Hansjörg Müller / 12.07.2013 / 08:19 / 1 / Seite ausdrucken

„Jedes Land hat seine eigene Form des Antisemitismus“

Lord George Weidenfeld über den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich, sein Leben als Flüchtling, seinen Aufstieg zum Grossverleger, Begegnungen mit den Grossen der Weltpolitik und die Gefahr des modernen Jihadismus

Wer George Arthur Weidenfeld zum Gespräch trifft, der mag kaum glauben, dass sein Gegenüber 93 Jahre alt ist. Kristallklar ist Weidenfelds Urteil über gegenwärtige und historische Ereignisse, lebende und gewesene Personen. Vor allem aber ist er ein glänzender Erzähler, dem jedes Detail präsent ist, als lägen die Ereignisse, über die wir sprechen, erst wenige Tage zurück, und nicht Jahrzehnte.

Geboren wurde Weidenfeld 1919 in Wien. Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, die Habsburgermonarchie war Geschichte. Weidenfeld erlebte, wie die Nazis in Österreich die Macht übernahmen. 1938 floh er nach London, wo er für die BBC arbeitete und am Propagandafeldzug gegen das Nazi-Regime teilnahm.

Nach dem Krieg gründete er zusammen mit seinem Geschäftspartner Nigel Nicolson, dem Sohn des Publizisten und Diplomaten Harold Nicolson und der Schriftstellerin Vita Sackville-West, den Verlag Weidenfeld & Nicolson, den er zu einem der bedeutendsten Verlagshäuser der angelsächsischen Welt machte. George Weidenfeld war es, der Vladimir Nabokovs «Lolita» verlegte; er brachte die Memoiren Charles de Gaulles, Konrad Adenauers, Henry Kissingers, Papst Johannes Pauls II. und zahlreicher weiterer Staatsmänner heraus.

Ein überzeugter Zionist seit seiner Jugendzeit, wirkte Weidenfeld nach der Gründung Israels ein Jahr lang als Kabinettschef Chaim Weizmanns, des ersten Präsidenten des jüdischen Staates. 1969 erhob ihn die Queen in den Adelsstand, seit 1976 gehört er als Baron Weidenfeld of Chelsea dem britischen Oberhaus an. Legendär sind Weidenfelds Fähigkeiten als Netzwerker und Gesellschafter. Seit Jahrzehnten bringt er Wirtschaftsführer, Denker und Staatsmänner zusammen, seine Stiftung fördert Studenten aus aller Welt. Einen «König der Gastgeber» nannte ihn der englische Historiker Paul Johnson.

Weidenfeld empfängt uns in seinem Londoner Büro, einer bescheidenen Studierstube, bis zur Decke gefüllt mit Büchern, die von sechs Jahrzehnten Tätigkeit als Verleger künden. Hinter ihm an der Wand hängt ein Bild des Wiener Stephansdoms. Ein Dreivierteljahrhundert ist es nun her, dass George Weidenfeld seine Heimatstadt verlassen musste.


Lord Weidenfeld, vor 75 Jahren wurde Österreich ein Teil des Dritten Reichs. Wie erlebten Sie als 18-Jähriger in Wien den Anschluss?

George Weidenfeld: Meine Generation wurde sehr früh politisiert. Wir sprachen praktisch über nichts anderes als über den Aufstieg der Nazis. Ich befand mich damals in meinem ersten Jahr an der Universität, wo ich Jus studierte. Gleichzeitig war ich an der Diplomatischen Akademie eingeschrieben. Dort lernte ich vor allem fremde Sprachen, was mir später das Leben retten sollte. Am Montagmorgen nach dem Anschluss wurde mein Vater ins Gefängnis geworfen. Am Samstag davor, dem 12. März 1938, war Adolf Hitler nach Wien gekommen; am Freitag hatten meine Kommilitonen von der Akademie und ich für Kanzler Kurt Schuschnigg und ein freies Österreich demonstriert, denn für den Sonntag war ein Referendum über die Zukunft des Landes angekündigt. Als wir die Ringstrasse passierten, kamen Angehörige der illegalen Nazi-Partei aus den Seitenstrassen. Sie hatten Lederhosen an und riefen: «Volksabstimmung abgesagt!» Schuschnigg hatte kapitulieren müssen. Anstatt dass wir uns wie geplant vor dem Kanzleramt versammelten, gingen wir einzeln nach Hause. Dort hatte sich bereits die ganze Familie vor dem Radio versammelt. Schuschnigg hielt eine Abschiedsrede. Danach wurde die österreichische Hymne gespielt, sehr langsam, danach die deutsche Hymne, also dieselbe Melodie, nun aber sehr rasch.

