Gunnar Heinsohn / 23.06.2020 / 14:00 / Foto: 3268zauber / 44 / Seite ausdrucken

Seattle und Stuttgart – Steinewerfer kommen, Tüftler gehen

Von den besonders streng gesiebten PCT-Patentanmeldungen der fünf Top-Nationen des Jahres 2019 erlangen die USA 28 Prozent (rund 58.000 von 208.000). Auf die drei Ostasiaten im Quintett – China, Japan und Südkorea – entfallen 63 Prozent. Die verbleibenden 9 Prozent gehen nach Deutschland

Nur ein Vierteljahrhundert zuvor, im Jahr 1994, liegt der Anteil der USA unter denselben fünf Nationen noch bei 68 Prozent. Die drei Ostasiaten müssen sich mit weniger als 12 Prozent begnügen, während Deutschland mit 20 Prozent prunken kann.

Francis Fukuyama (*1952) darf sich damals glänzend bestätigt sehen. 1992 publiziert er The End of History and the Last Man. Zwei Jahre später scheinen gerade Amerika und Deutschland zu beweisen, dass westliche Nationen in der Tat nicht nur demokratisch, sondern auch ökonomisch immer vorne liegen müssen.

Wer hätte vorausgesehen, dass man im Jahr 2020 das Herz von Seattle, ein amerikanisches Stuttgart, besetzt und demoliert, während das Zentrum seines deutschen Gegenstücks gegen Plünderung und Gewalt kaum verteidigt wird

Wo liegt der Fehler im Zukunftsmodell des philosophischen Optimismus? Der Schutz von Leben, Eigentum und Freiheit – die 1689er Formel von John Locke (1632–1704) – bildet immer noch die Voraussetzung für zivilisatorischen Vorsprung. Zusätzlich jedoch operiert man mit einer Annahme, die als so selbstverständlich gilt, dass sie gar nicht erst ausgesprochen wird. Es geht um das globale Einheitskind. Überall werde es zu einer gleich qualifizierten Arbeitskraft heranwachsen, wenn der zeitliche und finanzielle Einsatz für seine Erziehung ähnlich hoch ausfällt.

Die wichtigste ökonomische Ressource – also die für Hightech unverzichtbare mathematische Kompetenz – werde bei entsprechenden Bildungsausgaben stetig zunehmen und damit wirtschaftliches Wachstum weltweit ermöglichen. Diese Annahme konnte empirisch niemals belegt werden. Es handelt sich mithin um ein Dogma, das allerdings so liebenswert und hoffnungsvoll anmutet, dass wohl fast jeder es teilen möchte. Realiter gibt es – gemäß dem Schülervergleich TIMSS von 2015 – über 160 Nationen, die mit weniger als zehn mathematischen Begabungen unter 1.000 Kindern auskommen müssen, während es bei den Europäiden 20 bis 200 und bei den ostasiatischen Spitzenreitern sogar 300 bis 500 sind.

 

Da man nicht umstandslos lernen kann, ein Mathe-Ass zu sein, geht es fast nirgendwo nach oben, aber vielerorts nach unten. Klagen kommen gerade aus willkommensfrohen Ländern. So sackt etwa Frankreichs Nachwuchs bei TIMSS zwischen 1995 und 2015 vom 13. auf den 35. Platz. Deutschland nimmt erst ab 2007 teil und rutscht bis 2015 vom 11. auf den 24. Platz, obwohl seine Bildungsausgaben gleichzeitig von 92 auf 124 Milliarden Euro zulegen. 

Nun ist Schwarzseherei ein schlechter Ratgeber. Wer ihr erfolgreich widersprechen will, muss allerdings Faktoren angeben, die eine Wende wahrscheinlich machen. Schauen wir auf Amerika, so fällt es bei PISA-Mathematik zwischen 2000 und 2018 vom 18. auf den 37. Platz weltweit.  Boeing – neben Amazon, Cray, Microsoft und Starbucks die berühmteste Firma in Greater Seattle – beginnt schon 2001 seine Flucht aus der progressiven Stadt. Chinesische Studenten, die Anfang der 1990er Jahre zu rund 85 Prozent in den USA blieben und dort die Ränge der Ingenieure und Naturwissenschaftler verstärkten, wollen mittlerweile im selben Prozentsatz zurück in die Heimat.

Wie sieht es für Stuttgart aus? Das von dort regierte Baden-Württemberg fällt beim innerdeutschen Bildungsmonitor vom zweiten Platz im Jahr 2004 auf den sechsten im Jahr 2019. Woher sollen in Zukunft die Tüftler kommen? Wer wird eine Alternative für Mercedes errichten, wenn der Riese nicht nur taumelt, sondern am Boden bleibt? Schon jetzt werden Modelle eingestellt, und den Löwenanteil von 15.000 zu Entlassenden sollen Deutsche stellen.  Wer wird im nahen Gerlingen Bosch – 2019 die letzte deutsche Firma unter den global zehn innovativsten – auch 2030 noch in dieser Liga halten? 

Kein „rechter“ US-Zoll auf chinesische Waren macht den US-Nachwuchs gescheiter. Kein zerbrochenes Schaufenster in Deutschlands „links“ geführten Metropolen verwandelt die Steinewerfer in Erfinder. Selbst hitzigste politische Richtungskämpfe vermögen so gut wie nichts gegen nationalen Kompetenzverlust. Auch nach Trumps Fall kehrt Amerikas Schutz für Europa nicht zurück. Dafür dürfte in seiner Heimat die Einsicht wachsen, dass die auch für diesen Präsidenten unlösbaren Probleme seinen Nachfolger ebenfalls in die Knie zwingen werden.

