Das sich die Religionsgemeinschaften nur deshalb halten können, weil sie ihre Möglichkeiten wahrnehmen, Kinder zu indoktrinieren, hat schon Arthur Schopenhauer klar erkannt: “Wenn nämlich dem Menschen, in früher Kindheit, gewisse Grundansichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Miene des höchsten, bis dahin noch nie gesehenen Ernstes wiederholt vorgetragen werden, dabei die Möglichkeit eines Zweifels daran ganz über- gangen, oder aber nur berührt wird, um darauf als den ersten Schritt zum ewigen Verderben hinzudeuten; da wird der Eindruck so tief ausfallen, daß in der Regel, d. h. in fast allen Fällen, der Mensch beinahe so unfähig seyn wird, an jenen Lehren, wie an seiner eigenen Existenz, zu zweifeln; weshalb dann unter vielen Tausenden kaum Einer die Festigkeit des Geistes besitzen wird, sich ernstlich und aufrichtig zu fragen: ist Das wahr?” (Parerga und Paralipomena, Bd. II, S. 349).
Wäre es nicht furchtbar, wenn wir absolut gesetzte Regeln hätten, ein für allemal unveränderbar, egal welche Zeiten kommen? Mir reicht der Satz: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Und noch etwas, was gerne in einen Topf geworfen wird: Man darf eine allgemeine Gotteshypothese (für mich aber auch sehr unwahrscheinlich) nicht verwechseln mit dem konkreten Christentum, dessen Kern der Glaube an einen Gott ist, der mit ewigen Höllenqualen droht, wenn man nicht an seinen Sohn glaubt, den er selbst auf brutal-archaische Weise geopfert hat, um einem eben diese Höllenqualen zu ersparen. Ich begreife nicht, dass es heute noch Menschen gibt, die so etwas Absurdes glauben können.
Die ewige Gewissheit wird von der EKD für die Silberlinge der zeitgeistigen Beliebtheit verhökert. Der Ev. Kirchtentag? Treffpunkt der “Guten” im Lande. Daher war Obamamamerkel vielleicht gar nicht so verkehrt am Platz. Wer Spiritualität jenseits von Dinkelkeks und Roibuschtee erfahren möchte, muss in der EKD lange suchen.
Wer sein Christentum verstanden hat, braucht es nicht hinter sich zu lassen, um Agnostiker zu werden. Denn Christen sind streng genommen Agnostiker. «Niemand hat Gott je gesehen», schreibt Johannes (1. Joh. 4,12). Die Philsophen und Theologen sprechen vom transzendenten Gott der Juden und Christen - was nichts anderes aussagt: Wir WISSEN nichts von Gott, allenfalls GLAUBEN wir (z.B. dass er «die Liebe ist», 1. Joh.4,9). «Deo quasi ignoto conjugimur» sagte schon Thomas v. Aquin [«wir sind mit einem quasi unbekannten Gott verbunden»]. Jede Verbildlichung oder Verdinglichung Gottes ist im Grunde Idolatrie bzw. Magie. Wir WISSEN nichts von Gott, es sei denn, er selbst teilte sich uns mit, dann aber können wir nur GLAUBEN.
Im Laufe meines knapp 70-jährigen Lebens machte ich eine ähnliche Wandlung meines Gottes-, Kirchen- und Selbstbildes durch, wie sie von Rainer Grell beschrieben wird. Ich wurde jedoch nicht Atheist. Für mich wurden persönliche Schutzerfahrungen und die beiden Kernsätze christlichen Glaubens, der Nächsten- und Selbstliebe zum Motor meiner persönlichen und beruflichen Veränderungen: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Markus 12, 29-31). Die Unterschiede zwischen kirchlicher Lehre und Praxis, die ich erlebte, ließen mich eine zunehmend größer werdende kritische Distanz zu den beiden großen christlichen Kirchen einnehmen. Erlebnisse, äußere und innere Erfahrungen machten mir bewusst, dass die Liebe ein großartiges Geschenk und Geheimnis ist, das mir von einer inneren Kraftquelle, von meinen Eltern, insbesondere von meiner Mutter und von anderen Menschen her zugewachsen ist und hoffentlich auch noch weiterhin zuwächst. Herbeizwingen und lenken konnte ich die Liebe nicht: Sie regte sich in mir jedoch immer wieder von selbst und reinigte mich (manchmal recht schmerzhaft) von innen her. Sie verschaffte sich dabei Zugang zu meinem Bewusstsein und Erleben und die notwendige Geltung. Der libanesische Dichter Khalil Gibran spricht von ihr: „Lenken können wir die Liebe nicht; denn diese lenkt, wenn sie uns für würdig hält, unseren Lauf. Sie hat keinen anderen Wunsch, als sich zu erfüllen.“ Viele Menschen sind wie ich in einer Kultur aufgewachsen, in der die Vorstellung eines verurteilenden und strafenden Gottes fest verankert war und leider noch immer verankert ist. Im Laufe meines Lebens gelang es mir, mich vom diesem, meine Kindheitserziehung prägenden Bild eines verurteilenden und strafenden Gottes, der alles vorbestimmt, sieht und mitbekommt, freizumachen. Es widerspricht total der Vorstellung eines uns Menschen liebenden Gottes, der uns seinen „Schutz und Schirm“ anbietet und uns durch das Leben und auch durch das Leid trägt, das unser Leben bereit halten kann. Der uns die Freiheit lässt, seiner Stimme zu folgen, uns für ihn zu entscheiden. Der uns begleitet, ohne uns zu beengen und einzuschüchtern. (s. Christian Eberlein