Fred Viebahn / 29.04.2010 / 05:34 / 0 / Seite ausdrucken

Keine Zeitmaschine für Dorothy Height

Vergangene Woche verstarb kurz nach ihrem 98. Geburtstag Dorothy Height. Dorothy wer?, mögen nicht nur deutsche Leser, sondern auch viele Amerikaner fragen—es sei denn, sie sind gebildete Afroamerikaner, die vor der Rap-Generation aufwuchsen. Denn während Rosa Parks durch ihren einen kurzen, doch entscheidenden Widerstand gegen ein rassistisches Staatsgesetz zur Bürgerrechtsikone wurde, deren explosives Beispiel zivilen Ungehorsams heute in allen Schulbüchern steht (1955 hatte sie sich in einem Bus der städtischen Verkehrsbetriebe von Montgomery, Alabama, geweigert, für einen weißen Passagier ihren Sitz zu räumen, wofür die vom Busfahrer herbeizitierte Polizei sie prompt verhaftete und ins Gefängnis sperrte) und Coretta Scott King als Witwe des ermordeten Martin Luther King, Jr. eine besondere historische Bedeutung erwuchs, wird das Bild der Bürgerrechtsbewegung auch heute noch, wie ja Geschichte im allgemeinen, hauptsächlich von den Männern dominiert, die sich entweder mehr oder weniger lauthals in den Vordergrund drängten oder von den Medien unermüdlich als Aushängeschilder präsentiert wurden. Dabei gab es durchaus immer wieder Frauen, die selber “ihren Mann standen” und aus dem Hintergrund, zu dem männliche Eitelkeit und öffentlichkeitswirksame Propaganda sie relegiert hatte, Fäden zogen, Anstöße gaben, in täglichen Mühen dafür sorgten, daß auf die großen Worte, die ihnen versagt blieben, die zähen kleinen Taten folgten, für die sich viele Mannsbilder zu schade hielten. Dorothy Height war lange die einflußreichste unter diesen Damen, und dank ihrer robusten Gesundheit und ihres zähen Intellekts die ausdauerndste.

Geboren wurde Dorothy Height am 24. März 1912 in Richmond, Virginia, einer Stadt, die fünfzig Jahre zuvor, in den frühen Sechzigern des neunzehnten Jahrhunderts, abtrünnigen Sklavenhaltern als Hauptstadt ihrer Konföderierten Staaten von Amerika gedient hatte und fünfzig Jahre danach, in den frühen Sechzigern des zwanzigsten Jahrhunderts, öffentliche Schulen im bekloppten (und illegalen) Wahn dichtmachte, so die Aufhebung der Rassentrennung verhindern zu können. Als Kleinkind zog sie mit ihrer Familie aus dem überwieged agrarischen Süden in die Nähe von Pittsburgh, wo der Aufschwung der Stahlindustrie schwarze Arbeiter anlockte und damit gleichzeitig die Bildung einer afroamerikanischen Bürgerschicht ermöglichte; ihr Vater war Bauunternehmer, ihre Mutter Krankenpflegerin. Mit siebzehn bestand sie die Aufnahmeprüfung fürs Barnard College in New York, dem Ableger der Columbia University für weibliche Studenten, wurde dann aber, als sie dort leibhaftig vorm Tor stand und die Zerberusse dieser Bildungsburg ihre Hautfarbe sahen, wegen der ungeschriebenen Regel nicht reingelassen, nur zwei schwarze Studentinnen pro Semester zu immatrikulieren—und diese Quota war für 1929 bereits erfüllt. Dorothy ließ sich allerdings von so einem lächerlichen Rückschlag nicht kleinkriegen, sondern machte sich von dem an Harlem angrenzenden Barnard Campus auf in den Süden Manhattans, nach Greenwich Village, wo sie 1933 an der New York University mit dem Magister in Erziehungspsychologie abschloß. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie während ihres Studiums mit einer Reihe mehr oder weniger interessanter Jobs; so bügelte sie die Hemden für den Vaudeville-Star Eddie Cantor, las Korrektur für Marcus Garveys Wochenzeitung Negro World, schrieb Nachrufe für einen Bestattungsunternehmer und unterrichtete als einzige Schwarze am berühmten “Little Red Schoolhouse” ganz in der Nähe ihrer Uni.

