Chaim Noll / 13.06.2022 / 12:00 / Foto: Pixabay / 94 / Seite ausdrucken

„Sammelbeobachtungs-Objekt“ sind wir alle

Während eines äußeren Krieges schafft die Bundesregierung neue innere Feinde. In einem Augenblick zunehmender Gereiztheit und Verzweiflung wäre es Aufgabe des Staates, sich als Mediator zwischen die verfeindeten Gruppen zu stellen. Doch er hat offenbar wenig Interesse an innerem Frieden, im Gegenteil.

Seit gut drei Monaten ist Krieg in Europa. Dazu hohe Inflation. Eine unsichere Energie-Versorgung, um es milde zu sagen. Besonders in Deutschland, wo man bewährte Quellen demoliert und sich fast vollständig von Sibiriens fernen Schätzen abhängig gemacht hat. Die Stimmung, lese ich in deutschen Medien, sei auf dem Tiefpunkt angelangt, die Zuversicht weitgehend dahin. Eine etablierte Panik-Kultur, angefacht von schattenhaften Profiteuren, droht mit neuen Pandemien. Oder gleich mit dem Atomkrieg. Die große Gereiztheit zwischen den einzelnen Gruppen hat einen Grad erreicht, dass jeder Diskurs, jede Diskussion ins Toxische umzukippen droht.

In einem solchen Augenblick zunehmender Gereiztheit und Verzweiflung wäre es Aufgabe des Staates, die Atmosphäre zu entspannen und sich als Mediator zwischen die verfeindeten Gruppen zu stellen. Doch der Staat hat offenbar wenig Interesse an innerem Frieden und konstruktivem Miteinander: Er hetzt die ohnehin Gereizten aufeinander und erfindet neue Feinde.

„Das Bundesamt für Verfassungsschutz“, kann man neuerdings auf dessen Website lesen, „hat daher einen neuen Phänomenbereich 'Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates' eingerichtet. Innerhalb dieses Bereichs wurde ein bundesweites Sammelbeobachtungsobjekt 'Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates' eingerichtet, dem die diesbezüglich relevanten Akteure zugeordnet und nachrichtendienstlich bearbeitet werden. Das Sammelbeobachtungsobjekt ermöglicht sowohl eine Bearbeitung als Verdachtsfall als auch als erwiesen extremistische Bestrebung.“

Das neu erklärte Feindbild des Amtes für Verfassungsschutz

Mit anderen Worten: Ein neuer innerer Feind wird benannt, der „Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Deligitimierung des Staates“, dessen „Akteure“ von nun an „nachrichtendienstlich bearbeitet“, also überwacht und gegebenenfalls verfolgt werden müssen. Angesichts der vielen Fragen, die das neu erklärte Feindbild des Amtes für Verfassungsschutz aufwirft, gab es eine parlamentarische Anfrage im Bundestag, leider nur von einer einzigen Partei. Nein, nicht von der freiheitsliebenden FDP, der christlichen Werten verpflichteten CDU, der gegen staatliche Übergriffe empfindlichen Linken oder von den gegen Überwachung allergischen Grünen, sondern von der, die ganz rechts außen sitzen muss und mit der niemand zu tun haben will. Diese Partei, der ich sonst in letzter Zeit nicht viel Positives abgewinnen konnte, hat damit, wie die Dinge stehen, erneut ihre Unverzichtbarkeit demonstriert. Ihre Anfrage zielte auf den Punkt, wer oder was denn nun eigentlich die künftig neu zu Überwachenden seien.

Dazu gab es Antwort vom zuständigen Bundesministerium Inneres und Heimat am 22.2.2022 (Antwort hib 76/2022):

„Phänomenologisch werden damit laut Bundesregierung solche Bestrebungen erfasst, die durch die systematische Verunglimpfung und Verächtlichmachung des auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung basierenden Staates und seiner Institutionen beziehungsweise Repräsentanten geeignet sind, das Vertrauen der Bevölkerung in diese Grundordnung zu erschüttern.“

Wer erinnert sich? In der DDR regelte solche „Bestrebungen“ der Paragraph 220 des Strafgesetzbuches, der fast identisch klingt. Was im vereinten Deutschland noch fehlt, ist die Auflistung der strafrechtlichen Maßnahmen:

„Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“

Solange noch Fragen gestellt werden dürfen

Mein Bruder, damals eben approbierter Arzt, sollte, wie ich später aus meiner Stasi-Akte erfuhr, wegen dieses Paragraphen, im Volksmund „öffentliche Herabwürdigung“ genannt, verhaftet werden, weil er mir, der ich schon glücklich im Westen war, in Telefonaten innerhalb der Stadt Berlin Einzelheiten über seinen Ausreiseantrag mitteilte. Der eigentlich legal war. Von seiner Verhaftung wurde im letzten Augenblick abgesehen (man schob ihn stattdessen in Eile in den Westen ab), weil ich auf Rat von West-Berliner Freunden am Telefon ankündigte, mich im Fall seines Verschwindens an die Bild-Zeitung zu wenden. Seit damals besteht mein – inzwischen vielleicht naiver – Glaube an die Macht der Öffentlichkeit. Und seit damals versuche ich, bei undurchsichtigen Maßnahmen des Staates Protest anzumelden, wenigstens Fragen zu stellen.

Also solange noch Fragen gestellt werden dürfen, wäre hier meine erste: Was ist ein „Sammelbeobachtungsobjekt“? Ich halte mich nicht bei den sprachlichen Zumutungen dieser Schriftstücke auf, bei den für jeden Liebhaber deutscher Sprache und Literatur qualvollen Wortfindungen wie „Phänomenbereich“ oder „verfassungsschutzrelevant“. Derlei ließe sich zur Not ertragen, wenn hinter den diffusen Wortmonstern klar erkennbare Tatbestände existierten. Bei „Sammelbeobachtungsobjekt“ ist das nicht der Fall. Auf der Website des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz findet sich die Andeutung, gewisse „Beobachtungsobjekte“, also unliebsam auffällige Gruppen oder Menschen, ließen sich nicht eindeutig schon bekannten Kategorien wie „rechtsradikal“ oder „linksradikal“ zuordnen, und für diese hätte man daher den alle möglichen Personenkreise umfassenden Sammelbegriff „Sammelbeobachtungsobjekt“ geschaffen. „Dazu gehört zum Beispiel“, wie die Website exemplarisch ausführt, „Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit“. Die dieses Delikts Verdächtigen „setzen den Islam als Weltreligion gleich mit Islamismus und islamistischem Terrorismus und stellen die Religion des Islam als faschistische Ideologie dar, von der eine erhebliche Gefahr für unsere Gesellschaft ausgehe.“

Der Schaden für die Motivation

Ich fürchte: „Sammelbeobachtungsobjekt“ sind wir alle. Der Spielraum willkürlichen Ermessens ist unendlich. Sie kritisieren abends beim Bier die Maßnahme eines Berliner Bezirksamtes, für mehrere Millionen Euro eine Straße in Kreuzberg mit großen grünen Punkten voll zu malen, nennen womöglich noch den Namen des für diesen Schwachsinn verantwortlichen Politikers oder Beamten, Sie erwähnen den beklagenswerten Zustand der Infrastruktur im Ruhrgebiet, wo Straßen zerfallen und Brücken wegen Einsturzgefahr gesperrt werden müssen, sie kritisieren die heiligen „Corona-Maßnahmen“, Sie riskieren auf Facebook oder Twitter ein kritisches Wort über Innenministerin Nancy Faeser, den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und ihre Sucht, neue „Phänomenbereiche“ für die „nachrichtendienstliche Bearbeitung“ zu erfinden, Sie veröffentlichen wie ich Artikel in der „Jüdischen Rundschau“, die das Verschwenden deutscher Steuergelder für korrupte, Terror-affilierte nahöstliche Organisationen anklagen – dann müssen wir, Sie und ich, uns darauf gefasst machen, in Zukunft den „diesbezüglich relevanten Akteuren zugeordnet und nachrichtendienstlich bearbeitet“ zu werden.

Noch geschieht nichts weiter. Noch kein Katalog strafrechtlicher Maßnahmen. Was allerdings schon jetzt schwer wiegt, ist der Schaden für unsere Motivation. Als Putin seinen hoffnungslosen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, schrieb ich an dieser Stelle, er hätte damit die Identität der russischen Nachkriegsgesellschaft zerstört, die auf einem siegreich beendeten Verteidigungskrieg beruhte, und den russischen Soldaten jede Motivation genommen. Wie verhält es sich mit uns? Die Motivation ist entscheidend, im Krieg wie im Frieden. Wozu bekämpfen wir Übergriffe eines totalitären Staates, wenn sich zugleich unser eigener dem Totalitären annähert? Wie sollen wir die vielbeschworenen Werte der Demokratie verteidigen, wenn sie zugleich hinter unserem Rücken ruiniert werden?

