Fred Viebahn / 31.03.2011 / 12:44 / 0 / Seite ausdrucken

Gezählte Tage, verjährte Jahre…

Es ist eine konventionelle Weisheit (und eine logische Schlußfolgerung, die einem immer mehr einleuchtet, je länger man auf der Welt ist), daß mit fortschreitendem Alter Gedankenflüge in die Vergangenheit unabsehbarer werden (vielleicht auch schwerfälliger unter ihrem Vergangenheitsballast) und Zukunftsvisionen gegen die näherrückende Naturgrenze menschlichen Lebens zu prallen beginnen. An meinen zwanzigsten Geburtstag kann ich mich überhaupt nicht erinnern; ich hatte gerade mein erstes Büchlein veröffentlicht, für mich ein Meilenstein, gegen den das Wiegenfest verblaßte. Fünfundzwanzig verging ebenfalls wie Schall und Rauch; erst als ich weit weg von heimischen Gewohnheiten und Gewöhnlichkeiten dreißig wurde, fing ich mit dem nutzlosen, doch faszinierenden Zahlenspiel an, mich in Multiplikationen und Divisionen von Lebenserwartung zu messen. Rita, meine Zukünftige, rieb mir am Strand von Padre Island gegen die texanische Sonne den Rücken ölig und versuchte mich über die Jugend-ade-Trübsal jenes „birthday blues“ hinwegzutrösten: Wenn alles gut geht, sagte sie, hast du erst etwa ein Drittel deines Lebens hinter dir, kannst dir also hoffentlich noch viele schöne Zeiten machen. Sie hatte damals gut reden mit ihren vierundzwanzig Lenzen.

Mit vierzig meinte ich mich in mein Los ergeben zu haben, als ich kalkulierte: Wenn mir das Schicksal gnädig ist, reicht’s nochmal doppelt so lange, und über etwaige Wehwehchen will ich lieber nicht mutmaßen, die melden sich früh genug von selbst. (Immerhin half es meiner Laune beträchtlich, daß Rita am selbigen Tag der Pulitzerpreis für Lyrik verliehen wurde.) Bei meinem fünfzigsten Geburtstag blieb mir unversehens die Stimme weg (ungelogen: eine Kehlkopfentzündung verdammte mich zu Wispern und Gekrächz – ich lade alle Psychoanalytiker ein, einander hier mit klugen Banalitäten in die Haare zu fahren): Hundert Lenze, na, nicht ganz ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich, und wenn, dann höchstens als Bündel an Gebrechen, also: Vergiß es. Immerhin feierte ich mein halbes Jahrhundert in großem Stil, ließ für dreimal so viele Gäste wie meine Jährchen den Schampus fließen, selbst der Bürgermeister unserer Stadt prostete mit. Ein Zenit schien erklommen; sollte mich danach ein Autounfall oder Herzinfarkt kopfüber zum Absturz zwingen, so tröstete ich mich präventiv, hatte ich wenigstens mehr Spaß gehabt als viele andere Artgenossen.

Das folgende Jahrzehnt knüpfte ich dort wieder an, wo ich mit siebzehn in der Tanzschule Dresen am Kölner Salierring aufgehört hatte, beim Gesellschaftstanz nämlich, einem Jungbrunnen, den meine Frau und ich als prima Medizin gegen Alterungstrübsinn, Muskelschwund, Knochenstarre und Eheerlahmung nur empfehlen können. Und ein paar Monate vor meinem Sechzigsten bungee-jumpte ich verwegen von der Brücke, die einst ins Greisenalter geführt hätte, indem ich mich erstmals seit vierzig Jahren wieder auf ein Motorrad schwang; seitdem zweiradle ich kräftig motorisiert diesseits und jenseits des Atlantik durch Berg und Tal: Im Jahr, als ich sechzig wurde, durch Alpen und Schwarzwald, dann vorigen Sommer bis in die Rockies, und nächstes Jahr, zum traditionellen Rentenalter von fünfundsechzig, möchte ich gern eine Campingtour von Ulan Bator nach Beijing mitfahren, für die der Reiseveranstalter chinesische BMW-Boxerkopien zur Verfügung stellt.

