Orit Arfa, Gastautorin / 27.07.2023 / 10:00 / 35 / Seite ausdrucken

Stirbt Israels Demokratie?

Die Gegner der Justizreform fürchten, dass die Demokratie in Israel einen langsamen Tod stirbt. Dabei geht es darum, die übermäßige Macht des Obersten Gerichtshofs einzudämmen. Überlegungen anlässlich des Tisha B'Av, des jüdischen Trauertages.

Am Mittwochabend, dem 26. Juli, haben Juden in aller Welt den Feiertag Tisha B'Av eingeläutet, der an die Zerstörung – den „Chorban“ חורבן – der beiden heiligen Tempel in Jerusalem und die jüdischen Tragödien – Vertreibungen und Ausrottungen – erinnert, die über die Jahrhunderte hinweg überall auf der Welt folgten. Es ist ein Tag des Fastens und Trauerns.

Heute trauern in Israel viele, die sonst an Tisha B'Av (auch Fastentag, Anm. d. Redaktion) essen würden, über das, was sie für den langsamen Tod der Demokratie in Israel halten. Am Montagabend verabschiedete die Knesset einen kleinen Teil des Justizreformpakets, das die Richter des Obersten Gerichtshofs daran hindern würde, sich auf den subjektiven Standard der „Angemessenheit“ zu berufen, um Gesetze aufzuheben. Die Gegner der Justizreform, zumeist säkulare liberale Israelis, sahen darin den Beginn einer „Chorban“-Zerstörung.

Vor achtzehn Jahren um diese Zeit fastete ich zum ersten Mal seit Jahren, als ich die Strandstraßen von Gush Katif, dem religiös-zionistischen Siedlungsblock im Gazastreifen, entlanglief und gegen Ariel Sharons „Disengagement“-Plan kämpfte. Als säkulare Liberale gehörte ich damals zu den wenigen Frauen, die enge Jeans statt eines langen Rocks trugen. Die Belagerung von Gush Katif durch die israelische Armee fiel auf den Feiertag Tisha B'Av. In diesem Moment fühlte ich mich auf ungewöhnliche Weise mit der traurigen Geschichte meines Volkes und diesen frommen Juden verbunden.

Eine Reform wäre durchaus sinnvoll

Der Widerstand gegen den Rückzug war nicht annähernd so organisiert wie der gegen die israelische Justizreform. Sie veranstaltete Volkskundgebungen und Tür-zu-Tür-Kampagnen, aber wie sich herausstellte, gelang es den Gush-Katif-Befürwortern nicht, die Herzen und Köpfe der durchschnittlichen Israelis zu erobern. Die Bewohner von Gush Katif wurden als Extremisten, messianische „Siedler“ und Feinde der Demokratie delegitimiert. Ich musste die Medienpropaganda durchforsten, um ihre rationalen, rechtlichen und moralischen Argumente für den Verbleib in Gaza zu vernehmen. Ich wusste, dass ich zwei Wochen vor dem Rückzug nach Gush Katif fahren musste, um herauszufinden, ob ein Verbleib wirklich eine Gefahr für Israel darstellen würde. Eine Handvoll Gaza-Kriege später wissen die meisten Israelis heute, dass der Abzug die Chancen auf Frieden nicht verbessert hat.

Was die Debatte über die Justizreform angeht, so habe ich mich wieder einmal dabei ertappt, wie ich die Propaganda durchforstet habe, um herauszufinden, worum es eigentlich geht. Die Skepsis, die ich während des „Disengagement“ entwickelt habe, lässt mich nicht mehr Slogans glauben wie: „das Ende der Demokratie“, „der Beginn der Theokratie“. Soweit ich verstanden habe, wollen die Befürworter der Justizreform einen Obersten Gerichtshof eindämmen, dessen übermäßige Autorität in der westlichen Welt beispiellos ist.

In den 1990er Jahren führte der liberale Oberste Richter Aharon Barak seine eigene „Justizreform“ ein, um die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zu erweitern. Sie ermöglichte es dem Gericht, jeden Fall zu verhandeln, auch wenn die Kläger nicht klageberechtigt sind, die Richter von einer Richtergruppe und nicht von einem gewählten Gremium ausgewählt werden, die Tätigkeit des Premierministers und des Kabinetts eingeschränkt wird und Gesetze auf der Grundlage des „Angemessenheitsstandards“ aufgehoben werden. Die Verfasser der aktuellen Reform argumentieren, dass sie die Macht der beiden Regierungszweige wiederherstellen wollen, die direkter an den Willen des Volkes gebunden sind.

