Wolfgang Meins / 22.12.2020 / 06:25 / Foto: Manfred Haferburg / 99 / Seite ausdrucken

Psychische Nebenwirkungen: Was macht die Coronakrise mit uns?

Im Einzelfall auseinanderzuhalten, ob es sich bloß um eine Nebenwirkung oder aber um einen Kollateralschaden – also eine mit einem Schaden verbundene Nebenwirkung – handelt, kann wegen der oft subjektiven Grenzziehung schwierig sein. Vergleichsweise wichtiger bei diesem Thema dürfte aber ohnehin die Berücksichtigung der Tatsache sein, dass Nebenwirkungen hier durchaus auch in verschiedene Richtungen weisen können. Und noch einen Aspekt gilt es vorab zu klären: Es geht hier nicht um mögliche, direkte Auswirkungen von SARS-CoV-2, kurz Corona, auf die Psyche bzw. das Gehirn. Vielmehr interessiert im Folgenden, was die Melange aus bloßer Anwesenheit des Virus in unserer natürlichen – und damit leider auch medialen – Umgebung und den diversen politischen Abwehrmaßnahmen mit dem Seelenleben macht.

Eine überwiegend repräsentative Umfrage

Knapp 114.000 Personen, die vor ein bis fünf Jahren schon einmal zu ihrem Gesundheitszustand befragt worden waren, nahmen im Mai 2020 – der erste Lockdown klang damals gerade aus – an einer schriftlichen Nachbefragung teil. Das riesige Autorenkollektiv, nahezu ausschließlich Epidemiologen aus verschiedenen deutschen Forschungseinrichtungen, versprach sich von dem Vergleich Erkenntnisse über die Veränderung der subjektiven seelischen Gesundheit durch Corona. 

Gefragt wurde mittels dreier Skalen nach Angst- und depressiven Symptomen sowie der wahrgenommenen Stressbelastung. Bei der getrennt nach Geschlechtern erfolgten Auswertung nahm die Belastung jeweils nur in den drei jüngsten Altersgruppen (20–29, 30–39, 40–49) statistisch signifikant zu, und zwar in allen drei Symptom-Bereichen. Besonders ausgeprägt fiel die Zunahme beim weiblichen Geschlecht aus, am deutlichsten bei den 30–39-jährigen Frauen. 

Auch wenn Epidemiologen neuerdings für sehr vieles zuständig sind, hätte etwas mehr an psychiatrischer Kompetenz der Ergebnis-Diskussion zweifellos gutgetan. Denn in der Psychiatrie ist ein deutlicher Überhang des weiblichen Geschlechts sowohl bei depressiven als auch Angststörungen bzw. -symptomen sehr gut bekannt und belegt – mit einem Erkrankungsgipfel während des dritten bzw. zu Beginn des vierten Lebensjahrzehnts. Und eine erhöhte Vulnerabilität genau dieser Gruppen spiegeln die Ergebnisse ja eindrücklich wider. 

Überraschender dagegen ist, dass sich bei den Älteren (50–59, 60–69, 70+) für beide Geschlechter in allen drei Skalen kein statistisch signifikanter Anstieg – also eine psychische Belastung durch Corona – nachweisen lässt. Nun haben die älteren Jahrgänge zwar seltener direkten „Kontakt“ zum Corona-Geschehen, sei es in Form von noch schulpflichtigen Kindern, regelmäßigen Fahrten zur Arbeit mit dem öffentlichen Nahverkehr, Kontakt mit Arbeitskollegen oder auch direkter Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz. 

Dennoch verwundert die fehlende psychische Belastung, da schließlich erst im höheren Lebensalter – von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen – die COVID-19-Diagnose mit schweren oder auch tödlichen Verläufen einhergehen kann. Es stellt sich somit die Frage, ob wir es hier zusätzlich vielleicht auch mit einem Kohorteneffekt zu tun haben: Die Kohorte der Älteren ist, etwa aufgrund der noch bis in die sechziger Jahre härteren und raueren Lebensbedingungen, im Vergleich zu den nachfolgenden Generationen, psychisch robuster oder auch – um es mit Alt-Bundespräsident Gauck zu sagen – weniger „wehleidig“. Vielleicht spielt auch die größere Lebenserfahrung oder gar so etwas wie Weisheit eine Rolle – in Gestalt einer gewissen Abgeklärtheit gegenüber den Unbilden von Natur, Medien und Politik. 