in „Gedanken über den Psalm 91“). Diese gewandelte Vorstellung von Gott beeinflusste meine Entwicklung, mein Selbstwertgefühl, mein Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen positiv. Ich begann im Laufe der Zeit, Hemmungen, unnötige Schuldgefühle und Redescheu zu überwinden und auf die Mitmenschen zu- und einzugehen. Das Bild, das ich mir von einem liebenden, fürsorglichen und schützenden Gott verinnerlichte, veränderte meine Wertvorstellungen und die Art meines Handelns im täglichen Leben. Es entscheidet darüber, wie ich mit mir selbst und mit den anderen umgehe. Die entscheidenden Impulse für meine Veränderungen erfuhr ich in der liebenden Begegnung mit Menschen, in der Wertschätzung und Anerkennung, die ich durch sie erfuhr, in ihrer liebenden Zuwendung und Förderung mir gegenüber, die mir das Empfinden des Geliebt Werdens und tiefer Geborgenheit vermittelten. In mir wurde folgender Gedanke zur Glaubensgewissheit: Das „Reich Gottes“ oder die „neue Erde“, wie sie der Evangelist Johannes in seiner Apokalypse nennt, ist keine selige Örtlichkeit in den unendlichen Weiten des Universums. Vielmehr ist dies ein „himmlischer“ Zustand zwischen uns Menschen, in dem wir uns gegenseitig mit Liebe, Achtung, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Ermunterung und wo nötig, mit Hilfestellungen begegnen; ein Zustand in dem wir echte Liebe, Freude, Glück und Sinnerfüllung finden und empfinden; ein Zustand, der sich schon heute ereignen kann und der sich tatsächlich immer wieder zwischen Menschen ereignet. Wenn wir so handeln, leben und erfahren, ist für uns auch „der Himmel offen“, in dem wir auf ewig die Verbundenheit mit Gott und seine Treue erleben und spüren. Liebe ermöglicht es, uns ungezwungen und frei von Ängsten, Überheblichkeits- und Minderwertigkeitsgefühlen zu begegnen. In liebender Zuwendung können wir uns gegenseitig achten, Wert schätzen, aufeinander eingehen, nachsichtig miteinander umgehen. Wir fühlen uns geborgen, angenommen und geliebt und sind in der Lage, anderen und uns selbst zu verzeihen, unsere materiellen Güter Wert zu schätzen und uns an ihnen zu erfreuen. Die Bitte im VATERUNSER „Dein Reich komme wie im Himmel so auf Erden“ drückt für mich den Wunsch nach Verwirklichung dieses Zustands zwischen uns Menschen auf Erden bereits während unseres Daseins aus und nicht erst in einer unbestimmten, fernen Zukunft. Allerdings müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass dieser Zustand auf Grund unserer menschlichen Unzulänglichkeiten und Mängel kein Dauerzustand ist, sondern unseres ständigen Bemühens und des Segens von oben bedarf. Mein Lebensweg und meine Erfahrungen zeigen mir, dass es möglich ist, Liebe, Freude, Glück und Sinnerfüllung im Leben zu finden, wenn wir uns für die Freude und das Glück entscheiden, unser Denken, Fühlen und Handeln darauf einstellen und uns aufmerksam und ohne Vorbehalte unseren Mitmenschen zuwenden. Zu glauben, dass dies ohne schmerzhafte Begleiterscheinungen im Leben zu erreichen ist, ohne Verabschiedung von Träumen und Illusionen, ohne Korrekturen unserer Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen, ist allerdings ein Irrtum. Ich bin mir jedoch sicher, dass auch Andersgläubige und Atheisten, die ihr Leben im Sinne von Barmherzigkeit und Nächstliebe führen, die gleichen Erfahrungen machen (können), wenn sie die nötige Ehrfurcht und Demut vor der Größe der Natur, vor dem Wunder und Geheimnis allen Lebens aufbringen und das Leben als ein kostbares, schützenswertes Gut betrachten und behandeln.
Die besagten religiösen Regeln sind nicht für alle außer Kraft gesetzt. Für mich z.B. gelten sie noch, Gott sei Dank!
Erstaunlich um was alles sich Menschen Gedanken machen ... ich mir aber noch selten / kaum Gedanken gemacht habe und doch .. tief bewegt bin ! Die Erkenntnis, wie tief Prägungen greifen, war latent schon da. Jetzt habe ich sie mir “wieder” bewußt gemacht. Und geprägt sind auch all die Menschen, die in Deutschland / in Europa Hilfe suchen .... eine nicht zu lösende Aufgabe ! beste Grüße L.H.
An Stelle der mittlerweile überkommenen religiösen Gebote, die im letzten Absatz aufgeführt sind, wurden wir aber leider inzwischen mit neuen ewigen Wahrheiten beglückt, die uns neue Regeln auferlegen. Für den Fall der Nichtbefolgung dieser neuen Gebote wird uns ähnlich wie beim Jüngsten Gericht ein in ferner Zukunft liegender qualvoller Untergang prophezeit. Keine Kernkraft, sonst droht uns der Atomtod. Keine Plastiktüten im Supermarkt, sonst vergiften wir die Meere. Keine Nutzung fossiler Energie, sonst werden wir von der Klimakatastrophe dahingerafft. Es scheint als komme der Mensch nicht ohne Anleitung von oben aus, wenn er ein vermeintlich korrektes Leben führen will; selber denken scheint da jedenfalls zu stören.
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