 

Gunnar Heinsohn (*1943), Emeritus der Universität Bremen, lehrte von 2011 bis 2020 Kriegsdemographie am NATO Defense College in Rom. In „Wettkampf um die Klugen“ (Zürich 2019) hat er eine globale Kompetenzprognose bis in die 2030er Jahre vorgelegt.

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Friedrich Neureich / 23.06.2020

“Wettkampf um die Klugen?” Das ist nicht einmal ein guter Witz. Der Westen ist entbrannt in Liebe zum Mittelmaß; ich habe der Wissenschaft (MINT) vor 15 Jahren den Rücken gekehrt, weil ich das Prinzip “alle Leistungen werden als gleich betrachtet, und Erstautor wird, wer mit dem Chef zusammen besoffen war” nicht mehr ertragen konnte. Fähige Leute werden schnellsten kaltgestellt, um der Kontaktpflegeelite (Dr. Hlmut Kohl: “Können muss nicht sein, kennen muss sein”) nicht im Weg zu stehen.

Claudius Pappe / 23.06.2020

Beim Fußballverein Schalke 04 sitzt ein EX-Stasi und Spion, der Westdeutschland ausspioniert hat,  im Aufsichtsrat. Nach der Wende war er bei der Dresdner Bank.

HaJo Wolf / 23.06.2020

Es gibt sie noch, einige wenige, diese Tüftler. Solche Typen bringen dann sowas wie den DFR (Dual Fluid Reaktor), ein sehr erfolgversprechendes Konzept für preiswerte, sichere und absolut umweltfreundliche Energie. Werden sie vom Staat unterstützt? Wird ihre bahnbrechende Arbeit gefördert? Natürlich nicht. Statt dessen werden Milliarden in eine “Energiewende” gesteckt, die nachweislich vergeudet sind. Was um alles in der Welt sollte einen Tüftler noch hier halten? Das Chaos ist auf dem Vormarsch, linke und grüne Terroristen pflügen durchs Land und metzeln alles nieder, was nach Freiheit und Marktwirtschaft riecht. Niemand stellt sich ihnen entgegen, erst recht nicht, seit sie unter dem Schutz der Erzsozialistin Merkel stehen.

K. Schmidt / 23.06.2020

Sie, Herr Heinsohn,  erklären diese statischen Entwicklungen und Zusammenhänge einem sehr kleinen Publikum. Die schwäbische Grünenwählerin in Stuttgart oder sonstwo mag aber gar keine Mathematik oder Statistik oder sonstwas Kompliziertes. Die schwätzt lieber im Kirchenkreis von den Glücksmomenten der “Flüchtlings"betreuung und oder von der Angst vor der Klimakatastrophe. Läuft auch so in den Parlamenten. In der Politik hat man sich Realität der Innovationsfähigkeit und bildungspolitischer Verantwortung verabschiedet. Die schwätzen sich Begrriffe um die Ohren, die sie nicht mal ansatzweise verstehen, Wasserstoff-Wirtschaft, Digitalisierung… In Amerika gibt es wenigstens noch eine gewisse Vernunft auf dem Land, nicht dagegen bei uns im Schwabenland oder in Oberbayern.

Peer Munk / 23.06.2020

@ D. Schmidt: Soweit ich weiss, kennt man in der Welt nicht nur den Frankfurter Flughafen, sondern auch den BER… Im übrigen finde ich nicht,dass “die Menschen” nichts gelernt haben. Es gibt Unterschiede. Wieso die westliche moderne Zivilisation trotz zahlreicher Errungenschaften sich gerade selbst zerlegt, ist eine andere Frage.

Reinhart Max / 23.06.2020

Der Artikel ist entspricht der Geisteshaltung der Generation des Author‘s. Fortschritt durch Wissen und Bildung, und Erfolg bedeutet Arbeit und Leistung ein Leben lang. Diese Haltung gibt es nicht mehr. Jede folgende Generation musste sich etwas weniger für ein gutes Leben anstrengen. Die Generation heute, bekommt alles ohne Gegenleistung. Warum sollte sie dann Leistung erbringen ? Zu meiner Zeit hieß es immer, es ist noch kein Mathe Ass vom Himmel gefallen. Technik verlangt Mathematik, Physik, Chemie und manch anderes. Am Anfang nicht leicht, aber wenn man sich anstrengt und beginnt zu verstehen wie Dinge funktionieren, war es für mich immer eine Faszination, auch heute noch, mich darin fortzubilden. Aber wer in der Jugend dieser Hürde nicht ausgesetzt, nicht geführt, a bissl gezwungen vielleicht, sich in der Pflicht sieht zu leisten. Wie soll das dann im Erwachsenenalter passieren ? Auch der Mensch ist kein Perpetomobile, weder körperlich noch geistig. Leider wird das nie bedacht. Und der Treibstoff Wissen, muss es „verbrannt“ werden, um seine Wirkung zu entfalten. Wobei mir da der Gedanke kommt, vielleicht ist deshalb die Grüne Jugend so doof, weil sie eben gar nichts verbrennen wollen.

Markus Kranz / 23.06.2020

Ich habe nen gut bezahlten Job in Köln abgelehnt. Gleichzeitig habe ich schon öfters geschaut, ob es nicht vielleicht Biotechnologie Stellen in Polen oder der Tschechei gibt. Und weibliche Ingenieure/Biotechnologen haben mit Sicherheit noch weniger Bock auf desintegrierte Staaten.

giesemann gerhard / 23.06.2020

@Roland Sterzel: Habe Ihren Kommentar erst jetzt gelesen, stimmt alles, was Sie schreiben.

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