Gastautor / 19.08.2008 / 20:10 / 0 / Seite ausdrucken

Gunnar Heinsohn: Darum sind die Georgier weggelaufen

Gerade zwei Tage dauert die georgische Offensive vom 7. August in Südossetien, als russisches Militär auftaucht und die amerikanisch und israelisch gesponserte Armee die Flucht ergreift und die geschundenen Landsleute im Stich lässt. Weil die Moskowiter mit ihren 140 Millionen Menschen so mächtig, die Georgier mit nicht einmal fünf Millionen aber so schwach seien, habe es eine andere Möglichkeit nicht gegeben. Aber stimmt das?

Die Sowjetunion des Jahres 1979 steht mit 300 Millionen Bürgern viel gewaltiger da als Putins Russland. Doch als Breschnews Armeen Afghanistan überfallen, nimmt sich das Land von damals gerade 15 Millionen nicht nur zwei Tage, sondern ein volles Jahrzehnt Zeit, um den kommunistischen Giganten zu demoralisieren. Obwohl über eine Million Afghanen ihr Leben verlieren, geben sie niemals auf. Wo fünf oder auch zehn Mudschaheddin beim Zielen auf einen Jagdbomber umkommen, gelingt dem elften doch der Abschuss. Nach 15.000 Gefallenen, von denen viele als einzige Jungen von ihren Müttern vor dem Kreml beweint werden, weicht der Koloss, der damals immerhin noch Weltmacht ist und nicht nur die atomare Mittelmacht von heute.

Doch die Afghanen lassen es bei dieser Ermutigung für die Davids dieser Welt nicht bewenden. Seit 2001 bekämpfen sie mit der NATO den größten aller Goliaths, der in 26 Staaten 850 Millionen Menschen mit 70 Prozent der globalen Rüstungsgelder hinter sich hat. Die bestbewaffneten Soldaten der Geschichte müssen immer wieder in ihren Festungen und gepanzerten Fahrzeugen Schutz suchen. Dabei sind die Taliban selbst nicht einmal mehr hinter ihren Felswänden sicher, weil die Lenkwaffen unbemannter Drohnen so gut wie jeden Winkel erreichen. Könnte es für die grusinische Jugend mehr Ermutigung geben als diesen Kampfgeist in dem Bergland weiter östlich, das ungeachtet schwerster Verluste auf jetzt 33 Millionen Einwohner hochgeschossen ist?

Womöglich wollen die Georgier lieber vom Gazastreifen lernen. Der hat 1967 gerade mal 350.000 Einwohner und beginnt dennoch seinen Krieg gegen die militärische Hightechnation Israel mit damals achtmal so viel Menschen. Dabei verlieren die Palästinenser – ganz wie die Afghanen – mehr Männer in Bruderkämpfen und Bandenkriegen als im Feindeinsatz und dennoch sind sie mit nunmehr 1,5 Millionen Einwohnern noch kriegswilliger als vierzig Jahre zuvor. Anders als die Afghanen, aber ganz wie die Georgier, haben sie dabei die Sympathie ungezählter Bürger des Westens.

Wenn selbst Fatah und Hamas den georgischen Siegeswillen nicht zu stimulieren vermögen, wird er vielleicht durch einen Blick in den Irak wieder aufgerichtet. In Mesopotamien hört seit dem 1980er Angriff auf Iran, als Saddam Hussein gerade mal 13 Millionen Bewohner beherrscht, das Töten nicht auf. Neben Kriegen, Bürgerkriegen und Genoziden zieht man 2003 immerhin schon zum zweiten Mal gegen NATO-Staaten zu Feld, deren Soldaten ihr Heil entweder in der Flucht zurück nach Europa suchen oder in verbunkerte Quartiere gezwungen werden. Unterdessen springt Iraks Einwohnerschaft auf 30 Millionen.

Solche Beispiele ließen sich leicht vermehren und doch ermutigen sie die Heißsporne Georgiens nicht, das überdies seit 1995 demographisch nicht etwa zugelegt, sondern eine halbe Million Einwohner verloren hat. Die Georgier scheinen am ehesten noch die Serben als Vorbild zu sehen. Die halten sich im Frühjahr 1999 gegen die NATO-Allianz zwar nicht nur ein paar Tage, sondern – mit gut zehn Millionen Menschen – ein paar Monate, verlassen aber doch kampflos ihre alte Kulturprovinz Kosovo. Als die separatistischen Albaner im Februar 2008 auch formal ihre Unabhängigkeit erklären und alle Welt auf serbischen Widerstand à la Irak oder Afghanistan rechnet, reibt sie sich verdutzt die Augen. Gewiss, die Bilder mit Machogehabe, Drohgebärden, martialischer Kluft und den legendären Sturmgewehren stimmen. Das sieht kaum anders aus als in Gaza oder im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Dann aber bleibt es bei Parolen, Aufmärschen und ein paar Benzinflaschen gegen Botschaften von NATO-Staaten.