Wie wirkten sich die politischen Ereignisse auf Ihr Leben aus?

In der Diplomatischen Akademie sagte mir der Direktor, er habe noch keine Anweisungen, was er nun zu tun habe, denn die Akademie war dem Aussenministerium unterstellt, nicht dem Reichsministerium für Erziehung. Uns jüdischen Studenten teilte er mit, dass wir zwar nicht mehr in der Akademie studieren könnten, im Juni aber noch unser Examen ablegen dürften. Um sich auf das Examen vorzubereiten, brauchte man allerdings die Manuskripte aus den Kursen. Unter den Kommilitonen gab es einen, der ein Jahr älter war als ich und bereit war, mir seine Notizen vom Vorjahr zu überlassen. Das war der spätere Bundespräsident Kurt Waldheim. Aus diesem Grund habe ich Waldheim immer verteidigt, als in den 1980er-Jahren die grosse Kontroverse um seine Rolle im Zweiten Weltkrieg begann. Was er im Krieg getan hat, weiss ich nicht, aber er war unter den Studenten der Akademie der Einzige, der nach dem Anschluss das Risiko auf sich nahm, ein jüdisches Haus zu besuchen.

Aus heutiger Sicht erscheint der Anschluss als beinahe unvermeidliche Konsequenz der Ereignisse. Täuscht dieser Eindruck?

Ja und nein. Die Deutschen rückten mit einer militärischen Macht an, gegen die das österreichische Militär keine Chance gehabt hätte. Widerstand wäre sinnlos gewesen. Dass die Österreicher in ihrer Mehrheit Nazis waren, glaube ich nicht. Hätte es eine freie Abstimmung gegeben, hätten wohl 65 Prozent den Anschluss abgelehnt, schliesslich waren Sozialisten und Christlich-Soziale noch immer sehr stark. Ich schätze, dass allenfalls 35 Prozent die Unabhängigkeit Österreichs aufgeben wollten. In ihrer Mehrzahl wollten nicht einmal die österreichischen Nazis den Anschluss. Eher wollten sie einen zweiten deutschen Staat, der mit dem Dritten Reich verbündet sein sollte.

Welchem politischen Lager fühlten Sie sich zum Zeitpunkt des Anschlusses zugehörig?

Als der Anschluss kam, war ich bereits Zionist. Als Heranwachsender war ich Sozialist gewesen, doch nachdem der Austrofaschist Engelbert Dollfuss 1934 Kanzler geworden war, musste man als Sozialist im Untergrund weiterarbeiten. Einige Freunde wollten mich überreden, dies zu tun, aber ich entschied mich dagegen, weil ich sah, dass die Kommunisten dort eine immer wichtigere Rolle einnahmen. Also wurde ich stattdessen in der zionistischen Studentenbewegung aktiv. Ich komme aus einem sehr jüdischen Milieu, meine Mutter stammte aus einer Dynastie berühmter und bedeutender Rabbiner. Ich litt unter dem verbreiteten Antisemitismus, und seit dem Verbot der SPÖ durch Dollfuss hatte ich keine politische Heimat mehr.

In dieser Situation ein Visum zu bekommen, war schwierig. Wieso konnten Sie dennoch bald nach England ausreisen?

Aufgrund eines glücklichen Umstands konnte ich im Juli ausreisen. Der zuständige Offizier in der britischen Botschaft sagte meiner Mutter und mir, wir müssten sicherstellen, dass ich dem britischen Steuerzahler nicht zur Last fallen würde. Da begann meine Mutter zu weinen und sagte: «Er ist mein einziger Sohn.» Aus Mitleid stellte der Mann mir ein befristetes Visum für drei Monate aus.

In London kamen Sie als mittelloser Flüchtling an. Mussten Sie nicht damit rechnen, das Land schon bald wieder verlassen zu müssen?

