Henryk M. Broder / 04.06.2009 / 18:19 / 0 / Seite ausdrucken

Eten & Genieten 8

Ich muss mich korrigieren. Es gibt doch etwas, das noch schöner ist, “als morgens in einem klimatisierten Zimmer aufzuwachen, ans Fenster zu gehen und auf Palmen und blaues Meer zu schauen”. Nämlich - in einem klimatisierten Zimmer auf einem großen Sofa zu lümmeln, auf Palmen und blaues Meer zu schauen und dabei die Werbespots der Parteien für die Europawahl zu sehen, ein gutes Mittel gegen aufkeimendes Heimweh, wie Antihistamine bei Heuschnupfen. Bis jetzt haben mir die Spots der “Grauen”, der “Piratenpartei” und der “AUF”-Partei am besten gefallen, reines Kabarett, wenn auch auf der Blüm-Sodann-Linie. Gestern hab ich einen Spot der SPD gesehen, und der hat alles getoppt. Überhaupt ist die ganze Europawahl so aufregend wie die Paralympics, die gleich nach den Olympischen Spielen ebenfalls in Peking stattgefunden haben. Eine Berichterstattung fand statt, aber wirklich interessiert hats keinen.

Schauen Sie sich einfach mal an, wer für die Europawahl kandidiert, und zwar parteiübergreifend. Lauter Leute, von denen Sie a) noch nie was gehört haben, b) lange nichts mehr gehört haben oder c) nie wieder etwas hören werden. Es sind, mit wenigen Ausnahmen, Politiker, die von ihren Parteien nicht für ihre Leistungen sondern für langjährige Treue belohnt werden, die auf Hartz 4 bis 1o angewiesen wären, wenn sie nicht nach Brüssel entsorgt würden. Können Sie sich z.B. noch an die ehemalige “Wehrexpertin” der Grünen, Angelika Beer, erinnern? Sie kam vom KB zu den Grünen, war zwei Jahre gemeinsam mit Reinhard Bütikofer Bundesvorsitzende der Partei und insgesamt 11 Jahre MdB. Nachdem sie 2002 von ihrer Partei nicht erneut für den Bundestag nominiert wurde, bekam sie einen sicheren Listenplatz für die Europawahl 2004 und vertritt seitdem die Grünen in Brüssel. Aber nicht mehr lange. Denn sie wurde nicht mehr aufgestellt und trat daraufhin unter Heulen und Jammern aus der Partei aus. Es gab ja auch keinen Grund mehr, drin zu bleiben. Besorgen Sie sich eine Packung Kleenex und lesen Sie Angelika Beers Abschiedsrede: http://www.angelika-beer.de/index.php?/s,2/o,article,794/

Undank ist der Welten Lohn! heisst es schon bei Nestroy. Und jetzt raten Sie mal, wer ist der Spitzenkandidat der Grünen für die Europawahl 2009? Reinhard Bütikofer, ehemaliger Chef der Grünen. Sein Vorbild ist - Obama. http://www.tagesschau.de/ausland/buetikofer108.html Niemand soll frieren, hungern oder sich daheim langweilen.

Einen Tick bekannter als Bütikofer ist der Spitzenkandidat der SPD, Martin Schulz, ein Mann mit einem faszinierenden Lebenslauf, bis 1998 Bürgermeister von Würselen und seit 1994 überlappend Abgeordneter im Europaparlament. Bei Wikipedia heisst es dazu: “Während seiner Amtszeit als Bürgermeister in Würselen war Martin Schulz insbesondere für den Bau des Spaßbades Aquana verantwortlich. Angesichts der Haushaltslage der Stadt wird diese Entscheidung des SPD-Mitgliedes seit Jahren kritisch gesehen.”

Im Sommer 2003 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Schulz und Berlusconi, in deren Verlauf der italienische Ministerpräsident dem deutschen Sozialdemokraten empfahl, die Rolle eines Kapos in einem italienischen KZ-Film zu übernehmen. Das war alles andere als fein, und Berlusconi entschuldigte sich halbherzig: er habe “auf die Namensähnlichkeit zwischen Schulz und dem gutmütigen KZ-Aufseher Schultz aus der Fernsehserie Ein Käfig voller Helden anspielen wollen”. Tatsächkich aber hatte Berlusconi nicht den Aufseher Schultz sondern den Hauptmann Schulz aus “To Be Or Not To Be” gemeint: http://www.aspect-ratios.com/2008/07/to-be-or-not-to-be-1942.html

Für Martin Schulz stellt sich die Frage nicht. Sein Platz im Europaparlament ist ihm sicher. Auf seiner Homepage (http://www.martin-schulz.info/) steht unter der Rubrik “Topmeldungen” die Topmeldung: “Internetauftritt zur Europawahl online!” Ja, das ist wirklich eine Sensation! Noch sensationeller ist nur noch der SPD-Spot mit Martin Schulz, den Sie hier sehen können: http://www.martin-schulz.eu/

Mal ehrlich: Haben Sie den Begriff “Marktradikale” schon mal gehört? Es gibt Linksradikale, Rechtsradikale, Altersradikale und “freie Radikale” (http://www.tee.org/tipps/freieradikale.html). Aber Marktradikale? Den Begriff gibt es tatsächlich. Er gehört in die Kategorie der “Heuschrecken”. Und wissen Sie, was das Besondere an Heuschrecken ist? Sie hören mit den Beinen, ihre Ohren befinden sich knapp unter den Knien. Das ist einmalig. Das gibt es sonst nirgendwo in der Natur, nicht einmal beim homo politicus ordinarius.

Martin Schulz dagegen hat ein Faible fürs Visuelle. Gehen Sie noch einmal auf seine Homapage (http://www.martin-schulz.eu/) und zählen Sie nach, wie oft Martin Schulz auf der Startseite von Martin Schulz zu sehen ist. Etwa so oft wie Erich Honecker auf der Titelseite des ND am 40. Geburtstag der DDR. Wie üblich wird unter den Einsendern der richtigen Antwort ein kleiner Preis verlost. Diesmal ist es eine Spezialität aus Curacao: Blau, flüssig und aus den Schalen von Bitterorangen hergestellt.

Siehe auch:
http://www.stern.de/wahl-2009/europawahl/:stern-Umfrage-Europawahl-Keiner-Spitzenkandidaten/702519.html

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