Über den Knubbelpunkt meines sechzigsten Geburtstags (an dem Charlie Chaplin hundertachtzehn geworden wäre) ging ich allerdings ohne Feierfirlefanz hinweg, warnte Rita gar frühzeitig, ja nicht auf die Idee einer Überraschungsparty zu kommen, denn das Addieren, Subtrahieren, Dividieren und Multiplizieren ging mir endlich so unheimlich auf den Geist, daß ich mir selber im Traum als Gespenst erschien, das mit dem Sensenmann einen Foxtrott hinlegte. Auch ohne Albträume wäre mir an dem Tag zum Zelebrieren die Lust vergangen: In den Morgenstunden des 16. April 2007 erschoß an einer Uni nicht sehr weit von uns ein durchgeknallter Student über dreißig Menschen.  Und hätte das Virginia Tech-Massaker einer Allotriastimmung nicht den Garaus gemacht, wäre es bestimmt dem Frühlingssturm gelungen, der am selbigen Mittag so viele Bäume auf elektrische Oberleitungen schmiß, daß bei uns die Stromversorgung einen ganzen Tag lang dicht machte. Da lebte ich schon über die Hälfte meines Daseins in Amerika; ich war mit neunundzwanzig eigentlich nur für ein paar Monate über den Ozean gekommen, eine kurzgeplante Zeit, der unverhofft kräftige Flügel wuchsen, mit denen sie sich mir nichts dir nichts über Jahre und Jahrzehnte schwang: Wings of a Dove, the wings of love…

Sind solche Nummern nichts als Schall und Rauch? Wenn es dunkel wird in der Masseneinsamkeit eines Konzertsaals oder Theaters und ich gelegentlich die Konzentration aufs Bühnengeschehen verliere, klettert mein Gedächtnis behende in die Gruften des Gestern. So erging es mir am letzten Märzenwochenende wieder in einem gepolsterten Klappsessel des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington, DC. Glücklicherweise hatte ich das von einem Gedicht meiner Frau inspirierte klassisch-moderne Ballett der Bowen McCauley-Compagnie bereits bei der Generalprobe genossen und mich dabei von keinen inneren Wirren ablenken lassen; also konnte ich es mir während der Premiere leisten, die Tänzer, deren Geschmeidigkeit ich bereits ausgiebig bewundert und die ich ob ihrer frischgesichtigen Jugend zu Genüge beneidet hatte, in müßige mathematische Gedankenspiele zu verwickeln. Es waren ihrer acht auf der in blaues Licht getränkten Bühne, in immer wieder wechselnden Konstellationen: manchmal acht auf einmal, dann verschwanden vier, die vier verbliebenen morphten zur Zweisamkeit, endlich streckte sich die Primaballerina ganz allein auf ihren Zehenspitzen; eine knappe halbe Stunde lang flossen die Körper in- und aus- und miteinander zur gefälligen, speziell für diese Uraufführung von Larry Alan Smith komponierten Musik. Ehe ich mich versah, verführten mich die mal acht mal vier mal zwei Tänzer zum großen Einmaleins, und unversehens landete meine Rechenlogik bei vierundsechzig – dem mir in drei Wochen bevorstehenden Geburtsjubiläum. “When I’m sixty-four”, hatten einst die Beatles, kaum waren sie aus den Teenagerjahren raus, verwegen altklug gesungen. Zwei von den vieren, also die Hälfte, schafften es nicht in ihr Vorruhestandsalter; John erlag mit vierzig einem mörderischen Spinner, George mit achtundfünfzig dem in seinen frühen Raucherjahren kultivierten Lungenkrebs. Wer von uns hätte sich das träumen lassen, als wir auf den Parties der sechziger Jahre unserer Libido mit Lambrusco einheizten und engumschlungen schunkelten: “When I get older, losing my hair, many years from now…

Im dunklen Zuschauerraum des Kennedy Center fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare, die ich allen Unkenrufen zum Trotz immer noch nicht verloren habe, auch wenn sie etwas dünner geworden sind und leichter brechen als in ihren üppigen Jahren. Mir fiel mein erster Abend in diesem Tempel der darstellenden Künste ein, nicht ganz so lange her wie die Beatles-Manie, aber nun auch schon fünfunddreißig Jahre: Ein Dutzend jüngerer deutscher Autoren (von denen einige inzwischen die siebzig – also, um es noch erschröcklicher zu formulieren, ihr achtes Jahrzehnt—erreicht haben) vergnügte sich im Laufe einer Amerikareise unter anderem ein paar Tage in Washington als Gäste des US-Außenministeriums, dessen Kulturabteilung uns im Kennedy Center Plätze bei einer Lesung von Saul Bellow reserviert hatte; er präsentierte seinen kürzlich erschienenen Roman Humboldts Vermächtnis, für den ihm zwei Monate später der Pulitzerpreis verliehen werden sollte. Nach der Lesung, von der ich mit meinen im amerikanischen Englisch noch ungeübten Ohren nur wenig verstand, stellten uns unsere State Department-Betreuer dem Prosameister aus Chicago vor, und wir wechselten ein paar unbeholfene Worte mit ihm. In meiner Erinnerung an jenen Abend, ein halbes Jahr bevor Bellow den Nobelpreis erhielt, erscheint er mir als alter Mann mit schlohweißen Haaren; dabei war er gerade mal sechzig und hatte noch knappe dreißig Lebensjahre vor sich. 