Was aus mir werden würde, war äusserst ungewiss. Jede Woche musste ich mich bei der Polizei melden. Ich musste mit nichts beginnen. Doch dann geschah etwas Wunderbares: Ich wurde von einer protestantischen Familie aufgenommen, die mich wie ihren eigenen Sohn behandelte. Wenige Wochen nach der Besetzung Prags durch die Deutschen im März 1939 wies mich mein Gastgeber auf eine Anzeige in der «Times» hin: Wegen des nationalen Notstands baute die BBC ihren Foreign Service aus. Sie suchte Leute, die ausländische Sendungen hörten und auswerteten. Ich war damals 19 und sprach fünf Sprachen. Dennoch rechnete ich mir keine grossen Chancen aus, denn es gab Tausende Flüchtlinge, die für den Job geeignet erschienen. Doch mein Gastgeber, ein tief religiöser Mann, sagte, es sei Gottes Wille, dass ich mich bewerbe. Zu meiner Überraschung bekam ich den Job, für drei Monate beziehungsweise für die Dauer des nationalen Notstands, wie es im Vertrag hiess. Ob ich dauerhaft bleiben konnte, war also nach wie vor ungewiss. Doch bald machte ich bei der BBC einen erfolgreichen Aufstieg. In den letzten drei Kriegsjahren wurde ich aussenpolitischer und diplomatischer Korrespondent. Als solcher beschäftigte ich mich mit den Exilregierungen der besetzten Nationen, die in London ansässig waren. So traf ich unter anderem Eduard Benes, Wladyslaw Sikorski und Charles de Gaulle, aber auch Vertreter des deutschen und italienischen Widerstands. Auch mit den führenden Exponenten des Zionismus wie Chaim Weizmann und David Ben Gurion kam ich nun zusammen.

Ihre Eltern waren währenddessen noch immer in Wien.

Ende Juni 1939 gelang es mir, meine Eltern nach England zu bringen. Mein Vater war kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden. Wäre er nur wenige Monate länger geblieben, wäre er wohl ein zweites Mal festgenommen und schliesslich ins KZ gebracht worden, denn die Nazis planten einen Schauprozess gegen jüdische Geschäftsleute, die beschuldigt wurden, Anti-Nazi-Bewegungen finanziert zu haben.

Obschon Sie ein überzeugter Zionist waren, entschieden Sie sich nach dem Krieg für ein Leben in England. Warum siedelten Sie nicht dauerhaft in den neu gegründeten Staat Israel über?

1949 lud mich Israels erster Präsident Chaim Weizmann ein, meine Ferien in Israel zu verbringen. Einmal dort angekommen, sagte man mir, um die Beziehungen zwischen Weizmann, Premierminister Ben Gurion und dem Aussenministerium stehe es nicht allzu gut. Um dies zu ändern, brauche Weizmann einen Mitarbeiter, der keine politische Vergangenheit habe. Also bot man mir den Job an. Es war ein furchtbares Dilemma, in dem ich mich befand, denn ein Jahr zuvor hatte ich in London zusammen mit Nigel Nicolson einen Verlag gegründet. Als ich Nicolson von dem israelischen Angebot erzählte, sagte er: «Gehen Sie für ein Jahr, aber geben Sie mir Ihr Ehrenwort, dass Sie zurückkehren.» So kam es, dass ich im Alter von 29 Jahren Kabinettschef des israelischen Präsidenten wurde, was bedeutete, dass ich protokollarisch allen Ministerialbürochefs, die durchgehend deutlich älter waren als ich, im Rang vorstand. Offenbar machte ich meine Sache gut, denn als ein Jahr vorüber war, bat mich Weizmann zu bleiben. Da ich aber bei Nicolson im Wort stand, musste ich nach London zurückkehren. «Wenn ich nach London zurückkehre», so sagte ich meinen israelischen Freunden zum Abschied, «werde ich jeden Morgen, wenn ich aufstehe, an Jerusalem denken, und jeden Abend, wenn ich zu Bett gehe.»

In London stiegen Sie vom mittellosen Emigranten zum bedeutenden Verleger auf. Wie gelang Ihnen das?

Es war nicht immer einfach. Es gibt hier in England zwar zahlreiche erfolgreiche Ausländer, die dann aber meist in der Finanzbranche arbeiten. Politiker, Journalisten oder Verleger mit ausländischen Wurzeln gibt es hingegen nicht allzu viele. Bei mir war entscheidend, dass ich für die BBC arbeitete, wo ich interessante Leute kennenlernte, darunter Harold Nicolson. Er führte mich in Londons literarische Szene ein.

Stellte die britische Klassengesellschaft je ein Hindernis für Sie dar?

