündigte nach dem Treffen sowohl Neuwahlen als auch den Rückzug vom Amt an.“

Der Rücktritt kam, doch die Neuwahlen gab es nie. Dafür beerdigte die CDU den offiziell noch gültigen Kurs der Äquidistanz zu den politischen Rändern.

„In dem medialen Trommelfeuer hat sich hinter dem Pulverdampf so einiges verändert und verschoben. Denn eines ist nun für die CDU und die FDP in Berlin geklärt worden: Es gibt eine scharf bewachte Grenze nach Rechtsaußen, die jedwede Art der Kooperation mit der AfD unterbinden soll, während es nach Links eine solche Grenze nicht in dieser Schärfe gibt. Vor diesen Dammbruch-Tagen hatten sich viele Christdemokraten noch bemüht, wenigstens den Anschein einer Äquidistanz zum rechten und zum linken Rand zu erwecken. Das ist jetzt, nach den Auftritten der Parteigranden in der Thüringen-Frage, wirklich kaum mehr glaubwürdig.“

Warum wundert sich noch jemand über verlorenes Vertrauen?

Am 9. Februar 2020 gab es hier auf Achgut bereits ein kurzes Resümee, das leider nur den Beginn eines Prozesses beschrieb:

In Zeiten, in denen es vielen Politikern und kommentierenden Journalisten als Manko gilt, wenn eine Parteivorsitzende ihre doch eigentlich demokratische und vielfältige Partei nicht auf Linie bringt, scheint es normal zu sein, in Berlin über die Stimmabgabe Thüringer Landtagsabgeordneter zu verhandeln. Wahrscheinlich würde man sich in solchen Kreisen lächerlich machen, wenn man an Artikel 53 der Thüringer Verfassung erinnern würde, in dem es – wie im Grundgesetz auch – heißt: „Die Abgeordneten sind die Vertreter aller Bürger des Landes. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich.“

Am Samstagabend sieht es nun so aus, als hätte sich die kleinste „Große Koalition“ der deutschen Nachkriegsgeschichte darauf geeinigt, wie es mit Thüringen weiter geht. Die SED-Nachfolgepartei bekommt gut 30 Jahre nach ihrer ersten Umbenennung auch von der CDU das Lupenreine-Demokraten-Gütesiegel, und alle feiern die Rettung der Demokratie.

Nur rettet man die Demokratie niemals dadurch, dass die Obrigkeit das Ergebnis einer Wahl rückabwickelt, sondern man beschädigt sie existenziell, wie auch das Vertrauen in ihr Funktionieren. Selbst dann, wenn man meint, man müsse einen Betriebsunfall korrigieren. Es mag da regelbestätigende Ausnahmen in Notfällen geben. Die versehentliche Wahl eines ausgewiesenen Liberalen zum Ministerpräsidenten eines Landes ist kein solcher Notfall.

Stattdessen riecht es eher nach Putsch, wenn sich eine Bundeskanzlerin mit dem erklärten Ziel, den Ministerpräsidenten auszuwechseln, in die Belange eines Bundeslandes einmischt. Es wäre schön, man könnte dies als eine überspannte Wahrnehmung abtun, aber parallel zum erreichten Kemmerich-Rücktritt setzt in der CDU nun die Hatz auf Abweichler ein.

Erstes Opfer war der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, der am Samstag genötigt wurde, seinen Posten umgehend zu räumen, weil er Thomas Kemmerich zur Wahl gratuliert hatte. „Frau Bundeskanzlerin Merkel hat mir in einem Gespräch mitgeteilt, dass ich nicht mehr Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Länder sein kann“, twitterte er. 

Am 15. Juni 2022 erklärte das Bundesverfassungsgericht das damalige Handeln der Bundeskanzlerin Merkel für verfassungswidrig. Doch das hatte keine Konsequenzen. Stattdessen wurde sie bald darauf mit dem höchsten Orden der Republik für ihr Wirken ausgezeichnet.

Und wie ging es im Freistaat Thüringen weiter? Den Wählern, die vor viereinhalb Jahren für einen Landtag mit einer Mehrheit aus bürgerlichen und rechten Abgeordneten gestimmt hatten, wurden die seinerzeit von allen Parteien versprochenen Neuwahlen vorenthalten. Stattdessen stützte die CDU genau die Regierung eine Legislaturperiode lang, die im September 2019 abgewählt worden war. Warum wundert sich eigentlich jemand, dass das Vertrauen in die deutsche Demokratie in dieser Zeit gelitten hat? Oder ist es besonders demokratisch, den Bürgern erst Wahlen zu versprechen und sie dann doch nicht wählen zu lassen? Und eine Entdemokratisierung des Wahlrechts zum Bundestag, wie sie die Ampel-Mehrheit im letzten Jahr beschloss, ist bei der Demokratierettung ebenfalls kontraproduktiv.

 

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

Foto: R.Letsch

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W. Renner / 05.02.2024

@Franklin Meissner, beruhigen Sie sich. Es ist eigentlich völlig Wurscht, wen Sie in TakaTuka Land wählen oder nicht wählen. Sie werden immer das Politbüro bekommen. Wenn‘s schon sein muss, wählen sie den mit der schönsten Krawatte, oder von den Quotenschnepfen, die mit dem schönsten Hintern. Nur so können sie eventuell noch einen Wahlerfolg verbuchen.