Nach dem Studienabschluß arbeitete sie fürs New Yorker Sozialamt und engagierte sich in der liberalen christlichen Jugendbewegung, der “United Christian Youth Movement of North America”, deren Vizepräsidentin sie später wurde. Bei einem Besuch von Eleanor Roosevelt in Harlem wurde die selbstbewußte junge Frau erkoren, die First Lady zu eskortieren, wobei sie die einflußreichste Afroamerikanerin ihrer Generation kennenlernte, Mary McLeod Bethune, die kurz zuvor den “National Council of Negro Women” gegründet hatte—ebenjene Organisation, welche Dorothy Height zwanzig Jahre später zu einer treibenden Macht nicht nur in der Bürgerrechts-, sondern auch in der Frauenbewegung machte. Vierzig Jahre lang, von 1957 bis 1997, sorgte sie als (unbezahlte) Präsidentin des NCNW dafür, daß maskuliner Überlegenheitswahn wieder und wieder eingedämmt wurde, und in ihrer gelassenen, so ganz unmilitanten Art, die auf Überzeugung durch Vorbild und Taten vertraute, ließ sie sich auch von großen Enttäuschungen nicht verbittern—zum Beispiel obwohl ihr Drängen, beim großen Marsch auf Washington am 28. August 1963 auch eine Frau reden zu lassen, von den Chauvis der Bewegung arrogant abgewimmelt wurde. Als schwachen Trost ließ man sie neben Martin Luther King auf die Bühne, als dieser die Seele der amerikanischen Nation mit seiner idealistischen “I Have A Dream”-Rede zutiefst rührte. Dabei war es schon so eine Art Fortschritt, daß die Abermillionen vor ihren heimischen Glotzen überhaupt eine schwarze Frau in prominenter, wenn auch stummer Position zu Gesicht bekamen.

Ein Lieblingsmotto von Dorothy Height war: “Wenn die Zeit nicht reif ist, müssen wir die Zeit reif machen.” So füllte sie mit freimütigem gesellschaftlichem Engagement sozusagen ihre Mußezeit, während sie im studierten Brotberuf Karriere innerhalb des YWCA machte, des noch vor dem Bürgerkrieg gegründeten größten Frauenverbandes der USA, der “Young Women’s Christian Association”. Wenig ist über ihr Privatleben bekannt, wenn sie überhaupt eines hatte. Sie war hübsch, großgewachsen und immer schick gekleidet, sehr “weiblich” im traditionellen Sinn, und berühmt für ihre farbenfrohen Hüte, aber weder war sie je verheiratet noch sind von ihr anderweitige intime Beziehungen bekannt. Und doch verwandte sie zeitlebens viel Energie auf die Propagierung gut funktionierender Familien, die für sie zu den wichtigsten Stützen der Gesellschaft zählten—wobei sie gegenseitige Toleranz als wesentlichsten Verhaltensmaßstab predigte. Sie war eine liberale Christin, die aus ihrem Glauben keine absoluten Regeln ableitete—eine Frau, der es darauf ankam, demokratische Ideale der Gleichheit vor dem Gesetz und der Chancengleichheit für Kinder zu verwirklichen, nicht, sich an Überlegenheit zu berauschen. Wenn sie schon nicht von ihren männlichen Mitstreitern in den Vordergrund gelassen wurde, so nutzte sie die Möglichkeiten, die sich hinter der Szene boten, wo sie oft taktisch geschickt Fäden zog und außerhalb der Scheinwerfer der Öffentlichkeit ihre über viele geduldige Jahre aufgebauten Beziehungen spielen ließ. Sie bewährte sich als eine geniale Strategin, aber eine Opportunistin, die ihre Prinzipien verriet, wurde sie deshalb noch lange nicht. Entschieden verteidigte sie das Recht der Frauen auf ihren Körper und setzte sich energisch gegen die Homosexuellendiskriminierung ein, womit sie marktschreierischen schwarzen Fundamentalistenpredigern trotzte —sowohl von der Kanzel ihrer Organisation und auch mithilfe der Legitimierungen, die ihr offizielle Anerkennung und Ehrungen einbrachten. Präsidenten beider Parteien hatten sie immer wieder um Rat gefragt; nach Roosevelt fand sie in den Fünfzigern das Ohr von Dwight D. Eisenhower, den sie drängte, dafür zu sorgen, daß die Rassentrennung an Schulen verschwand, und 1963 durfte sie im Weißen Haus miterleben, wie John F. Kennedy eines ihrer Anliegen unterzeichnete, das Gesetz der gleichen Entgeltung für gleiche Arbeit. 1994 verlieh ihr Bill Clinton die Presidential Medal of Freedom, die höchste zivile Auszeichnung der USA, und zehn Jahre später erhielt sie zur Feier ihres 92. Geburtstags von George W. Bush die Goldmedaille des US-Kongresses. Daß sie es voriges Jahr noch miterleben durfte, bei Barack Obamas Inauguration als Ehrengast auf der Tribüne zu sitzen, war sicherlich die Krönung ihres Lebens, ein Ereignis, für das auch ihre nimmermüden Anstrengungen den Weg bereitet hatten. Man muß sich heutzutage einfach mal in Erinnerung rufen, daß zur selben Zeit, als der jetzige Präsident der USA das Licht der Welt erblickte, in Dorothy Heights Geburtsstaat Virginia rassistische Politiker die staatlichen Schulen dichtmachten, damit ja keine schwarzen neben weißen Schülern zu sitzen kamen, und gemischtrassige Ehen wie die von Obamas Eltern als kriminelles Vergehen galten.

