Silvia Meixner / 18.01.2012 / 05:56 / 0 / Seite ausdrucken

Freakshow, 2. Teil

Die Erde ist ein guter Planet, er ist voller bunter Blumen, warm und schön und beseelt von verständnisvollen, lebensbejahenden, innovativen Lebewesen. Alle haben alle lieb, nur manchmal fallen einige durch den Kuschel-Rost, aber das sind Kollateralschäden, für die wir alle ein wenig Verständnis aufbringen sollten. Hier ist der Beweis: Anatolij M. hatte 29 Frauenleichen in seiner Wohnung, als ihn die Polizei festnahm. Ich schreibe diese Geschichte übrigens nur auf, weil meine Freakshow-Geschichte auf http://www.achgut.com so viel positive, unterstützende Anteilnahme fand. Viele Leser schrieben mir, dass die Welt unerfreulicher weise voller geistig und körperlich ungewaschener Menschen sei und schilderten mir ihre Erlebnisse. Das hat mir Mut gemacht, Freakshow, Teil 2, aufzuschreiben.

Anatolij ist zwar, so meine Ferndiagnose, geistig krank, aber auch er findet natürlich gute Gutmenschen, die das alles nicht so schlimm fanden, denn schließlich hat er die Leichen, die er wie Puppen zurechtmachte, nicht in ihrer Wohnung aufs Sofa gesetzt, sondern in seinen kuscheligen Privaträumen. Es läuft also noch ziemlich viel ziemlich gut auf unserem bunten Planeten! Nun las ich, dass der 45-Jährige gar nichts Böses im Sinn hatte, ganz im Gegenteil, er wollte die Toten, die er zuvor auf diversen Friedhöfen ausgegraben hatte, zum Leben erwecken. Und wie wir alle, die wir den guten Planeten und seine guten Bewohner auch richtig verstanden haben, wissen, geht das am besten, indem man Leichen hübsch anzieht und in der eigenen Wohnung drapiert. Schön angezogen, das Gesicht ein wenig mit Stoff verhüllt (ist nicht hübsch, das mit der Verwesung), aber es gibt eben Situationen im und nach dem Leben, da zählt die Schönheit nix.

Im November wurde Anatolij verhaftet, nun präsentierten die Ermittler erste Erkenntnisse. Staatsanwalt Wladimir Strawinski sagte nach Angaben der Agentur Interfax, der Grabschänder habe seine Taten mit der – wir erinnern uns: Kuschelplanet! – „Liebe zu den Menschen“ begründet. Er wollte die Leichen mit „herzlichen Gefühlen wiederbeleben“. Und wie wir alle wissen, geht das mit nichts einfacher als durch den Einbau von Musikspieldosen in Leichen. Die alten Ägypter hätten ihre Freude an dieser Idee gehabt. In der Berichterstattung zu dem Fall lese ich: „Frühere Wegbegleiter schilderten ihn als in sich gekehrten Heimatforscher mit einem Faible für Friedhofskultur. Einige Psychologen warnen davor, ihn gleich als Irren abzustempeln. Möglicherweise handelte es sich eher um einen Wissenschaftler, der Grenzen überschritten habe.“ Ja, das unterschreibe ich sofort, da bin ich ganz bei den Psycho-Experten: Anatolij hat Grenzen überschritten, genau 29 Mal. Aber irre ist er deswegen noch lange nicht. Und abstempeln wollen wir einen Menschen, der so innovativ ist, auch nicht. Und schon gar nicht einsperren, denn der Anatolij könnte sich fürchten unter all den Mördern und Irren.

Ich weiß, ich bin immer so empfindlich, ein Fehler seit Kindheitstagen. Ich arbeite an mir, versprochen und mit jeder Dekade wird es besser. Als andere über die tote Katze, die vor unserer Haustür lag, frohgemut mit dem Auto drüberfuhren, habe ich als kleines Mädchen drei Tage lang geweint. Mein Fehler. Ich hätte sie mit einer Musikspieldose ausstatten sollen, aber ich bitte mein Fehlverhalten zu entschuldigen, weil ich diese Methode nicht kannte. Anatolijs Frauen, er hat übrigens nur Frauen ausgegraben, die waren ja eh schon tot und Respekt vor der Totenruhe, das war mal. Erhebet Eure Herzen.