Wenn sich zwei Siege ähneln, dann die Blitzerfolge über Georgien und Serbien durch Mächte, die andernorts selbst in Jahrzehnten nicht vorankommen. Was unterscheidet die schnell geschlagenen Kleinen von den schwer besiegbaren Minimächten? Warum haben letztere Märtyrer ohne Ende, die jede „Schmach“ rächen, während ersteren ein todesmutiger Heroismus entschieden abgeht? Warum verlieren die einen Schlacht um Schlacht und bleiben dennoch siegesgewiss, während die anderen schon nach der ersten Bataille Reißaus nehmen? Bei den Georgiern (1,4 Kinder pro Frau) und Serben (1,7) werden potentielle Helden gar nicht erst geboren. Ihre männlichen Nachkommen sind einzige Söhne oder gar einzige Kinder. Alle haben eine Zukunft, weshalb sie zwar zornig werden, aber so gut wie nie selbstmörderischen Kommandos beitreten. Bei solcher Demografie werden Verluste einfach nicht verkraftet – es sei denn, der Gegner will nicht weniger als Völkermord. Zumindest die georgische Regisseurin Nino Haratischwili spürt die demografische Kapitulation hinter der militärischen ihres Landes, wenn sie jenseits allen Heroismus fragt: „Warum ist überhaupt auch nur ein einziger Mensch gestorben?“ (Die Welt, 16-08-08, S. 17).

Die meisten NATO-Staaten und Russland stecken im selben demografischen Sinkflug wie Serbien und Georgien. Die einzige für sie vorteilhafte Asymmetrie besteht darin, dass sie absolut sehr viel mehr einzige Söhne oder Kinder haben als die Besiegten. Die für Länder wie Afghanistan oder Gaza vorteilhafte Asymmetrie allerdings sieht ganz anders aus. Sie haben in jeder neuen Generation zweite bis vierte Söhne, die bis zum Tode kämpfen können, ohne dass ihre Gesellschaft in der Substanz getroffen wird, während NATO und Russland über eine solche demografische Waffe schlichtweg nicht verfügen. Mit jedem Gefallenen erlischt eine Familie.

Auf 1000 afghanische oder gazanische Männer zwischen 40 und 44 Jahren, die übers Kampfalter hinaus sind, folgen 2000 bis 3000 jetzt Aktive im Alter von 20 bis 24 und 4000 bis 5000 Knaben zwischen 0 und 4, die ab 2018 waffenfähig werden. In Deutschland dagegen geht es von 1000 vierzigjährigen Männern über 660 zwischen 20 und 24 herunter auf 470 zwischen 0 und 4. Selbst Amerika als letzte Weltmacht und mit immerhin zwei Kindern pro Frau (gegen 1,2 in Russland, aber 6 bis 7 in Gaza und Afghanistan) ist ungeachtet seiner absoluten Größe von 300 Millionen Einwohnern nur begrenzt kampffähig. Auf 1000 Vierzigjährige folgen bei dieser demografischen Neutralität halt auch nur 1000 Zwanzigjährige und auf die wiederum lediglich 1000 Vierjährige. Die russische Sequenz lautet: 1000>1320>620 und sorgt dafür, dass die Zahl seiner Arbeitsfähigen von jetzt 75 Millionen bis 2050 auf circa 45 Millionen absinkt (etwa so viel wie im heutigen Deutschland). Das sollte im Auge behalten, wer hier die Wiederkehr einer Supermacht an die Wand malt.

Die USA könnten zwar ebenso schnell wie Russland eine Nation der demografischen Struktur Georgiens besiegen, aber sie können Georgien gegen Russland nicht auf dieselbe Weise stärken, wie sie nach 1979 Afghanistan gegen Russland stark gemacht haben. Die Afghanen brauchten nur Waffen gegen russische Flieger, die Georgier benötigen darüber hinaus aber todesmutige Männer. Die kann ihnen aus dem Westen niemand anbieten. Russland weiß deshalb, dass ihm in Georgien nie und nimmer passieren kann, was ihm in Afghanistan widerfuhr, wo seine einzigen Söhne gegen dritte und vierte Brüder des Gegners verheizt wurden.

Doch schon gegenüber der Ukraine, die Experten gerne als nächstes Ziel Russlands hervorheben, wird es den georgischen Husarenstreich kaum wiederholen. Russland hat 12 Millionen unheroische junge Männer zwischen 20 und 24 Jahren, die gerne plündern mögen, aber auch ohne Heldentod ein passables Ansehen erwerben können. Knapp 400.000 Georgier ähnlichen Zuschnitts sind dagegen chancenlos. Aber bald 4 Millionen ukrainische Jünglinge wären eine ungleich zäherer Bissen. Die Ermutigung des vergreisenden georgischen Zwerges durch den vergreisenden Riesenwesten gegen das vergreisende Großrussland war töricht, für die ebenfalls vergreisende ukrainische Mittelmacht aber darf man sich mit dem Recht der Menge durchaus ins Zeug legen. 

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