In den Neunzigern traf ich Dorothy Irene Height bei mehreren gesellschaftlichen Gelegenheiten, an denen die Hauptstadt der USA nicht gerade arm ist. Auf anekdotische Art besonders erinnerungswürdig war ein festliches Dinner, bei dem ich neben ihr saß und sie davor rettete, in Flammen aufzugehen—oder zumindest einen guten Teil der Washingtoner High Society vor der kollektiven kalten Dusche des Sprinklersystems bewahrte. 

An jenem Abend im Herbst 1997 wurden im National Museum of Women in the Arts von der gemeinnützigen Stiftung des vor allem durch seine massengefertigten Kuchenleckereien bekannten Nahrungsmittelkonzerns Sara Lee die jährlichen sogenannten Spitzenreiterpreise vergeben, die “Sara Lee Frontrunner Awards”, jeweils 50,000 Dollar für vier Damen von Bedeutung, allerdings nicht zum persönlichen Verzehr, sondern zur Weitergabe an wohltätige Einrichtungen ihrer Wahl. Dorothy Height hatte diese Auszeichnung bereits Jahre zuvor erhalten; nun, am Ende ihrer vierzigjährigen Amtszeit als Präsidentin des National Council of Negro Women, war sie neben den blonden bleichgesichtigen Ehemann einer der vier diesjährigen Preisträgerinnen plaziert worden, nämlich mich. Meine Frau und ihre drei Mitgeehrten—die Supreme Court-Richterin Sandra Day O’Connor, die Washington Post-Besitzerin Katharine Graham und die Waffengesetzlobbyistin Sarah Brady (Frau des 1981 beim Attentat auf Ronald Reagan schwerverletzten Pressesprechers des Weißen Hauses James Brady)—wurden, wie bei solchen Power Dinners üblich, an Nachbartischen von Sara Lees Topmanagern flankiert. 

Selbstverständlich war Dorothy Height wie immer schick gekleidet und trug ihr Markenzeichen, einen Hut mit Pfiff. Animiert erzählte die damals bereits Fünfundachtzigjährige, wie sie sechzig Jahre zuvor Eleanore Roosevelt kennengelernt hatte und zu ihrer Vertrauten und Beraterin avanciert war, und daß sie auch in Zukunft, trotz ihrer Pensionierung, weiter jeden Morgen pünktlich in ihr Büro auf der Pennsylvania Avenue gehen würde, nicht weit vom Weißen Haus.

Wir hatten uns gerade der Preisverleihungszeremonie zugewandt, da witterte ich Brandgeruch, und als ich auf den Tisch blickte, sah ich zu meiner Bestürzung, daß Dorothy Heights Jackenärmel mit der nur halbwegs verglasten Kerze zwischen uns in Kontakt geraten und entflammt war. “Sorry”, rief ich und tippte ihr auf die Schulter, “aber Sie sind gerade dabei, Feuer zu fangen.” Und schüttete mein Wasserglas auf Flamme und Ärmel, während die anderen Gäste an unserem Tisch, aufgeschreckt von meinem etwas panisch geäußerten “Feuer”, entsetzt aufsprangen. Meine propere Nachbarin warf mir zwar zuerst einen empörten Blick zu, aber dann wurde ihr schnell klar, daß ich nicht plötzlich aus heiterem Himmel übergeschnappt war; binnen Sekunden fand sie ihre Fassung wieder und preßte ihre Stoffserviette auf den angeschmorten nassen Ärmel. “Ich glaube, damit hat es sich”, sagte sie in aller Ruhe, während sich händeringende Tischnachbarn und Kellner um sie scharten, und schob die Kerze von sich weg. “Danke, daß Sie mir die Haut gerettet haben.”

Leider erschien ihre Autobiografie, “Open Wide The Freedom Gates”, ein skandalfreies Buch eines braven und bravourösen Lebens, erst 2005, und ich habe es erst jetzt, nach ihrem Tod, gelesen. Gerne würde ich nun, von einer Zeitmaschine dreizehn Jahre zurückgeschleudert, meine einstige Tischpartnerin um weitere Einzelheiten ihrer Reise nach Amsterdam befragen, 1939, als die Siebenundzwanzigjährige die amerikanische YWCA beim Weltkongreß christlicher Jugend vertrat. Wie war das damals für eine junge schwarze Frau an den Grachten, nur wenige Kilometer von einer Grenze, hinter der der deutsche Größen- und Rassenwahn wütete und sich bereitmachte, Brände zu setzen, die viel mehr als einen Damenkostümärmel versengen sollten? Wie war das in den Niederlanden, als Kolonialismus noch ein selbstverständlicher Lebensstil, der “way of life” war? Wie fühlte sich das an? Oder war sie durch ihre Reibereien mit Rassismus daheim in den USA abgehärtet?

Schade, es gibt so eine Zeitmaschine nicht—und das ist gut so.

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