Fred Viebahn / 17.03.2009 / 21:04 / 0 / Seite ausdrucken

Die Wolken über Berlin

Vor mehreren Jahren entschied sich die in New York geborene und in Mexico City aufgewachsene Chloe Aridjis, nach Berlin zu ziehen, deutsch zu lernen und einen von ihren dortigen Eindrücken beeinflußten Roman zu schreiben, der soeben in den USA unter dem Titel „Book of Clouds“ erschien – ein, wie Wendy Lesser in der New York Times schreibt, „erstaunlich präzises Portrait“ der deutschen Hauptstadt.

http://www.nytimes.com/2009/03/15/books/review/Lesser-t.html?_r=1&emc=eta1

Allerdings handelt es sich trotz biografischer Ähnlichkeiten zwischen Autorin und Romanheldin keineswegs um eine Autobiografie. Tatiana, die Ich-Erzählerin, stammt zwar wie Chloe Aridjis aus Mexico City, aber schon bei den Eltern und der jüdischen Herkunft divergieren die beiden. (Auch wenn Chloe wegen ihrer Mutter ebenfalls das israelische Heimkehrrecht in Anspruch nehmen könnte.) Tatiana ist eines von fünf Kindern, ihre Eltern betreiben eine jüdische Deli in Mexico City. Sie ist vereinsamt, beziehungslos, hat kaum noch Kontakt mit ihrer Familie und hält sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser; so transkribiert sie, ohne viel Hoffnung auf Veröffentlichung, die Notizen eines alten deutsch-jüdischen Historikers. Chloe dagegen ist eine aufgeschlossene junge Literaturwissenschaftlerin, die an der Harvard-Universität studierte und in Oxford ihren Doktor machte. Sie ist eine von zwei Töchtern des mexikanischen Schriftstellers und Diplomaten Homero Aridjis und seiner amerikanischen Frau Betty Ferber-Aridjis; ihre jüngere Schwester Eva hat sich mit mehreren Spiel- und Dokumentarfilmen als Regisseurin und Produzentin gemausert, zuletzt mit der mutigen (und verstörenden) Dokumentation “La Santa Muerte” über einen mexikanischen Todeskult.

Die Familie Aridjis ist alles andere als beziehungsarm – vier kreative Menschen, die ständig miteinander in Kontakt sind. Als ich Chloe und Eva vor zweiundzwanzig Jahren als Teenager in Mexico City kennenlernte, halfen sie ihren Eltern begeistert bei der Organisation eines bedeutenden internationalen Literaturfestivals. (Ich erwähnte das Festival kürzlich in meinem Achse-Beitrag zum 80. Geburtstag von Günter Kunert.) Zuletzt sah ich Chloe und ihre Eltern vor drei Jahren beim Internationalen PEN-Kongreß in Berlin, da wohnte sie schon seit einiger Zeit in der Stadt und schrieb an ihrem Roman. Inspiriert dazu, sich auf ein Berliner Lebens- und Literaturabenteuer einzulassen, wurde sie ein paar Jahre zuvor anläßlich eines Berliner Schriftstellertreffens, als sie noch in London lebte und mit Eva, die aus New York anreiste, nach Berlin kam, um sich mit den Eltern zu treffen. Dunkle Wolken jagten einander am Himmel, als meine Frau, meine Tochter und ich mit der Familie Aridjis nach einem Restaurant in der Gegend der Oranienburger Straße suchten, um gemeinsam gemütlich zu Abend zu essen. Plötzlich wurden wir (schirmlos!) von einem Wolkenbruch überrascht und flüchteten uns tropfnaß in ein enges italienisches Restaurant, um uns um einen zu kleinen Tisch zu drängen und die nächsten Stunden mit gutem Essen und Wein und angeregter Unterhaltung aufzuwärmen: Erinnert Ihr euch, wie wir nach der “Grupo Cien”-Umweltkonferenz von Morelia—war das 1994?—das Habitat der Monarchfalter in Michoacán besuchten und erst so spät am Abend wieder zurückkehrten nach Mexico City, daß wir einen Teil des Honoratiorenbanketts zu Ehren der Konferenz verpaßten?

Faszinierend wie der beste Roman ist auch die Geschichte ihrer Eltern. Betty Ferber stammt aus einer gutbürgerlichen jüdischen New Yorker Familie; nach dem Studium in den Sechzigern beschloß sie, sich ein bißchen in der Welt außerhalb der Vereinigten Staaten umzuschauen. Gemeinsam mit einer Freundin ging’s los, zunächst nach Süden. In einem Cafe in Mexico City stießen die beiden zufällig auf eine Gruppe junger Dichter, die sich um ihren Anführer, den späteren Nobelpreisträger Octavio Paz, geschart hatte. Wie Sie sich denken können, geneigte Leser, war Homero Aridjis einer dieser jungen Dichter, und bald ergab eines das andere.

Noch abenteuerlicher ist die Geschichte von Homeros Eltern. (Hollywood, where are you?) Homeros Vater war ein griechischer Seemann, der sich in den Dreißiger Jahren ausgerechnet in einem mexikanischen Hafen, obwohl des Spanischen nicht mächtig, eine Pause gönnen wollte, abmusterte und schließlich radebrechend ins Landesinnere reiste, um Land und Leute kennenzulernen. In einem Indiostädtchen im Bundesstaat Michoacán wurde er besonders freundlich aufgenommen – das heißt, er verliebte sich heiß in ein hübsches Indiomädchen, das – wenn ich mich recht der Geschichte entsinne, die Homero uns an einem Abend bei sich zuhause in Mexico City erzählte – des Spanischen auch nicht viel mächtiger war als der junge Adonis aus dem unvorstellbar fernen Land. Und so kam es, daß Homeros Vater nie mehr zur See fuhr, daß griechischer Vater und mexikanische Indiomutter heirateten und, Happy End, fünf Kinder zeugten, darunter einen Sohn, der zu einem der bekanntesten mexikanischen Schriftsteller wurde, als Botschafter Mexicos in den Niederlanden und der Schweiz diente und sechs Jahre lang als internationaler PEN-Präsident diese bedeutende Schriftstellerorganisation leitete. Seit zwei Jahren ist Homero Aridjis mexikanischer Botschafter bei der UNESCO in Paris, wo die Wolken denen in Berlin nicht unähnlich sind.

So, und jetzt gehe ich zu Amazon.com, um mir das Buch seiner Tochter zu bestellen.

http://en.wikipedia.org/wiki/Chloe_Aridjis

http://en.wikipedia.org/wiki/Eva_Aridjis

http://en.wikipedia.org/wiki/Homero_Aridjis

 

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