Die Befürchtungen teile ich nicht

In Wahrheit fürchten einige Israelis aufrichtig, dass die Ermächtigung einer rechtsgerichteten, religiösen Regierung ihre Rechte und die Rechte von Minderheiten bedrohen würde. Sie befürchten, dass die religiösen Gesetzgeber ohne einen liberalen Gerichtshof, der ihnen Einhalt gebietet, die Halacha (religiöses jüdisches Recht) als Leitfaden für die Regierungsführung verwenden würden und nicht die westlichen demokratischen Grundsätze. Könnte die Mehrheitsregierung nun landesweit koscheres Essen durchsetzen? Die Ultra-Orthodoxen weiter ermächtigen, staatliche Subventionen zu erhalten, anstatt zu arbeiten? Die Rechte von Arabern, der LGBT-Gemeinschaft und sogar von Frauen einschränken?

Ich teile diese Befürchtungen nicht, denn die Befürworter der Justizreform, die ich kenne, sind leidenschaftliche Verfechter der bürgerlichen Freiheiten. Sie lehnen weltlichen und religiösen Zwang gleichermaßen ab. Sollte zudem eine linke Regierung an die Macht kommen, würden diese Reformen auch für sie gelten und das Pendel in die andere Richtung ausschlagen.

Hätte eine linke Regierung ähnliche Reformen vorgeschlagen, bezweifle ich, dass es zu den massiven Eingriffen in das israelische Leben gekommen wäre, die die „Rechte“ so vieler Menschen tatsächlich beschnitten haben. Die extremen Methoden, die von den Demonstranten angewandt und beklatscht wurden – die vorübergehende Stilllegung der Wirtschaft und die Verweigerung des Militärdienstes – haben mir gezeigt, dass die „Rechte“ des Einzelnen und die israelische Lebensqualität vielleicht nicht ihre einzige Sorge sind. Die Mittel entsprechen oft den Zielen. Ein alltägliches Beispiel: Vor Monaten wurde die Kita der Zwillinge meiner Freundin im Rahmen eines Generalstreiks aus Protest gegen die Reform geschlossen. Als alleinerziehende Mutter musste sie mit ihren beiden 5-Jährigen zu Hause bleiben, wie zu Corona-Zeiten. So viel zum „Recht“ der Frau auf Arbeit.

Vor achtzehn Jahren kämpften diejenigen, die im Sand von Gush Katif standen, nicht gegen eine hypothetische Situation. Wir kämpften nicht gegen die Angst, Israel könnte sich in eine Diktatur verwandeln. Wir kämpften gegen die tatsächliche, brutale Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern und von ihren Arbeitsplätzen, gegen die all die Zwangsräumungen von Mietwohnungen in meinem Berliner Kiez wegen „Eigenbedarfs“ wie ein Spaziergang aussehen. Wir kämpften gegen die begründete und inzwischen bestätigte Erwartung, dass die Hamas den Gazastreifen übernehmen und dann Sderot innerhalb weniger Tage mit Raketen beschießen würde.

Wandel nur durch Debatte, nicht durch Revolution

Meine neuen „Siedler“-Freunde und ich waren traurig und verwirrt, als wir nach Tel Aviv zurückkehrten und auf eine apathische Menge trafen, die unseren Verlust nicht verstehen konnte – oder ihn sogar bejubelte. Aber irgendwann wurde uns klar: Wir haben verloren. Wir mussten trauern, aber dann mussten wir wieder aufbauen. Wir mussten aus unseren Fehlern lernen und die Realität akzeptieren. Wenn wir eine Veränderung wollten, musste sie langsam und stetig vonstatten gehen. (Ich persönlich habe acht Jahre damit verbracht, einen Roman zu schreiben, in dem ich meine Erfahrungen verarbeitet habe: „The Settler“)

Die einst verhassten „Siedler“ und ihre Sympathisanten machten sich an die Arbeit. Sie begannen, sich in die israelische Gesellschaft zu integrieren und den Durchschnittsisraelis zu zeigen, dass sie keine „Hörner“ haben, dass sie eine vielfältige Gruppe sind und dass ihnen die Demokratie genauso wichtig ist wie den Liberalen – vielleicht sogar noch wichtiger. Denn auch sie fürchten, ein Grundrecht zu verlieren: die Freiheit der Religionsausübung. 

Es hat achtzehn Jahre gedauert, bis das rechte, nationalistische Lager in Israel einen bedeutenden politischen Sieg erringen konnte. Sie gewannen eine Wahl und erließen ein entsprechendes Gesetz. Das Markenzeichen der Demokratie ist, dass die Menschen ihre Differenzen nicht kämpfend und schreiend auf der Straße austragen. Sie nutzen Vernunft, Argumente und vor allem ... Wahlen.

Die Gegner der Justizreform sollten verstehen, was wir vor 18 Jahren an jenem heißen, traurigen Sommertag verinnerlicht haben: Der Wandel in Israel – oder in jedem anderen Land – wird nicht durch eine schnelle, kämpferische Revolution herbeigeführt. Er muss durch Debatten erreicht werden, ohne die andere Seite zu delegitimieren; durch gegenseitiges, aufrichtiges und ehrliches Kennenlernen; und durch harte, friedliche und glückliche Arbeit im Rahmen der Realität.

