Rainer Grell / 25.05.2017 / 15:19 / Foto: Parpan05 / 10 / Seite ausdrucken

Gott, die Kirche und ich (1)

Die verrücktesten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst. Da geht der amerikanische Linguist und Missionar Daniel Everett im Alter von 26 Jahren mit Frau und Kindern zu den Pirahã-Indianern (sprich Pi-da-HAN), um deren Sprache zu lernen und das 300 Menschen umfassende Völkchen am Amazonas im Auftrag der evangelikalen Kirchen in den Vereinigten Staaten zum Christentum zu bekehren. In einem Zeitraum von drei Jahrzehnte hat er insgesamt sieben Jahre bei diesem Naturvolk gelebt. Am Ende kehrte er als geschiedener Atheist in die Zivilisation zurück und fasste seine Erlebnisse und Erfahrungen in einem Buch mit dem deutschen Titel „Das glücklichste Volk“ zusammen (DVA 2010).

Eine seiner liebsten Arten des Gutenachtsagens war die Formel „Schlaf nicht, hier gibt es Schlangen.“ Und so lautet auch der amerikanische Titel seines Buches: „Don’t Sleep, There are Snakes. Life and Language in the Amazonian Jungle“ (Pantheon 2008). Sein Fazit lautet: „Die Pirahã haben mir gezeigt, dass es Würde und tiefe Zufriedenheit mit sich bringt, wenn man sich ohne den Trost des Himmels und ohne Angst vor der Hölle mit Leben und Tod auseinandersetzt und dem großen Abgrund mit einem Lächeln entgegengeht. Solche Dinge habe ich von den Pirahã gelernt, und dafür werde ich ihnen dankbar sein, solange ich lebe.“

Das war eine ziemlich aufwändige Art des Lernens und Erkennens. Stattdessen hätte er auch diesen Vierzeiler (Rubā’ī) des persischen Philosophen, Dichters und Astronomen Omar Chajjam (1048-1131) lesen und beherzigen können (Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers, Insel 12. Aufl. 1990 Nr. 100):

In Kirchen und Moscheen und Synagogen
wird man um seiner Seele Ruh betrogen.
Doch dem, der der Natur Geheimnis ahnt
wird keine Angst vorm Jenseits vorgelogen.

Aber so ist es nun mal: Die einfachste Erkenntnis gewinnt man eben oft erst nach langem, manchmal jahrzehntelangem Bemühen. Ich bin, Sie ahnen es schon, kein gläubiger Mensch. Allerdings würde ich mich nicht als Atheisten bezeichnen. Das überlasse ich anderen wie zum Beispiel Patrick Bahners („Die Panikmacher“, Beck 2011, Seite 202). Meine religiöse Einstellung würde ich vielmehr so beschreiben:

„Einen Gott, der die Objekte seines Schaffens belohnt und bestraft, der überhaupt einen Willen hat nach Art desjenigen, den wir an uns selbst erleben, kann ich mir nicht einbilden. Auch ein Individuum, das seinen körperlichen Tod überdauert, mag und kann ich mir nicht denken; mögen schwache Seelen aus Angst oder lächerlichem Egoismus solche Gedanken nähren. Mir genügt das Mysterium der Ewigkeit und die Ahnung von dem wunderbaren Bau des Seienden sowie das ergebene Streben nach dem Begreifen eines noch so winzigen Teils der in der Natur sich manifestierenden Vernunft.“

Vor dem Zweifler und Skeptiker

Bereits nach den ersten Zeilen haben Sie natürlich gemerkt, dass dieser Text nicht von mir stammt. Es handelt sich vielmehr um die Schlusspassage einer Betrachtung von Albert Einstein „Wie ich die Welt sehe“ (Albert Einstein, Mein Weltbild, hrsg. von Carl Seelig, Ullstein 2001). An anderer Stelle schrieb Einstein über die Religiosität des Forschers, sie liegt „im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens daneben ein gänzlich nichtiger Abglanz ist.“

Nun fühle ich mich zwar mitnichten als Forscher, doch das verzückte Staunen, von dem Einstein spricht, überkommt mich jedes Jahr aufs Neue, wenn Krokusse, Schneeglöckchen, Hyazinthen und Tulpen in unserem Garten aus dem Boden sprießen und die Rhododendren und der Flieder in Blüte stehen gefolgt von Rosen, Hortensien, Clematis und Hibiskus. Und auch das frische Grüne neben dem braunen Laub im nahegelegenen Wald erzeugt in mir ein Gefühl, das manch einer als religiös bezeichnen würde. Oder als unsere beiden Töchter und später unsere vier Enkeltöchter geboren wurden. Alle gesund. Ein Wunder – auch ohne Gott!