Die Situation in Notaufnahmen

Mittlerweile ist gut dokumentiert, dass die Corona-Pandemie während des ersten Lockdowns von Ende März bis Anfang Mai zu deutlich niedrigeren Patientenzahlen in den Notaufnahmen von Krankenhäusern führte, gerade auch bei potenziell lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Schlaganfall und Herzinfarkt. Auch die zentrale Notaufnahme einer Münchner Uniklinik behandelte in dieser Zeit insgesamt 40% weniger Patienten, wobei die Zahl der psychiatrischen Fälle allerdings konstant blieb, also lediglich ihr relativer Anteil zugenommen hatte. Allerdings erscheint es plausibel, davon auszugehen, dass sich hinter dieser Konstanz in Wirklichkeit eine Zunahme von Personen mit psychiatrischen Problemen verbirgt, da – wie bei den körperlich Kranken – wahrscheinlich etliche die Notfallaufnahme aus Angst vor Ansteckung gemieden haben.

Quarantäne und Isolation

Schon vor Corona gab es etliche Studien zu der Frage, mit welchen psychischen Problemen Isolation und Quarantäne verbunden sind. Eine aktuelle systematische Durchsicht dieser Untersuchungen ergab, dass – besonders ab der zweiten Woche – auch hier das Risiko für depressive und – weniger stark – Angststörungen ansteigt. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass auf der frei zugänglichen Homepage der DGPPN etliche Originalarbeiten zum Thema Corona und seelische Gesundheit verlinkt sind. 

Bisher keine Zunahme von Suiziden in 2020

Die bisher geschilderten Ergebnisse sollten eigentlich mit einer Zunahme von Suiziden verbunden sein. Schließlich ist eine depressive Störung die häufigste psychiatrische Diagnose bei vollendetem Suizid. Nun zeigen Daten aus Frankfurt/M für die Zeit von Januar bis Juli 2020 nicht nur keine Zunahme, sondern sogar einen Rückgang der vollendeten Suizide um beachtliche 30% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, ähnlich wie in NRW mit einem Rückgang von 20%. In den sechs weiteren Bundesländern, die Suizide zeitnah erfassen, konnte in den ersten Monaten 2020 – ohne dass genauere Zahlen mitgeteilt werden – keine Zunahme registriert werden. Wie sind diese unerwarteten Ergebnisse zu erklären? 

Zunächst einmal damit, dass vollendete Suizide in den jüngeren, weiblichen Altersgruppen, also bei denjenigen, die sich durch Corona besonders belastet fühlen, ohnehin vergleichsweise selten vorkommen – hier dominieren die Suizidversuche. Die höchsten Suizidraten finden sich für beide Geschlechter in den vergangenen Jahren konstant in den höheren Altersgruppen, ganz besonders bei den Männern. Also: Die Gruppen mit dem relativ höchsten Suizidrisiko sind gleichzeitig die mit der geringsten subjektiven Belastung durch Corona. 

Aber es gilt noch einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen, der ebenfalls erklären kann, warum die Zunahme von Depression und Ängsten in Corona-Zeiten nicht automatisch auch zu mehr Suiziden führt. Die mit Corona einhergehende Verminderung von sozialen Kontakten bis hin zur fast völligen Isolation wird eben nicht in jedem Fall als nur belastend erlebt. Denn für depressive und ängstliche Personen sind soziale Kontakte vielfach eben auch besonders fordernd, anstrengend und konfliktträchtig. Deren Vermeidung kann von den Betroffenen also durchaus auch als entlastend wahrgenommen werden – zumindest über einen gewissen Zeitraum. 