Und so können wir den Tempel wieder aufbauen.

 

Orit Arfa, geb. in Los Angeles, schreibt regelmäßig für die Jerusalem Post, das Jewish Journal of Los Angeles und den Jewish News Service. Ihr zweites Buch, „Underskin“, handelt von einer deutsch-jüdischen Liebesgeschichte.

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Leserpost

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Ulrich Schily / 27.07.2023

Gut dass Sie dazu schreiben.  Bewahren Sie Ihren Mut und die Zuversicht.  Mir fiel gerade erst zu Ihrem Text noch ein Buchtitel ein, und ich habe ihn auch in meinem Schrank wiederentdeckt, es heißt: Der schmale Grat der Freiheit.  Dazu braucht es Mut, Daneben stand das Büchlein: jüdische Witze. Mit freundlichen Grüßen

MarcusCato / 27.07.2023

Das ist eine Gratwanderung, die man allein mit Gesetzestexten nicht bestehen kann. Die Angemessenheit ist bei Gesetzen, die die Freiheiten der Bürger einschränken, durchaus ein relevanter wenngleich subjektiver Maßstab. Grundsätzlich ist nur der Text der Verfassung relevant. Wenn Richter meinen auf einer Mission zu sein (für Merkel, für die Rettung des transzendenten Klimawesens, für die Volksgesundheit, ...), werden Rechtsstaat und Demokratie zerstört und ein Richterstaat installiert. Darauf kann der Gesetzgeber nur reagieren, indem er die Gerichte in die Schranken der Gesetzestexte verweist. Die Organe der Exelutive und der Legislative sind unsere Diener und dürfen keine eigenen Missionen verfolgen - das darf nur der gewählte Gesetzgeber im Auftrag des Souveräns. Macht er es nicht in unserem Sinne, wird er entlassen.

Peter Zinga / 27.07.2023

Ein solches Gesetz würden wir in Tschechien unbedingt brauchen…Nur: derzeitige Regierung regiert nur durch eines Fragwürdigen Entscheidungs des Verfasungsgericht…welcher mit dieser Entscheidung eigene ehemalige Position negierte. Wir leben in einer Richterkratie…

Lutz Liebezeit / 27.07.2023

Mit Demokratie die Demokratie besiegen. Und manchmal kommt jemand uind sagt das. Das wird seit der Antik so gemacht. Die Demokratie ist keine Erfolgsgeschichte, die höhlt sich ganz schnell aus, das ist der Mensch, in seinem Wahn, der immer zuwenig hat.

Lutz Liebezeit / 27.07.2023

Die israelische Demokratie stirbt mit allen anderen Demokratien einen schleichenden Tod. Demokratische Prozesse im Sinne der Regierung zu “vereinfachen” und rechtliche Bedenkenträger einfach auzurangieren, zeugt nicht wirklich von einem freiheitlichen und demokratischen Geist. Debattieren war gestern. Wo die Überzeugungskraft nicht reicht, gibt es keine Alternative. Oder man einigt sich auf den neuen Begriff der Rechthaberdemokratie des Stärkeren. Basta!

Hans-Peter Dollhopf / 27.07.2023

Neuhebräisch wird in Schrift von rechts nach links gelesen: <-, vollkommen unabhängig von Gesagtem; ebenso gilt im israelischen Straßenverkehr: rechts vor links. Die Idee des Zionismus war mir in meiner 3. Sozialisation als Linker in Jugendjahren Teufelswerk. In jenen Jahren hatte ich weder ihn noch die Idee des Völkerrechts überhaupt je begriffen. Unsere zeitgenössische Welt ist ein Resultat allegorischer Explosion von Entwicklung und Fortschritt menschhaftlicher Tiere. Nie war eine Art so etwas ... Besonderes - phänotypische Krönung in Möglichkeit aus dem Stammbaum aller DNS tatsächlich! Das Denken der jüdischen Bibel therapiert vor allem und zuerst dessen als furchtbar erlebbare Schattenseite. Die des mitleidlosesten Verlassenwordenseins, vom Vater und dem Schutz und Trost durch seine Rechte. Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

M.Müller / 27.07.2023

Die derzeitige Regierung hat diese Axt an das Kontrollgremium eben ohne Rücksicht auf gesellschaftlichen Konsenz durchgepeitscht. Erst beim Heizungsgesetz hat man gesehen, wie wichtig ein Korrektiv in der Demokratie ist.

Wilfried Cremer / 27.07.2023

Liebe Frau Arfa, man muss das Positive sehen, Israel hat nicht den Klimawahn, und das bedeutet, dass es in der Seele überlebt, im Gegensatz zu Deutschland, von dem nur die Sprache vorerst weiterlebt. Von himmlischen Belebungen mal abgesehen.

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