Irgendwann habe ich mir angewöhnt, meinen Augen zu trauen. Das ist zwar politisch unkorrekt, denn meine Augen gehen verbotene Wege, sie sehen, was sie nicht sehen sollen. Früh lernen wir, das gefährliche Sinnesorgan durch psychische Mechanismen einzuschränken, ihm nicht zu trauen, weil es „subjektiv“ ist, nicht durch politisch korrekte Korrektive gebremst. Irgendwie ist das bei mir nicht gelungen.
Ganz verloren für das politisch Korrekte ist man, wenn die Augen außerdem noch mit dem Gedächtnis kooperieren. Wenn Bilder des Tages verglichen werden mit dem, was eingespeichert ist an früheren Szenen. Der Parteitag der – noch immer – größten deutschen „Volkspartei“ war für erinnernde Augen ein Fest des Wiedererkennens. Déjà-vu – wo habe ich das bloß schon mal gesehen? Dieses falsch-bescheidene Lächeln, wenn der stehende Beifall der Parteitags-Delegierten in die zehnte Minute geht?
Erinnerungsträchtig auch das Abschiedgeschenk (obwohl der Abschied in diesem Fall nur fake ist), ein goldener Dirigentenstab. Der japanische Musiker, von dem er stammte, hatte in Handschrift darunter gesetzt: „Mit meiner größten Verehrung für Angela Merkel, die wichtigste Dirigentin der Weltpolitik“. Das Motiv der amerikanischen Zeitschrift Forbes wurde nochmals aufgegriffen, die sie zum achten Mal zur „mächtigsten Frau der Welt“ erklärt hatte. Auch dafür gab es stehende Ovationen.
Eine berauschende Kulisse der Zustimmung
An dieser Stelle überkam mich eine Erinnerung meiner Jugend: Wie Parteichef Walter Ulbricht eine goldene Patronenhülse überreicht bekam, mit den „Verpflichtungen der Jugend“. Dazu wurden wir, Ost-Berliner Oberschüler, zu Zehntausenden ins Walter-Ulbricht-Stadion geschafft, eine berauschende Kulisse der Zustimmung. War die spätere Kanzlerin (mein Jahrgang) live mit dabei? Oder sah sie die erhebenden Bilder abends in der „Aktuellen Kamera“? Solche Bilder prägen: entweder rufen sie Abscheu hervor oder heimliche Sehnsucht. Das Stadion ist inzwischen verschwunden, auf seinem Areal wurde – durchaus mit Sinn fürs Symbolische – die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes errichtet.
Bedeutet Globalismus auch globalen Größenwahn? Globalen Personenkult? Haben wir in diesem angestrebten Modell, mit dem wir noch keine Erfahrung machen konnten, dessen Folgen sich nicht absehen lassen, auch die globale Verehrung globaler Führerpersönlichkeiten zu erwarten? Stalin blieb – immer noch einschränkend – der „Vater aller Werktätigen“. Bei Ulbricht und Honecker fielen die Ehrentitel noch bescheidener aus. Sie blieben auf ein Land beschränkt (mehr hätten die sowjetischen Genossen nicht erlaubt). Aber nun ist es „die Welt“ und „die Weltpolitik“. Das globale Attribut wurde auch dem Walter-Ulbricht-Stadion verliehen, seit 1973 hieß es „Stadion der Weltjugend“. Das war bald nach Ulbrichts Sturz.