Schließlich schwächt sich In Corona-Zeiten ein weiterer, nicht zu unterschätzender Suizid-Risikofaktor ebenfalls deutlich ab: die Wahrscheinlichkeit, eine personelle Alternative oder auch nur passagere Ergänzung zum aktuellen Partner kennenzulernen. Dadurch dürften aktuell viele Ehe- und Beziehungsdramen vermieden werden, auch wenn das Problem vielleicht nur vertagt wurde. Schließlich ist noch an die Möglichkeit zu denken, dass gegenwärtig bestimmte Suizidarten aus ganz praktischen Gründen erschwert sind, etwa wegen des teils ausgedünnten Bahnverkehrs oder eines auf Grund des Lockdowns erschwerten Zugangs zu bestimmten – für einen Dach- oder Fenstersprung besonders geeigneten – Gebäuden.

Mehr oder weniger Alkohol?

Was wirkt sich stärker auf den Alkoholkonsum aus? Die in bestimmten Bevölkerungsgruppen zugenommene ängstlich-depressive Verfassung und die relative Isolierung in Verbindung mit einer mehr oder weniger sorgenvollen Langeweile einerseits oder die fehlenden Restaurant- und Kneipenbesuche und gecancelten gesellschaftlichen Anlässe andererseits, zu denen bekanntlich gerne auch mal mehr getrunken wird. Der Staatsfunk will suggerieren, dass in Corona-Zeiten mehr getrunken wird – unter Berufung auf eine dubiose, nicht repräsentative Online-Studie –, um dann den volkserzieherischen Zeigefinger zu heben.

Deutlich härter sind dagegen die Zahlen zum Bierabsatz: in den ersten beiden Quartalen 2020 ein Rückgang gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um 6,6%. Im dritten Quartal wurde dann fast wieder das Vorjahresniveau erreicht. Das vierte Quartal wird dann wegen des Lockdowns – da muss man kein Prophet sein – wieder eine deutliche Absatzminderung mit sich bringen. Laut einer im November veröffentlichten Analyse lag der Weinkonsum 2020 bisher auf einem „etwas höheren Niveau“ im Vergleich zum Vorjahr, dürfte im Hinblick auf den Pro-Kopf-Konsum von Alkohol den Einbruch beim Bierabsatz folglich nur zum Teil ausgeglichen haben. 

Meist im Verborgenen

Nun umfasst die Psychiatrie noch mehr Problembereiche als Angst, Depression, Suizid und Alkohol. Besonders denke ich im Zusammenhang mit Corona an denjenigen mit einer Zwangsstörung, die üblicherweise von sich aus nur selten professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und meist im Verborgenen ihren dysfunktionalen Überzeugungen und Ritualen nachgehen. Wie mag es unter dem Lockdown-Regime und der AHA-Regel wohl Zwangskranken mit einem Wasch- und Reinlichkeitszwang gehen, die schon in normalen Zeiten den Supermarktbesuch nur in spezieller Kleidung samt Handschuhen absolvieren, ganz zu schweigen von den anschließenden, sich manchmal über Stunden hinziehenden Reinigungsritualen?

 

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.        

Foto: Manfred Haferburg

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Sonja Dengler / 22.12.2020

Es verwundert eben NICHT, dass in der älteren Generation keine psychischen Belastungen zu erkennen waren: im alter hat der Mensch derart viele Katastrophen bewältigt oder überstanden, dass er daraus gelernt hat. Nämlich: auch das werde ich überstehen, ich mache mich nicht verrückt.

Peter Holschke / 22.12.2020

Psychsische Nebenwirkung? Der war gut! Bei einer psychogene Massenerkrankung, bzw. einer epidemischen Hysterie! Bitte nochmal lesen! Massenhysterie! Reden wir doch über die Hauptwirkung dieser psychsischen Erkrankung. Das Hauptsymptom ist eine ausgewachse kollektive Paranoia, wegen einer angebliche Bedrohung, befeuert durch Gerüchte oder Ängste.  Therapie? Das wird schon wieder, wenn der Futternapf leer ist und andere mentale Systeme die Kontrolle übernehmen. In seltenen Fällen gelingt die Einschaltung des gesunden Menschenverstandes.

Ulrich Pletzer / 22.12.2020

Kein Wunder, dass in Zeiten von Ansteckungshysterie die Suizidraten sinken. Wer holt sich schon unbefangen ein Seil aus dem Keller, um sich zu erhängen, wenn man gar nicht weiß wer das Seil vorher schon alles benutzt hat.

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