Die Engländer sind Individualisten. Wenn es darum geht, wen sie akzeptieren und wen sie zurückweisen, entscheiden sie ad personam, nicht ad genus. Sie hassen oder mögen nicht die Juden, die Franzosen oder die Ungarn, sondern Mr. X oder Mr. Y. Entscheidend ist, ob man mit jemandem reden kann, wie er sich benimmt, ob er lustig ist oder langweilig. Einerseits sind die Briten also sehr offen, andererseits ist es auch kompliziert: Wer anderswo akzeptiert ist, muss hier noch alle möglichen Prüfungen bestehen. Reiche oder berühmte Einwanderer, die anderswo viel gelten, werden in England unter Umständen nicht akzeptiert. Andererseits können Leute, die anderswo als Leichtgewichte gelten, hierzulande in die höchsten Ebenen der Gesellschaft aufsteigen. Mein Freund Alexander Korda zum Beispiel, ein ungarischer Einwanderer, amüsierte die Leute und wurde in London ein bedeutender Filmproduzent.

Haben Sie in England jemals Antisemitismus gespürt?

Jedes Land hat seine eigene Form des Antisemitismus. Dieser kann wirtschaftliche, religiöse oder ästhetische Gründe haben. Länder, die lange Zeit keine professionelle Mittelklasse hatten, sind in der Regel deswegen antisemitisch, weil dort die Juden die entsprechenden Positionen einnahmen. In Osteuropa sagen die Leute: „Schauen Sie doch nur mal ins Telefonbuch, alle Ärzte und Anwälte sind doch Juden.“ Diese Art des Antisemitismus gibt es in England nicht, denn in England existierten seit dem Mittelalter Gerichtshöfe, Handelshäuser und Banken. Einige Juden machten dennoch Karriere, etwa der Bankier Siegmund Warburg, aber die Engländer fürchteten die Juden nie als Konkurrenten. Auch religiöser Antisemitismus ist hierzulande nicht besonders verbreitet, denn die anglikanische Staatskirche war in dieser Hinsicht meist sehr tolerant. Sie war allenfalls antikatholisch.

Ein anderer Fall ist Deutschland: Wie konnte die Katastrophe des Nationalsozialismus in diesem entwickelten und zivilisierten Land geschehen?

Ich war immer sehr deutschfreundlich. Ich habe eine dreifache Loyalität: erstens zu Grossbritannien, das mir und meinen Eltern das Leben rettete und mich gut behandelte. Zweitens zum Judentum, meinem Stamm, dem ich verbunden bleibe wie einer Familie: Den einen mag ich, den anderen nicht, aber wenn ich in Venedig in die Synagoge gehe, treffe ich freundliche Leute. Und drittens zur europäischen Kultur, die mir durch die deutsche Sprache nähergebracht wurde, zu Goethe, Schiller, Conrad Ferdinand Meyer, Mozart und Haydn. Ich glaube, dass Adolf Hitler ein vermeidbares Phänomen war. Es waren die Hintertreppen-Intrigen der Papens und Schleichers, jener Politiker, die Hitler falsch einschätzten und ihn dadurch an die Macht brachten. Er war wie ein Gangster, der die Deutschen hypnotisierte. Nach dem Krieg hatte ich nie Probleme mit den Deutschen. Heute ist ein Deutscher mein bester Freund: Mathias Döpfner, der Chef des Berliner Springer-Verlags.

Obwohl Sie selbst vor den Nazis fliehen mussten, haben Sie einmal gesagt, der heutige Islamismus sei schlimmer als der Nationalsozialismus. Warum?

In der Tat glaube ich, dass der Jihadismus gefährlicher ist als der Nationalsozialismus. Ich war entsetzt, als ich erfuhr, dass es eine noch grössere Barbarei gibt als die der SS und der Gestapo, aber es ist so: Schauen Sie sich an, was derzeit in Syrien geschieht. Selbst Kannibalismus hat es dort gegeben. Die Jihadisten sind der Abschaum der Erde. Hätten sie die Chance dazu, sie würden nicht sechs, sondern 30 Millionen ermorden.

Sind Sie optimistisch, was Israels Zukunft anbelangt?

Im Moment mache ich mir Sorgen. Selbstverständlich brauchen wir eine Zweistaatenlösung. Dafür muss Israel Konzessionen machen, aber es ist auch notwendig, dass die Gegenseite unser Existenzrecht anerkennt. Wäre ich 30 Jahre jünger, würde ich mit aller Kraft für ein Ziel arbeiten: die Akzeptanz Israels als Teil Europas. Die EU hat ja auch Zypern aufgenommen und diskutiert darüber, die Türkei aufzunehmen, obwohl 85 Prozent von deren Staatsgebiet in Asien liegen. Ausserdem waren die sechs Millionen Opfer des Holocaust allesamt Europäer. Es gab keine brasilianischen oder südafrikanischen Juden in Auschwitz. Abgesehen davon ist Israel kein Sanierungsfall wie Rumänien oder Bulgarien, ganz im Gegenteil: Israel ist reich und produktiv, und vor seiner Küste gibt es vielversprechende Öl- und Gasvorkommen.