Dabei war mir keineswegs in die Wiege gelegt, dass ich ein Zweifler und Skeptiker und am Ende ein Ungläubiger werden würde. Im Gegenteil, ich wurde in der evangelischen Dorfkirche von Treblin/Pommern (heute Trzebielino/Polen) getauft, von meiner Mutter christlich erzogen (der Vater fiel in Russland als ich neun Monate alt war), ging zur Konfirmation und war Mitglied der (evangelischen) Christlichen Pfadfinderschaft (CP). Noch heute halte ich allerdings die Bibel für eines der bemerkenswertesten Bücher, die je geschrieben wurden. Die Passagen, die Himmel und Hölle betreffen, überblättere ich einfach, aber Sätze wie „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ oder „Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“ oder „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ – beeindrucken durch ihre Knappheit und Tiefe.

Es sagt sich so leicht hin, man glaube nicht an Gott, man sei Agnostiker oder gar, mit George Bernard Shaw: “I'm an atheist and I thank God for it.“ (Ich bin Atheist, Gott sei Dank). Für jemanden, der ohne christliche Erziehung aufgewachsen ist, mag das kein Problem sein. Wer aber erst später, sagen wir mit 20, zu dieser Einstellung gekommen ist, der kann die Wirkung der davor liegenden Zeit nicht so ohne weiteres abschütteln. Diese Erkenntnis habe ich schon lange, aber erst kürzlich bekam ich sie von keinem Geringeren als Umberto Eco (1932 - 2016) bestätigt. Eco war nicht nur ein bekannter Romanautor („Der Name der Rose“, „Das Foucaultsche Pendel“), sondern auch ein ebenso bekannter Wissenschaftler: Von 1975 bis 2008 war er Professor für Semiotik, also der Wissenschaft, die sich mit Zeichensystemen aller Art befasst (z. B. Bilderschrift, Gestik, Formeln, Sprache, Verkehrszeichen; sehr lesenswert seine „Esperienze di traduzione“: „Quasi dasselbe mit anderen Worten“, Hanser 2006), an der Universität Bologna (der ältesten Universität Europas). Er hatte die Ehrendoktorwürde von 39 Universitäten aus der ganzen Welt.

In dem Buch „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“ (dtv 1999) korrespondiert Eco mit dem italienischen Kardinal von Mailand Carlo Maria Martini (1927-2012) über grundlegende Fragen der Religion. Eine dieser Fragen, die Martini an Eco stellt, lautet: Worin liegt für Nichtgläubige, denen die Berufung auf einen personalen Gott und dessen Gebote verwehrt ist, „der tiefste und in gewisser Weise der absolute Grund ihres moralischen Handelns“?

Die "weltliche Religiosität"

Bevor Eco auf diese Frage eingeht, macht er eine äußerst interessante Bemerkung. Er schreibt:

„Nun aber macht es mich verlegen, meinerseits auf Ihre Frage zu antworten, denn meine Antwort wäre nur von Bedeutung, wenn ich eine areligiöse Erziehung genossen hätte. Ich war jedoch bis zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr (um den Moment eines Bruchs zu benennen) sehr stark vom Katholizismus geprägt. Die agnostische Perspektive ist für mich kein passiv aufgenommenes Erbe, sondern das leidvoll erkämpfte Ergebnis einer langen und langsamen inneren Wandlung, und ich bin mir nie sicher, ob nicht manche meiner moralischen Überzeugungen immer noch von der religiösen Prägung abhängen, die ich ursprünglich erfahren habe. In bereits vorgeschrittenem Alter habe ich einmal mitangesehen (in einer katholischen Universität außerhalb Italiens, die auch nichtkatholische Professoren einstellt, von denen sie lediglich formale Respektsbekundungen bei akademisch-religiösen Feiern verlangt), wie einige meiner Kollegen zur heiligen Kommunion gingen, ohne an die Transsubstantiation [die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi in der Heiligen Messe] zu glauben und daher auch ohne vorherige Beichte. Schaudernd verspürte ich, nach all den Jahren, noch immer den Schrecken des Sakrilegs.“

Diese Passage hat mich tief beeindruckt; denn sie gibt genau meine eigene Einstellung wieder, ohne dass ich zuvor in der Lage gewesen wäre, sie so anschaulich zu beschreiben. Wir bleiben eben unser Leben lang ein Produkt unserer Gene und unserer Erziehung.