 

Quellen:

https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html

https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-882110

https://www.verfassungsschutz.bayern.de/weitere_aufgaben/index.html

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Peter Wachter / 13.06.2022

Tja, dann wird es ja bald auch wieder den politischen Häftling (w, m + d) geben, mit Zwangsarbeit im Knast, s.h.: “Ikea, Aldi, Quelle, Woolworth, C&A, Siemens* und viele andere Firmen profitierten vor dem Mauerfall von der Arbeit von Häftlingen in DDR-Gefängnissen. Insgesamt waren es mehr als 6.000 Unternehmen, die sich an diesem fragwürdigen deutsch-deutschen Handel beteiligten. Dabei hatten die Zwangsarbeiter, die im DDR-Knast für den Klassenfeind schuften mussten, harte Normvorgaben zu erfüllen. Wer das nicht schaffte, konnte in Dunkelzellen oder Isolierhaft landen und bekam die Essensration gestrichen. Viele dieser ehemaligen Häftlinge leiden bis heute unter den körperlichen und seelischen Folgen. Eine Entschädigung für ihre Arbeit haben sie bis heute nicht erhalten.” (Quelle MDR Stand: 14. Juni 2021) Oder s.h. YT:” Ausgebeutet für den Klassenfeind - Wie DDR-Zwangsarbeiter für Westfirmen leiden mussten”.

Jörg Themlitz / 13.06.2022

@Manfred Haferburg: Sie kennen es sicherlich, ich fügen diesen Text von Frau Bohley hier trotzdem noch einmal ein. „Alle diese Untersuchungen“, sagte sie, „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“ „Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“ Der Abt vom Stift / Kloster Tepl,  Heřman Josef Tyl, wurde in Ausschwitz und Buchenwald geknechtet. Nach 1948 dann in der CSSR “interniert”. Ob Ihr Fluchtland Frankreich die richtige Wahl ist??? Bedenken Sie, wie viele Deutsche inklusive Juden Frankreich an Deutschland ausgeliefert hat. Jedes Regime braucht diese Gummiparagraphen. Für mich persönlich überraschend, die Menge der “Menschen” die wieder bereit sind, diesen Weg mit zu gehen. Gerade die Menschen die uns ständig fragen: Wie konnte das passieren?

S. Malm / 13.06.2022

“Noch kein Katalog strafrechtlicher Maßnahmen” - das wird kommen, es wird ihnen nicht mehr ausreichen, Oppositionelle gesellschaftlich und wirtschaftlich zu ruinieren. Wir werden strafrechtliche Verfolgungen sehen und Umerziehungslager, um die Leute psychisch und physisch zu brechen. Man sollte nicht vergessen, die Linke sieht “1984” als Betriebsanleitung…

S. Andersson / 13.06.2022

Erstaunlich aber wahr - die Bild ist KEINE Zeitung. Willkür und Co. sind schon lange Genossen der D Politiker/ Richter. Frag mich gerade was es noch braucht damit der Untertan mal so richtig sauer wird auf die Regierung & Co….. irgend wie witzig was man sich hier und anderswo so alles gefallen lässt. Immer mehr schreiben und lamentieren .... aber zu wenige machen was. Lemminge voran…

Wilfried Cremer / 13.06.2022

Lieber Herr Noll, das klingt nicht zufällig nach Sammellager. Der Begriff verrät den Ungeist seiner Schöpfer.

Michael Kleber / 13.06.2022

Zwei Stichworte zum Thema: Verklausulierte (geframte) Umsetzung von Bärbel Bohleys Vorhersage und Renaissance der Nebenerwerbstätigkeit IM.

R.Camper / 13.06.2022

Was heißt hier “...wenn sich zugleich der eigene dem Totalitären annähert”? Seit unsere Bundeskanzlerdarstellerin, den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten von Thüringen, Herren Kemmerich, zum Rücktritt aufgefordert hat, ist dies ein totalitärer Staat. Alles was jetzt danach kommt, ist das Ergebnis dieser Aktion. Wenn damals die Bürger, wenigstens die Thüringer, zu den Mistgabeln gegriffen hätten, hätten wir uns jetzt diesen Stasistaat ersparen können. Zu spät, die Bolschewisten haben Oberwasser, rette sich wer kann.

Thomas Szabo / 13.06.2022

Die neueste Form der Diktatur: die Diktatur die sich Demokratie nennt, beansprucht für sich die „freiheitliche Demokratische Grundordnung“ zu repräsentieren.

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