Fred Viebahn / 06.12.2008 / 23:18 / 0 / Seite ausdrucken

U.S. Legislative atmet auf: Es hat sich ausgestunken im Kapitol

Seit anderthalb Jahrzehnten finde ich mich bei den erstaunlichsten Anlässen unter geladenen Ehrengästen, manchmal nur ein paar Nasenlängen von den Mächtigen der Welt entfernt; das hätte ich mir in meiner Gummersbacher Volksschule nicht träumen lassen. (In Kölner Gymnasiumszeiten träumte ich dann allerdings von der Einheirat ins englische Königshaus—wovor mich glücklicherweise das Schicksal und meine Faulheit bewahrt haben.) So kam es auch, daß ich diese Woche in Washington, D.C. zwischen einem Abgeordneten aus Indiana, dessen Name mir nichts sagte, und dem moderaten republikanischen Senator Richard Luger zu sitzen kam; Luger begrüßte mich, wie es sich für einen guten Populisten gehört, mit Augenkontakt und festem Händedruck so herzlich, als seien wir alte Freunde, während der Mann aus Indiana so tat, als ignorierte er mich, obwohl er mir von der Seite verstohlene Blicke zuwarf: Denn mit hellblauer Jacke, dunkelblauem offenem—und schlipslosem!—Hemd und meinen langen blonden Hippiehaaren spielte ich zwischen den vielen dunklen Anzügen, weißen Hemden und gedecktfarbigen Krawatten nicht gerade graue Maus—eher meine Lieblingsrolle, einen bunten Hund, und das auf einem Mittelplatz in der ersten Reihe. (Ein Zerberus, ungläubig, dieser Platz könne tatsächlich für mich reserviert sein, versuchte ihn mir kurz strittig zu machen; als ihm sein Fehltritt klar wurde, zog er die Schultern ein, ergriff verdattert meine verzeihende Hand und schlich sich von dannen.)

Die Damen und Herren Patrizier und Senatoren im U.S. Kapitol (sprich Volksrepräsentanten) können endlich aufatmen: Die Zeit des Naserümpfens über den bislang unvermeidlichen Schweißgeruch des Besucherplebs, den der derzeitige Mehrheitsboß im Senat, Harry Reid, bereits in den sechziger Jahren wahrnahm, als sich der damalige Jurastudent ein Zubrot als Kapitolspolizist verdiente, ist ein für allemal vorbei. Von nun an dürfen die Massen in einem riesigen klimatisierten Luxuscorral der Führungen harren, statt draußen stundenlang Schlange stehen zu müssen, während ihnen im Sommer die Sonne auf den Buckel knallte und im Wintermatsch die Zehen abfroren, und plärrende Blagen brauchen sich auch nicht mehr aus Mangel an Toiletten in die Hosen zu machen.

Der US-Kongreß hat sich mit Steuergeldern nicht lumpen lassen bei der Errichtung dieser Antichambre für die Menschen aus aller Welt, die sich anschauen wollen, wie die größte und nach der Schweiz älteste Demokratie unserer nachchristlichen Zeitrechnung so ihre Gesetze fabriziert. Vor einem Jahrzehnt ging’s ernsthaft los mit der Planung, vor acht Jahren wurde der Grundstein gelegt, und seit 2002 wurde vor und unter dem Kapitol auf Teufel komm raus gebuddelt. Der Etat explodierte in der Zeit von erst etwa 70 auf 200 bis 300 Millionen, um nun schließlich, beim um vier Jahre verspäteten Finale, den Steuerzahlern mit 621 Millionen Dollar zu Buche zu schlagen. Seit Anfang Dezember bieten die fünfzigtausend Quadratmeter des U.S. Capitol Visitor Center den jährlichen Besuchermillionen ein unterirdisches Dach über dem Kopf; hier können sie sich in der imposanten Emancipation Hall versammeln, die trotz ihrer unterirdischen Lage durch zwei riesige Skylights, die von ungewöhnlicher Perspektive einen fantastischen Blick hinauf auf die Kapitolskuppel bieten, von Tageslicht durchflutet wird. Daran schließt sich eine dämmerige Ausstellungshalle an, in der die Geschichte der amerikanischen Demokratie ziemlich spannend und ohne penetrante Beschönigungen anhand von Modellen und Replikas, interaktiven Bildschirmen und einigen originalen Hinterglas-Artifakten chronologische Konturen gewinnt. (Bei den Replikas wird Anfassen ermutigt, während Fotografieren auch ohne Blitz unverständlicherweise strengstens verboten ist.) Dazwischen kann man sich nach Herzenslust aufs Klo setzen, zu Mittag speisen, Souvenirs einkaufen und auf riesiger Leinwand eine in mehrfachem Sinne des Wortes brilliante Filmdokumentation anschauen, die in atemberaubendem Tempo, nämlich in dreizehn Minuten, durch die Highlights der repräsentativen Demokratie wirbelt. Und wer dann noch Bock auf den eigentlichen Tempel der Volksvertretermacht hat, kann sich wohltemperiert einer Führung durchs Realkapitol anschließen; kostenlose Kartenvorbestellung ist empfohlen.