Zwei Tage nach dem Ballettabend mit meinen Bellow-Erinnerungen sind wir unterwegs nach Boston, eingeladen von einem alten Bekannten, den wir seit Jahrzehnten nicht gesehen haben und der sich inzwischen neben seiner Karriere als Literaturprofessor und Schriftsteller zum Direktor des Humanistischen Instituts der Tufts-Universität gemausert hat. Wir hatten Jonathan Wilson und seine damals frischbackene amerikanische Freundin Sharon erstmals 1979 bei einer Party in Jerusalem kennengelernt; Jonathan, ein jüdischer Engländer, war gerade von Oxford an die Hebräische Universität gewechselt, um dort seine Doktorarbeit fertigzuschreiben.

„Und weißt du noch, worüber er die schrieb?“ fragt mich Rita, während ich im Autogewimmel des New Jersey Turnpike, wo sich kein Mensch um die rigorose Geschwindigkeitsbegrenzung schert, die Pferdestärken ihres Phaeton im Zaum zu halten versuche; aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie mit ihrem blutweinrot ummantelten iPhone fuchtelt.

„Keine Ahnung“, antworte ich halb interessiert; „wie soll ich das nach zweiunddreißig Jahren noch wissen…“

„Wikipedia sei Dank“, ruft sie; „er hat 1982 an der Hebrew University über Saul Bellow promoviert und später zwei literaturkritische Bücher über Bellow veröffentlicht!“

„Was für ein Zufall“, sage ich; „jahrelang hab ich weder Bellow gelesen noch an ihn gedacht, und jetzt, auf einmal…“

Rita vertieft sich weiter in den Wikipedia-Eintrag. „So eine Art Krimi hat Jonathan auch geschrieben“, sagt sie, “A Palestinian Affair heißt der Roman. Hm – da war doch noch was, damals in Jerusalem…“

Brühheiß fällt es mir ein: Vor genau dreißig Jahren, im April 1981, erhielt Graham Greene den Jerusalempreis, zu dessen Verleihung wir unter merkwürdigen Umständen Eintrittskarten geschenkt bekommen hatten. Der Autor solcher Knüller wie Orient Express, Der dritte Mann, Der stille Amerikaner und Unser Mann in Havanna, selber während des Zweiten Weltkriegs im britischen Spionagedienst aktiv, wurde von einem stämmigen Mossad-Typen begleitet, der ihm auch beim anschließenden Empfang nicht von der Seite wich. Ein paar Tage später luden uns Jonathan und die ihm inzwischen anvermählte Sharon zum Essen bei sich ein, wobei sie uns mit ihrer Nachbarin, einer hübschen jungen Israelin, bekanntmachten—als plötzlich Greenes Leibwächter mitten in unserem Abendmahl erschien und sich als Bruder der Nachbarin entpuppte…

“Und das ist nichtmal ein Zehntel der Geschichte jenes Frühjahrs der Merkwürdigkeiten damals vor dreißig Jahren,” sage ich, “Ungereimtheiten, denen wir nie auf den Grund kamen, bei denen wir in ziemlich wilden Vermutungen steckenblieben. Mit Saul Bellow hat das zwar nicht viel zu tun, eher mit Joseph Beuys…”

“Das kapiert heute keiner mehr,” sagt Rita. “Wir haben die Zusammenhänge ja selber nie kapiert, wenn es überhaupt Zusammenhänge gab.”

„Wir hätten einen Spionagethriller draus machen sollen“, sage ich.

“Ob Jonathan endlich Licht in die Sache bringen kann?” fragt Rita, während ich mich von einem die Geschwindigkeitsbegrenzung ziemlich brutal durchbrechenden Eighteenwheeler überholen lasse.

“Dem war das schon damals alles schleierhaft,” sage ich zweifelnd.

“Behauptete er jedenfalls,” sagt Rita.

“Lassen wir die alten Hunde lieber schlafen.” 

Ob sich unsere Fiktionen eines Tages aus den langen Schatten der Vergangenheit und der Obhut der Erinnerungen hervorwagen und ihre wahren Gesichter zeigen werden? Wie gezählt sind ihre Tage, wie verjährt die Jahre? Wer schert sich überhaupt noch um die irrlichternden Rätsel unserer Vergangenheit? Sollte man nicht lieber vorwärts tanzend den Staub abschütteln, auf zwei pferdestarken Rädern nach neuen Kitzeln suchen?

„Mach doch mal“, sagt Rita plötzlich, als es mir nach einigen stummen Minuten gelingt, im ans Autoradio angeschlossenen iPod Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band zu finden. „When I get older / losing my hair / many years from now…“, singen die Beatles.

„Noch ist es nicht zu spät. Sixty-four—das sind die neuen zweiunddreißig.” Spricht’s und legt mir ihre linke Hand aufs Gaspedalknie.


(Dies ist die Vorveröffentlichung eines Kapitels meiner bis auf weiteres unvollendeten Memoiren, das demnächst auf Papier gedruckt in der kleinen aber feinen Literaturzeitschrift MATRIX erscheinen wird.)

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