Wir müssen Verständnis für den Mann haben, der nur ein wenig Gott spielen wollte. Bestimmt hatte er eine schlimme Kindheit, seinen Teddybären samt Musikspieldose verloren und die Oma hat ihn immer so komisch angeschaut. Von den 17 Brüdern unterdrückt, der Vater längst über alle Berge, tagsüber nur Hirsebrei und abends mal einen durch 18 geteilten Apfel, da muss man ja irre werden. Das muss raus, eines Tages, das sind tiefe, tiefe Traumata und wenn so einer dann auf die Idee kommt, 450 Kilometer von seinem Wohnort entfernt, in Moskau, ein paar Frauenleichen auszugraben und sie im Zug nach Hause zu transportieren, muss man das schon liebevoll hinterfragen, liebevoll analysieren und zu dem liebevollen Ergebnis kommen, dass der Mann im Grunde nichts dafür kann. Ich weiß nicht, wie es in den Hausfluren von Nischni Nowgorod riecht, aber dass die Nachbarn nichts gemerkt haben, ist wie so oft ein wenig komisch.

So. Und jetzt stellen wir uns mal vor, das Ganze wäre einem lieben Menschen passiert, den wir vor kurzem begraben mussten. Die beste Freundin, eine Cousine. Gleich verschieben sich die Relationen. Ganz so schlau wie beschrieben scheint der Wissenschaftler nämlich nicht gewesen zu sein, weil er blöd genug war, Fingerabdrücke und Fußabdrücke zu hinterlassen. So hat man ihn gefasst. Um Nischni Nowgorod, dem Wirkungsfeld von Anatolij, mache ich demnächst jedenfalls einen großen Bogen. Ich fahre in dieser Gegend auch nicht mehr mit dem Zug.

Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von http://www.good-stories.de

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Silvia Meixner / 15.12.2015 / 12:00 / 2

Warnung vor dem Keks! (Silvis Culture Club 81).

Früher hat die Großmutter im Advent die Kekse gebacken, die Kinder bekamen vom rohen Teig ein bisschen Bauchweh und alles war gut. Heutzutage lässt man…/ mehr

Silvia Meixner / 08.09.2015 / 12:00 / 1

Silvis Culture Club (80): Exquisite Dummheit über den Wolken

Air Berlin schickt mir eine sensationelle Offerte: „Machen Sie uns ein Angebot für einen freien Nebensitz“. Die Idee ist so penetrant wie sinnfrei und ich…/ mehr

Silvia Meixner / 06.09.2015 / 09:26 / 2

Silvis Culture Club (79): Wiener Flüchtlingshilfe mit Tücken

Weekendbesuch in der Heimat. In Wien gibt es derzeit nur ein Thema: Die Flüchtlinge. Die häufigste Frage dieser Tage im Bekanntenkreis: „Wie helfen wir?“ Es…/ mehr

Silvia Meixner / 22.05.2015 / 07:00 / 3

Heute ich – morgen du? Die Stalker sind unter uns.

Am Tag der Walpurgisnacht 2012 änderte sich mein Leben radikal. Viele Menschen tanzten in der letzten Aprilnacht fröhlich in den Mai – für mich begann…/ mehr

Silvia Meixner / 12.02.2015 / 13:01 / 1

Vorsicht vor den Finnen! Mit oder ohne Alkohol.

Silvis Culture Club (78) Vor finnischen Männern wird gewarnt. Immer wieder, online und offline. Sie sollen viel trinken, zu viel, viel zu viel. Und dann…/ mehr

Silvia Meixner / 02.01.2015 / 21:31 / 0

Silvis Culture Club (77): Friss, Kunde – oder geh’ zu Fuß!

Ich sitze im Zug und schreibe und bin sehr, sehr unzufrieden. Ich wollte einen Sitzplatz im Ruhebereich, kein Gegenüber, Gang. Eigentlich ein harmloser Wunsch, sollte…/ mehr

Silvia Meixner / 23.12.2014 / 08:12 / 0

Im Rausch der Buchstaben – Seien Sie vorsichtig mit Schnaps!

In der Reihe Silvis Culture Club (76). „Seien Sie vorsichtig mit Schnaps“, lautet ein Ratschlag aus einem kleinen roten Büchlein aus dem Jahr 1944. Es…/ mehr

Silvia Meixner / 15.12.2014 / 13:20 / 0

Silvis Culture Club (75): Flying plastic fantastic

Über den Wolken wird alles gut. Soarigami ist der neue Armlehnentrenner, der den Dauerstreit um die schmale Armlehne im Flugzeug beenden soll. Er verbreitert die…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com