Harry Reid, seit über zwei Jahrzehnten demokratischer Senator des Bundesstaates Nevada und leibhaftiger Beweis, daß Mormonen nicht unbedingt konservativ sind, erzählte seine Anekdote über den früher durch die Flure der Macht wabernden Geruch verschwitzter Touristen während der feierlichen Eröffnungszeremonie, die vom regierungsnahen, quasi-offiziellen Kabelfernsehsender C-Span übertragen wurde. Obwohl er sie witzig und ohne Dünkel vortrug und damit bei den fünfhundert geladenen Gästen gutmütiges Gelächter auslöste, wurde die Geschichte gleich von den Halbwahrheitsberichterstattern einiger Medien so ausgeschlachtet, als habe Reid sich unverschämterweise über seine Wähler lustig gemacht. Kein Wunder, daß sich so viele Politiker aus Angst vor Wortverdrehungen hinter lahmen und langweiligen Phrasen verschanzen.

Außer Reid erfüllten zwischen militärischer Flaggenpräsentation, der United States Marine Band mit der unverzichtbaren Nationalhymne und einem Chor auf dem Podium sieben weitere Redner ihre patriotische Pflicht: Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses (und damit nach Präsident und Vizepräsident in der drittranghöchsten politischen Position der U.S.A.), die beiden “Republican Minority Leaders” in Senat und “House”, der Repräsentantenhaus-Pfarrer für die Invokation und der Senatsgeistliche für die Abschlußsegnung (eine etwas bizarre Tradition im Land der konstitutionellen Trennung von Kirche und Staat), Kongreßbibliothekar James Billington als Chefintellektueller des Landes—und der Grund meines bevorzugten Sitzplatzes, meine Frau, die ihr inzwischen legendäres Gedicht über Lady Freedom, die Statue auf der Kapitolskuppel, las. Das originalgetreue Gipsmodell aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist nun das Prachtstück in der Emanzipationshalle, womit die beiden materialverschiedenen, aber sonst identischen Freiheitsdamen sowohl die höchste wie die niedrigste Stelle am Sitz der amerikanischen Legislative einnehmen.

Ironischerweise verdankte ich demselben Gedicht, und damit sowohl meiner Frau als auch Lady Freedom, meinen allerersten privilegierten Platz in den höheren Rängen meiner amerikanischen Wahlheimat. Im Herbst 1993, kurz nach Ritas Berufung zum “Poet Laureate of the United States”, las sie es vor etwa dreißigtausend Menschen (und live über CNN) bei der Zweihundertjahrfeier der Grundsteinlegung des Kapitolsgebäudes. Auf dem Festpodium saß sie neben dem damaligen Vizepräsidenten Al Gore, und man hatte auch mir auf der Bühne einen Platz reserviert, allerdings in der zweiten Reihe, umgeben von mehreren inzwischen vergessenen Volksrepräsentanten, die meine unkonventionelle Erscheinung (die langen Haare, den schlipslosen Kragen) offensichtlich beargwöhnten. Beim lebhaften Frühstücksempfang vor der Zeremonie hatte allerdings ein Politiker nicht den geringsten Argwohn gezeigt: Bill Clinton; der frischbackene Präsident, wie immer ein Bündel an Aufmerksamkeit, hatte bemerkt, daß ich etwas abseits stand, während er sich mit Rita unterhielt (auch bei Lyrik kann der Mann mithalten), und war sich nicht zu schade, zwei Schritte zu tun, um mir die Hand auf die Schulter zu legen und mich in die Unterhaltung einzubeziehen.

Schon erstaunlich, wie häufig mir Poesie—und nichtmal meine eigene—zu Vorzugsplätzen verholfen hat, ohne daß ich danach drängelte. So saß ich kürzlich bei einer Konferenz in Nigeria in der ersten Reihe neben dem König von Lagos und verteidigte resolut, doch ohne peinliche Konfrontation, meinen persönlichen Raum gegen Zepter und wallende Gewänder. Aber das ist eine andere Geschichte, die noch meiner Cyberfeder harrt. Für heute belasse ich es bei einer Empfehlung: Wer Washington, D.C. besucht, sollte sich die neueste Attraktion der amerikanischen Hauptstadt nicht entgehen lassen: das U.S. Capitol Visitor Center. Im Gegensatz zu pfennigfuchsenden amerikanischen Staatsbürgern haben deutsche Besucher hier ja keinen Anlaß zur Aufregung über die Verschwendung von Steuergeldern, sondern können einfach die Pracht genießen—so wie in Versailles oder Windsor Castle oder Schloß Schönbrunn. Obwohl—ganz so grandios wie Windsor Castle oder Schloß Schönbrunn oder Versailles ist dieser Volkstempel nicht. Dafür demokratischer, wollen wir hoffen. Auch wenn kurz nach dem Ende der Eröffnungsfeier eine Journalistin der Washington Post, die mit ihrer Videokamera innerhalb des Gebäudes Besucher nach ersten Eindrücken fragte, von einem übereifrigen Kapitolspolizisten gezwungen wurde, ihre Aufnahmen zu löschen. Warum sie sich das gefallen ließ, ohne gleich Krach zu schlagen, ist eine andere Frage. Ein Polizeisprecher entschuldigte sich später gegenüber der Zeitung für die Machtanmaßung unter den Augen von Lady Freedom. Naja, es war ja nur das Gipsmodell…

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