„Dennoch glaube ich sagen zu können“, schreibt Eco weiter, „auf welchen Fundamenten heute meine ‚weltliche Religiosität‘ beruht – denn ich bin fest überzeugt, dass es Formen von Religiosität gibt, also Sinn für das Heilige, für die Grenze, für die Infragestellung und die Erwartung, für die Kommunion mit etwas, das uns übertrifft, auch wenn wir nicht an einen personalen und vorsorgenden Gott glauben.“

Eco leitet übrigens seine Begründung moralischen Handelns aus der Eigenschaft des Menschen als Gemeinschaftswesen ab (Aristoteles‘ Zoon politikon, ohne diesen Begriff und seinen Urheber allerdings zu erwähnen):

„Ohne den Blick und die Antwort des anderen können wir nicht begreifen, wer wir sind (so wie wir nicht leben können, ohne zu essen und zu schlafen).“ „Ohne den anerkennenden Blick eines anderen kann das Neugeborene, das im Wald ausgesetzt wird, nicht zu einem Menschen werden (oder es sucht den anderen, wie Tarzan, im Gesicht eines Affen), und wir würden sterben oder verrückt werden, wenn wir in einer Gemeinschaft leben müssten, in der ausnahmslos alle beschlossen hätten, uns nie anzusehen und sich so zu benehmen, als ob wir nicht existierten.“

Ich teile den Standpunkt von Eco, hätte Martini aber gefragt, warum ich eigentlich einen tiefsten und in gewisser Weise absoluten Grund meines moralischen Handelns brauche. Was heißt schon absolut? Die Geschichte zeigt doch, dass auch religiöse Regeln, die jahrhundertelang galten, eines Tages außer Kraft gesetzt werden – nicht von Gott, sondern von Menschen. Ich nenne nur die Strafbarkeit (und auch die kirchliche und soziale Ächtung) von Ehebruch, Homosexualität, Gotteslästerung, Häresie, Abtreibung; Inzest/“Blutschande“, § 173 StGB (Beischlaf zwischen Verwandten), wird derzeit diskutiert (in Frankreich wurde die Strafbarkeit von Inzest mit dem Code pénal von 1810 abgeschafft; ebenso in Belgien, den Niederlande, Luxemburg, Portugal, der Türkei, Japan, Argentinien, Brasilien). Ich hoffe, damit meine religiöse Haltung einigermaßen deutlich gemacht zu haben. 

Fortsetzung folgt

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Marcel Seiler / 25.05.2017

Gefällt mir! Ich glaube nicht an Gott, aber als einen Atheisten, mit dem kalten Unterton, der diesem Wort oft beigelegt wird, empfinde ich mich nun doch nicht. Wir werden in eine Gemeinschaft hinein geboren, und darauf hin hat die Natur uns programmiert; das prägt unsere Ethik. Der Untergang der verfassten Religionen im Westen ist deshalb ein Verlust, weil die Rituale verloren gehen, die uns helfen, das Geheimnis der Transzendenz zu erfahren.

Peter Zentner / 25.05.2017

Sehr geehrter Herr Grell, Sie mühen sich vergebens; denn auch Sie können Ihren Katholizismus, den Sie wie Umberto Eco schon mit der Muttermilch eingeflößt bekamen, nicht abschütteln. Klar: Die Kirchen, auch die protestantischen, öffnen ihre Tore für alles, was der wetterwendische Zeitgeist zur Mode macht. Aber sie machen die Erfahrung, dass mehr Schäfchen hinausgehen als hereinkommen. Dennoch bleiben sie dabei, von den Kanzeln nicht das Evangelium zu predigen, sondern politisch korrekte, generell glaubensferne Parolen. Papst Franziskus geht mit angepasst schlechtem Beispiel voran. Stört mich nicht wenig, aber nach den üblichen Ausflügen zu Buddismus, transzendentaler Meditation und Hermann Hesses Indien-Begeisterung (“Siddharta”) kehrte ich zurück, anfangs widerwillig. — Nun entdecke ich das Alte Testament wieder, “the best sex-and-crime story ever written”, wie ein Professor in Cambridge, von seinen Studenten innig geliebt, nicht müde wurde zu betonen. Das AT ist zwar viel älter, aber wir alle haben etwa 2000 Jahre Christentum in den Knochen, ob’s uns gefällt oder nicht, was auch Umberto Eco auffiel. Wie sagen die Briten so schön? “Blood is thicker than water.”

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