A. Ostrovsky / 05.02.2024

Ich bin untröstlich. König Charles hatte einen positiven PSA-Test. Jetzt muss er wahrscheinlich operiert werden. Prostata. Damit kann der noch 95 Jahre alt werden.

Thomin Weller / 05.02.2024

Der Umbau des Rechtsstaats und Militarisierung der Politik wurde unter der CDU durchgeführt. Siehe Sueddeutsche 19.5.2010 “Vom Umbau des Rechtsstaats in einen Präventionsstaat:Der große Rüssel. Innenminister Schäuble hat geschafft, was seinen Vorgängern nie gelungen war: Eine Grundsatzdiskussion über die Veränderungen des Rechtssystems in Deutschland. Werden seine Pläne umgesetzt, wird jeder Bürger zum Ausländer im eigenen Land…Banalisierung der Grundrechte. .. Politik hat sich von Karlsruhe abgekoppelt.” Siehe auch Rolf Gösner “Umbau des Rechtsstaats und Militarisierung der Politik”. Es sind Verfassungsfeinde die Regieren und mittels Steuergelder einen umfangreichen Terror gegen die eigene Bevölkerung führen. Robert Pfaller in der TAZ “Darum wird sich das alles, wie Jean Ziegler vor Kurzem richtig bemerkt hat, nicht durch Überzeugungsarbeit, sondern nur durch Gewalt lösen lassen.”

Xaver Huber / 05.02.2024

Sehr geehrter Herr Grimm, vielen Dank für die Erinnerung an eine politische Handlung, die ein Rechtsstaat, der seine eigenen Normen achtet, im Sinne von § 105 Strafgesetzbuch geahndet hätte. Doch schon ein ehemaliger SPD-Kanzlerkandidat intonierte: Hätte, hätte, Fahrradkette. \\\ Mit realistischeren wenn auch despektierlichen Worten: in einem selektiven Rechtsstaat ist das Schöne an der Politik ihre Beliebigkeit.

W. Renner / 05.02.2024

Ist halt die Deutsche Demokratische Republik. Auferstanden aus der Uckermark. Alle Not gilt es zu bringen und wir bringen sie vereint.

Lutz Liebezeit / 05.02.2024

“Man muß die Grenzen des Rechts übertreten, um aus Unrecht Recht zu machen.” Mao Tse-Tung / Die Haltung von (Kohl, Schröder) Merkel, Scholz ist die des Kolonialisten, der ewig unzufrieden ist und allen mit weinerlicher Stimme erzählt, sei zu kurz gekommen. Der Kolonialismus war in der BRD relativ eingedämmt durch die Erinnerung an Traditionen, alte Sitten und Gebräuche. Aber mit der EU ist er wieder aufgeflammt und zwar in gesellschaftlicher Breite. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie es so schön heißt. Man darf sich von der Propaganda nicht betören lassen. Die Leute in der Regierung und den Pressestuben vor den flimmenden Glotzkisten sind selber total unzufrieden mit ihrem Leben. Genug ist noch immer nicht genug, die verbringen ihr ganzes Leben damit, an anderen herumzunörgeln. Wären die Autoren von Stern und Focus mit ihrem Leben zufrieden, würden sie Gelassenheit austrahlen statt Abwertung und Nörgelstimmung. In der BRD befaßt man sich mit gutem Benehmen, mit der Etikette und deshalb gab es keinen Neid und alle waren zufrieden. Den Kolonialtypus erkennt man daran, daß er mehr Raum einnimmt, als ihm zusteht. Milliardenbeträge, die er an Steuern zu hinterziehen hilft, Lärm, der durch die Wände geht, Sperrmüll im Gemeinschaftskeller, stinkige Schuhe im Treppenhaus, Parken vor Nachbars garten, Müllensorgung im Graben, Klauen von Einkaufswagen, usw. Der Kolonialtypus ist ein Nörgler vor dem Herrn, will immer mehr und unser Problem. / Mit dieser Billig-Gesellschaft, die in die Kaufhäuser kanalisiert wird, an die idiotischen Smartphones und geistlosen PCs, damit wäre ich auch unzufrieden. Habecks und Scholzens Zukunftsvisionen sind die von Analphabeten.

Marc Greiner / 05.02.2024

Warum tun sie es? Weil wir es zulassen.

Detlef Rogge / 05.02.2024

Frau Merkel hat ihrem Land unendlichen Schaden zugefügt. Schlimmer noch die Union, die ihr Tun nicht unterbunden hat. Nun stehen sie da, die Hardcorekonservativen, und wissen nicht, wem sie ihre Stimme geben sollen. Wechseln zur AfD? Das ist nicht die Welt des ergrauten Establishments. Viele werden gar nicht mehr zur Wahl gehen bis ihre Uhr abgelaufen ist. Frau Merkel war eine Heimsuchung für den Konservatismus, vielleicht sein Ende.

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