In der öffentlichen Meinung Europas hat Israel heute einen schweren Stand.

Leider hat Israel bis jetzt den Propagandakrieg verloren. Gewiss, es gibt auch Zeichen der Hoffnung: Die deutsche Regierung zum Beispiel steht Israel freundlich gegenüber, die deutschen Medien jedoch ganz und gar nicht. Seit dem Sechstagekrieg von 1967 glaubt die europäische Linke, Israel sei nun der Goliath im Nahen Osten, nicht mehr der David. Leider hat es sich als ausserordentlich schwierig erwiesen, den westlichen Medien die wahren Verhältnisse in Erinnerung zu rufen. Hinzu kommt, dass die derzeitigen Entwicklungen in der arabischen Welt kaum zu Israels Gunsten ablaufen.

In die Umwälzungen des arabischen Frühlings setzten zahlreiche Kommentatoren grosse Hoffnungen. Nun, so glaubten sie, werde es zu einer Demokratisierung der arabischen Welt kommen. War diese Annahme naiv?

Die meisten Kommentatoren gingen von der idealistischen, von Denkern wie Hegel und Kant inspirierten Vorstellung aus, die Geschichte der Menschheit sei eine Geschichte des steten Fortschritts hin zur Freiheit. Eine Gesellschaft, so glauben diese Leute, entwickle sich von der Monarchie über die Despotie und die Oligarchie hin zur Demokratie. Doch das ist nicht wahr. Nehmen Sie Russland: Vom Kommunismus führte der Weg dort zu einem kurzen und unglücklichen demokratischen Intermezzo unter Boris Jelzin und schliesslich zu einer eklektischen, zynischen Oligarchie, in der man alles tun kann, solange man Putin Macht und Geld überlässt: Man kann Stalin bewundern, in die Kirche gehen, die alte Hymne singen und die Zarenfamilie betrauern, solange man nur die Regierung nicht angreift. In der arabischen Welt werden die derzeitigen Entwicklungen mit Sicherheit zu einem islamischen Gottesstaat führen. Ich sehe dort nicht das geringste Anzeichen einer demokratischen Entwicklung.

Wechseln wir das Thema. Gab es ein Buch, von dem Sie sagen können: Dieses Werk bedeutete meinen Durchbruch als Verleger?

Da müsste ich einige nennen. Vladimir Nabokovs „Lolita“ verschaffte uns als Verlag den Ruf, dass wir bereit waren, grosse Risiken einzugehen. „Lolita“ überstrahlte alles, aber wir hatten auch sonst grosse Namen im Programm, Schriftsteller wie Mary McCarthy, Saul Bellow und Heinrich Böll, um nur einige wenige zu nennen. Grossen Erfolg hatten wir auch mit den Memoiren grosser Staatsmänner wie Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Lyndon B. Johnson oder Henry Kissinger.

Täuscht der Eindruck, dass Ihnen die Staatsmänner immer näher standen als die Belletristen?

Tatsächlich bin ich eher ein non-fiction-man. Nicht, dass es mir an Begeisterung für Belletristik mangelt, aber vom Temperament und Intellekt her liegen mir Politiker und Wissenschaftler näher. Ich bin ein Liebhaber der Geschichte und mag es, mich mit Taten und Ideen zu befassen. So gesehen bin ich eher Römer als Grieche. Auch im persönlichen Umgang habe ich mich mit Politikern meist besser verstanden als mit Poeten.

Wer war der interessanteste Staatsmann, dem Sie begegnet sind?

Charles de Gaulle kannte ich sehr gut, er war ein sehr guter und professioneller Autor. Er hatte die Vorliebe, nur Französisch zu sprechen, dabei aber immer durchblicken zu lassen, dass er andere Sprachen perfekt beherrschte. Zum Beispiel konnte er beiläufig fragen: «Sagen Sie, das Wort sidewalk, ist das die amerikanische Version des englischen Worts pavement?» Auch Papst Johannes Paul II. faszinierte mich. Er wollte mit Intellektuellen aus Ost und West diskutieren, also berief er ein Kolloquium in seiner Sommerresidenz ein. Ich war einer der Gäste. 13-mal war ich in Castel Gandolfo. Meistens gesellte sich der Papst zu uns, wenn wir beim Abendessen waren. Johannes Paul hörte sehr gut zu und sagte stets, was er dachte. Er kam mir eher vor wie der Leiter eines Wissenschaftskollegs als wie ein Kirchenfürst. 

