93 Jahre alt war George Weidenfeld, als er mich im Sommer 2013 in seinem Londoner Verlagshaus empfing. Mochte der Gastgeber auch den noblen Titel eines Lords tragen, hier wurde gearbeitet, nicht Hof gehalten. Bis an die Decke reichten die Bücherregale in Weidenfelds Büro, eine kleine Lücke aber liessen sie, und in dieser hing ein Stahlstich des Wiener Stephansdoms.
Seine Geburtsstadt hatte Weidenfeld ein Dreivierteljahrhundert zuvor verlassen müssen, nachdem die erste österreichische Republik 1938 in Hitlers Reich verschwunden war. In London kam er als mittelloser Flüchtling an; während des Krieges arbeitete er für den deutschsprachigen Dienst der BBC. 1948 gründete er zusammen mit Nigel Nicolson ein Verlagshaus, das Weltgeltung erlangen sollte.
Der mir da gegenübersass, war nicht alt. So plastisch und präzise erzählte er aus seinem Leben, dass die Wiener Ringstrasse genauso vor meinem inneren Auge erstand wie das London der Vierzigerjahre oder Jerusalem, wo Weidenfeld 1949, gerade einmal 29, ein Jahr lang als Kabinettschef von Israels erstem Präsidenten Chaim Weizmann gewirkt hatte.
Ein Verleger wettet auf die Zukunft, auf die Launen des Publikums, auf den Zufall auch. Ohne Risikobereitschaft ist das nicht zu machen, auch nicht ohne die richtigen Verbindungen. Über beides verfügte George Weidenfeld in hohem Masse. Als seinen grössten Coup bezeichnete er rückblickend Vladimir Nabokovs «Lolita» (1959). Mehrere Londoner Verlage hatten das Buch zuvor abgelehnt, aus Angst, wegen Pornografie angeklagt zu werden.
Weidenfeld indes interessierten Politik und Geschichte mehr als Belletristik. Er sei «eher Römer als Grieche». Zu seinen Freunden zählten Literaten und Politiker. Ein generöser Gastgeber und Beziehungskünstler, der zusammenzubringen suchte, was unvereinbar schien, oft mit Erfolg, manchmal auch nicht: Dass er sowohl Helmut Kohl («ein hervorragender Staatsmann, bescheiden und taktvoll») als auch Fritz J. Raddatz, den kanarienvogelhaften Feuilletonchef der Zeit, zu seinen Freunden zählte, verdross Letzteren ganz ungemein, wie in Raddatz’ Tagebüchern nachzulesen ist. Weidenfeld lebte in einer grösseren Welt als die meisten seiner Zeitgenossen.
Bitterkeit gegenüber Deutschen und Österreichern erlaubte er sich nie, vielleicht auch, weil er die Menschen immer als Individuen betrachtete. Ausgerechnet Kurt Waldheim, der in den Achtzigerjahren als österreichischer Bundespräsident wegen seiner Weltkriegsvergangenheit unter Druck geriet, hatte ihm einmal geholfen: Nachdem Weidenfeld 1938 die Wiener Diplomatische Akademie hatte verlassen müssen, brachte ihm Waldheim, sein Kommilitone, die Manuskripte nach Hause, sodass sich Weidenfeld auf das Examen vorbereiten konnte. «Er war der Einzige, der (...) das Risiko auf sich nahm, ein jüdisches Haus zu besuchen.»
Weidenfeld vergass es ihm nicht, genauso wie er sich daran erinnerte, dass es Quäker gewesen waren, die ihn nach seiner Ankunft in England bei sich aufgenommen hatten. Auch aus Dankbarkeit widmete er seine letzten Lebensmonate der Hilfe für die bedrängten orientalischen Christen.
«Wenn der Tod kommt, bin ich einfach nicht da», bemerkte er in Hinblick auf sein biblisches Alter einmal scherzhaft. Am Mittwoch ist George Weidenfeld im Alter von 96 Jahren in London gestorben.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung