Gil Yaron
Auf der Haustür der kleinen Villa in der Siedlung „Itamar“ tief im israelisch besetzten Westjordanland klebt noch immer ein rosa Zettel: „Mazel Tov“ – „Glückwünsche“ steht auf der handgeschriebenen Notiz im Namen der „gesamten Familie Itamar“, wie sich die Bewohner hier selbst bezeichnen: „Habt viel Freude an Eurer neuen Tochter Hadas“, schrieben die Nachbarn der Familie Fogel vor drei Monaten. In der Nacht zum Samstag wurde aus Freude tiefe Trauer: Ein rotes Plastikband der Polizei flattert rund um das Haus im Grünen, drei Polizisten bewachen den Tatort, an dem eines der schwersten Attentate der letzten Jahre begangen wurde. Vermutlich zwei Täter schlitzten fünf Israelis im Schlaf die Hälse auf. Gestern wurde Hadas kleine Leiche in Jerusalem bestattet, neben Vater Udi (37), Mutter Ruth (36) und ihren Brüdern Joav (11) und Elad (4). Laut Angaben der Armee führen die Spuren der Täter ins nahe gelegene palästinensische Dorf Awarta. Das Attentat war so brutal, dass sich selbst die radikal-islamische Hamas, sonst auf Terrorattentate stolz, von ihm distanzierte. Auch die Al-Aqsa Brigaden, in deren Namen ein wenig glaubwürdiger Bekennerbrief verfasst wurde, ließ verlautbaren, dass Kindermord „unakzeptabel“ sei. Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), verurteilte das Attentat als „inhuman“ und kondolierte Israels Premier Benjamin Netanjahu telefonisch.
Doch in Itamar schenkt man solchen Reaktionen wenig Gehör. Es bedarf einer tiefen Überzeugung, um in Itamar zu leben, und so gilt dieser Ort selbst unter Siedlern als Anschrift für Hartgesottene. Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist eine holprige, schmale Straße mitten durch das palästinensische Dorf Hawara. Laut Lea Goldsmith, Ehefrau des Bürgermeisters von Itamar, kann von Abgeschiedenheit jedoch keine Rede sein: „Wir befinden uns im Kern des Landes Israel, auf das wir ein biblisches Anrecht haben“, sagt sie. „Hier leben wir ein Leben voller spiritueller Erfüllung. Es ist offensichtlich, dass Gottes Prophezeiung hier Wirklichkeit wird, wir sind nur seine Werkzeuge.“ Diese spirituelle Aufgabe hat einen hohen Preis. Itamar liegt nur wenige Kilometer süd-östlich von Nablus, einst die wirtschaftliche Hauptstadt im Nordteil Palästinas, und während der zweiten Intifada Hochburg des Selbstmordterrors. Große Lücken im Zaun, der die rund 1000 Bewohner dieser dünn besiedelten Siedlung umgibt, ermöglichte es Attentätern immer wieder, hier einzudringen. Seit Beginn der zweiten Intifada vor zehn Jahren wurden mehr als 20 Bewohner Itamars ermordet.
Nach dem Attentat dominieren in Itamar Wut und Misstrauen. „Warum lasst ihr die hier rein?“, fragen mehrere Frauen den Sprecher der Siedlung, der die Fernsehcrew eines arabischen Fernsehsenders begleitet. „Die wollen uns doch nur für das nächste Attentat auskundschaften! Zerschlag ihm die Kamera!“, fordern die jungen Mütter mit den Kopftüchern, die sich zwei Häuser vom Tatort entfernt ein Stelldichein gegeben haben. „Natürlich gibt es auch gute Araber – rein theoretisch“, sagt die 28 Jahre alte Bruria Levi. „Aber wir befinden uns im Krieg, und da kann man nicht unterscheiden. Sie sind jetzt unsere Feinde. Sie werden doch schon mit dem Hass gegen uns geboren“, meint sie.
Für die 21 Jahre alte Renana Miller ist palästinensischer Terror eine Grundfeste ihres Lebens. Sie wurde in Itamar geboren, hat hier geheiratet und zwei Kinder zur Welt gebracht. Ihr Vater war für die Sicherheit der Siedlung verantwortlich, und wurde vor zehn Jahren erschossen, als er einem Eindringling entgegentrat. Renanas Schwiegervater kam vor fünf Jahren in einem anderen Attentat ums Leben. Doch die Grausamkeit, mit der die Täter im Haus der Fogels vorgingen, hat die zierliche Renana zutiefst erschüttert: „Ich bin entsetzt darüber, dass wir bisher kaum reagieren. Warum hat die Armee noch kein Haus im Nachbardorf abgerissen? Warum wird es nicht einfach plattgewalzt?“, fragt sie erregt. „Wir haben jegliche Abschreckung verloren“, pflichtet Bruria ihr bei. Sie stammt, wie die Fogels, ursprünglich aus einer Siedlung im Gazastreifen, den Israel vor sechs Jahren einseitig räumte. „Dort haben wir auf jedes Attentat reagiert: Ein Haus abgerissen, den Zaun verschoben, Palästinenser verhaftet. Und jetzt tun wir nichts. Die Araber verhöhnen uns doch, weil die Armee Angst vor ihnen hat!“, meint Bruria.
Untätigkeit kann man der Armee eigentlich nicht vorwerfen. Wenige Autominuten vom Tatort entfernt, im Zentrum des Dorfes Hawara, kontrollieren israelische Soldaten die Insassen palästinensischer Fahrzeuge. Straßensperren wurden neu errichtet, Dörfer in der Umgebung zu militärischen Sperrzonen erklärt. Laut palästinensischen Angaben wurden bereits Hunderte verhaftet und verhört. Im Restaurant von Abu Bassan blickt man den Armeepatrouillen, die alle paar Minuten mit Gewehr im Anschlag über die Schlaglöcher der Hauptstraße poltern, gelassen hinterher. „Haben Sie Beweise gesehen?“, fragt der 62 Jahre alte Abu Bassan. „Das ist doch alles nur eine Show, eine Kabbale, die Premierminister Netanjahu als Vorwand dienen soll, um neue Siedlungen zu bauen.“ Palästinenser seien solch einer Tat unfähig, meint Abu Bassan, und die Männer um ihn herum nicken zustimmend. „Wenn dieser Mord überhaupt stattgefunden hat, könnten es doch Siedler gewesen sein“, sagt Abu Bassan und wiederholt eine These, die inzwischen selbst von führenden Funktionären der PA vertreten wird. Die palästinensische Zeitung Al Quds spekulierte, der Mord sei von einem Gastarbeiter begangen worden. Von Introspektion keine Spur. Abu Bassan versteht die Aufregung der Israelis nicht: „Wenn die Armee 1000 von uns tötet, ist es denen egal. Aber wehe, es trifft eines ihrer Kinder, dann gibt es gleich ein Erdbeben.“ In Hawara berichtet man von Übergriffen der Siedler, die in Bussen herkamen und Fensterscheiben einschlugen, Molotowcocktails auf Häuser warfen und Autos demolierten.
„Quatsch – die warfen Steine auf uns, als wir vom Begräbnis heimfuhren!“, kontert Lea Goldsmith. In Siedlerkreisen ist man sich einig: Das Attentat fordert eine schnelle, harte Antwort. Doch hier begnügt man sich nicht mit der Forderung nach Strafvollzug: „Die Terroristen wollen uns Angst einflössen“, sagt Mosche Goldsmith, Bürgermeister von Itamar. „Die einzig richtige Antwort ist, diese Siedlung jetzt zu vergrößern, um ihnen zu zeigen, dass wir ewig hierbleiben werden.“ „Wir fordern von der Regierung, uns endlich zu gestatten, unsere Gemeinden weiter auszubauen“, sagt auch David Haivri, Sprecher der Siedler in Samaria.
Im Sog der Empörung hat Netanjahu vorerst genau das getan. Noch vor einer Woche bereiteten seine Presseberater internationale Medien auf eine neue Friedensinitiative vor, in deren Rahmen er den Palästinensern „bedeutende Zugeständnisse“ machen wolle. Nun verkündete seine Regierung den Bau von mindestens 400 neuen Wohneinheiten in vier Siedlungsblöcken, als „angemessene zionistische Reaktion“. „Wir sehen keinen Widerspruch in dem Bau von Wohneinheiten in Siedlungsblöcken und unserem Streben nach einer Zwei-Staaten Lösung“, sagte ein enger Berater des Premiers im Gespräch mit unserer Zeitung. Laut Quellen im Amt des Premiers war Washington über die Entscheidung ständig im Bild. „Allen ist klar, dass diese Siedlungsblöcke in jedem Fall in unseren Händen bleiben werden.“ Obschon man sich jetzt in erster Linie um Sicherheitsbelange kümmere, „betont Netanjahu immer wieder, dass Frieden unser strategisches Ziel bleibt.“ Palästinenser sehen das anders: „Wie kindisch! Sind die Siedlungen als Kollektivstrafe gedacht?“, wettert Hussam Zumlot von der Kommission für Internationale Beziehungen der Regierungspartei Fatah. „Es wird keine Verhandlungen geben, ohne das Israel den Siedlungsbau völlig einstellt“, sagt Zumlot.
Knapp 48 Stunden nach dem blutigsten Attentat in zwei Jahren verfallen beide Seiten wieder in altbekannte Verhaltensmuster zurück. Palästinenser meinen, das Attentat beweise, dass Siedlungen das Kernproblem des Konflikts bilden. Israelis betonen in einer neu angelegten Medienkampagne, dass die Hetzpropaganda der Palästinenser Ursache für Terror und Gewalt sei. Nur in einer Sache sind Lea Goldsmith aus Itamar und Abu Bassan aus Hawara sich überraschenderweise einig, ohne sich miteinander abgesprochen zu haben: „Wie kann man mit solchen Tieren Frieden machen?“, fragen sie unabhängig voneinander. An Frieden scheint hier im Augenblick niemand zu glauben.