Welchen Eindruck hatten sie von Konrad Adenauer?

Ich durfte ihn in seinen Sommerferien in Norditalien besuchen, weil ich der einzige ausländische Verleger war, der Deutsch sprach. Adenauer hatte es ja nicht so mit Fremdsprachen. Seinen trockenen Humor und seine Selbstironie fand ich wunderbar. Er sammelte Witze über sich selbst. Eine seiner Stärken war, dass er die kompliziertesten Probleme der Weltpolitik auf schlichten Kaffeeklatsch reduzieren konnte.

Kannten Sie Margaret Thatcher?

Ich kannte sie recht gut. Wenn man sieht, was sie bewegte, muss man sie zu den drei Grossen Englands rechnen: Churchill, Thatcher, Lloyd George. Sie hat die Gesellschaft verändert. Im Privaten war sie sehr höflich und wissbegierig. Wenn sie etwa an die Salzburger Festspiele reiste, las sie vorher Bücher und Aufsätze über die Opern und Konzerte. Als Politikerin hatte sie eine unterschätzte pragmatische Seite. Sie wusste stets, wie weit sie gehen konnte.

Auch Helmut Kohl haben Sie öfter getroffen. Glauben Sie, dass man ihn unterschätzt hat?

Unter den europäischen Politikern war Helmut Kohl der Mann, den ich am liebsten mochte. Dass er unterschätzt wurde, glaube ich nicht, zumindest nicht von denen, die ihn wirklich kannten. Sie wussten immer, dass er ein hervorragender Staatsmann war. Trotzdem war er bescheiden und taktvoll und wusste dies auch einzusetzen. Wenn er zum Beispiel mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand zusammen war, gab Kohl seinem Gegenüber immer das Gefühl, dass er, Mitterrand, der Präsident war, und Kohl nur der Kanzler. De Gaulle war auch ein grossartiger Mann, doch das Erbe, das Kohl hinterliess, war grösser.

Was halten Sie von Kohls Nachfolgerin Angela Merkel?

Von Merkel habe ich die allerhöchste Meinung. Ich kenne sie gut, und das bereits seit ihrer Zeit als Oppositionsführerin. Damals verbrachte ich ein langes Wochenende mit ihr und anderen in Mecklenburg-Vorpommern, wo wir über die weltpolitische Lage diskutierten. Sie hat die Menschlichkeit, Persönlichkeit und auch die Integrität, Grosses zu leisten. Merkel ist heute die bedeutendste Politikerin des Westens, nicht nur Europas.

Auch die amerikanische Politik haben Sie über Jahrzehnte beobachtet. Unter anderem haben Sie Lyndon B. Johnson und das Ehepaar Clinton kennengelernt. Ist Clintons Parteikollege Barack Obama ein guter Präsident?
Nein. Er ist zweifellos intelligent, ein glänzender Redner und Präsentator, aber er hat kein Gefühl für die Aussenpolitik. Vor allem Europa und die arabische Welt schätzt er völlig falsch ein. Obama weiss nicht, was er will:  Bis jetzt konnte er sich noch nicht entscheiden, ob er ein Isolationist oder ein Interventionist sein will. Vor allem seine Kairoer Rede zu Beginn seiner ersten Amtszeit war eine einzige Katastrophe. Der Westen und die jüdisch-christliche Zivilisation sind Begriffe, die für Obama keine Bedeutung haben.


Erschienen in der „Basler Zeitung“ vom 11. Juli 2013

 

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Karl Krähling / 12.07.2013

Nun bin ich durch die Aussage Lord Weidenfelds („In der Tat glaube ich, dass der Jihadismus gefährlicher ist als der Nationalsozialismus“) doch etwas irritiert. Wo bleibt denn da der Anspruch, dass die Nazis das absolut Böse auf der Welt verkörpern? Helmut Kohl (den er unter den europäischen Politikern „am liebsten mochte“), Frau Merkel (die heute „bedeutendste Politikerin des Westens, nicht nur Europas“) und Mathias Döpfner (sein „bester Freund“) werden es gerne hören. Helmut Schmidt scheint unter Zionisten nach seinem Streit mit Menachem Begin etwas in Ungnade gefallen zu sein.

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