Mit dem Wort „Jahrhundertereignis“ sind Journalisten oft allzu schnell bei der Hand. Nur selten einmal tritt der umgekehrte Fall ein, in dem der Begriff deswegen unangebracht ist, weil er zu wenig bedeutungsschwer erscheint. Dies trifft auf den Rücktritt Benedikts XVI. zu, einen Vorfall, den man beinahe schon ein Jahrtausendereignis nennen muss: 719 Jahre ist es her, dass Cölestin V. als erster Papst sein Amt niederlegte. Seine Abdankung im Dezember 1294 stellte einen Präzedenzfall dar, der sich bis zum gestrigen Tag nicht wiederholen sollte. Der Stellvertreter Gottes auf Erden, so lautete nämlich die längste Zeit eine ungeschriebene Regel, entscheidet nicht selbst über das Ende seiner Amtszeit, sondern überlässt seine Abberufung dem Herrn.
Freilich besteht zwischen Benedikts Demission und derjenigen seines Vorgängers aus dem 13. Jahrhundert ein bedeutender Unterschied: Cölestin, so vermuten die Historiker, schied nicht ganz freiwillig aus dem Amt. Kardinal Benedetto Gaetani soll den Papst, der bis zu seiner Wahl als Eremit in den Abruzzen ein ebenso einsames wie frugales Leben geführt hatte, durch sanften Druck zum Rücktritt bewegt haben. Der machtbewusste Kardinal wollte selbst Papst werden; als Bonifatius VIII. bestieg er schliesslich den Thron. Seinen Vorgänger liess er bis zu dessen Tod im Castello di Fumone inhaftieren, einer finsteren Burg südöstlich von Rom.
Derartige Ränke sind uns im Zusammenhang mit Benedikts Rücktritt nicht bekannt. Soweit wir wissen, legte der bayrische Pontifex die schwere Bürde seines Amtes aus freien Stücken nieder. Sein vorgerücktes Alter mache es ihm unmöglich, den Petrusdienst in angemessener Weise auszuüben, sagte er im Kreis der Kardinäle.
Für die katholische Christenheit ist Benedikts Entscheidung keine gute Nachricht: Dass der römische Oberhirte einfach zurücktritt, so wie ein Bundesrat oder der CEO eines Grosskonzerns, macht die Weltkirche ein wenig gewöhnlicher. Doch gerade ihre Traditionen sind es, die den Zauber der römischen Kirche ausmachen, auch die umstrittenen, die von vermeintlich aufgeklärten Geistern so wütend kritisiert werden: Eine Organisation, die eben nicht ganz von dieser Welt ist.
Gewiss, dass sich ein 85-Jähriger zur Ruhe setzen will, ist aller Ehren wert. Lautstarke Kritik ist daher nicht angebracht, wohl aber leise Wehmut: Der unaufhaltsame Prozess, den der Soziologe Max Weber als „Entzauberung der Welt“ bezeichnet hat, macht auch vor dem Vatikan nicht halt. Man muss kein Katholik sein, um darüber melancholisch zu werden.
Erschienen in der „Basler Zeitung“ vom 12. Februar 2013