Gastautor / 02.06.2010 / 15:28 / 0 / Seite ausdrucken

Die beiden Hälften Europas

Von Hansjörg Müller

Joseph Roth, der Chronist der untergehenden Donaumonarchie, erzählt in seinem Roman „Kapuzinergruft“, wie Franz Ferdinand Trotta, ein junger Mann aus Wien, einer sentimentalen Eingebung folgend den äußersten Osten des Habsburgerreiches besucht. Im Sommer des Jahres 1914 reist er in das fiktive galizische Städtchen Zlotogrod und nimmt dort Quartier im „Goldenen Bären“, dem einzigen Hotel in Zlotogrod, von dem man ihm gesagt hatte, es sei „einem Europäer angemessen.“ Trotta fährt von Wien in die heutige Ukraine und es ist für ihn und seine Wiener Freunde ein ganz selbstverständlicher Gedanke, dass er damit Europa verlässt – das katholische bzw. protestantische Mitteleuropa und das vom orthodoxen Christentum geprägte Osteuropa sind zwei verschiedene Welten; „Europa“ als Ganzes ist lediglich ein geographischer, kein politischer oder kultureller Begriff.

Der amerikanische Politologe Samuel Huntington, der in den vergangenen Jahren viel zitiert und wenig gelesen wurde, war sich dieser Tatsache bewusst. Sein berühmtes Buch vom „Kampf der Kulturen“ handelt denn auch nicht, wie viele glauben, ausschließlich von einem möglichen Zusammenstoß zwischen dem Westen und der islamischen Welt; vielmehr geht der 2008 verstorbene Harvard-Professor davon aus, dass es auf der Welt verschiedene Zivilisationen gebe, zwischen denen es zu Konflikten kommen könne. Dabei weist Huntington auch auf eine potentielle Konfliktlinie hin, die sich mitten durch Europa zieht: seitdem Papst Leo IX. im Jahre 1054 den Patriarchen von Konstantinopel exkommuniziert hatte, war die christliche Welt zwischen Katholizismus und Orthodoxie, Rom und Konstantinopel gespalten. Sie ist es bis heute. Dass diese Diskussion keinesfalls eine rein akademische ist, hat der Zerfall Jugoslawiens gezeigt. Katholische Kroaten und orthodoxe Serben standen sich in einem blutigen Bruderkrieg gegenüber, der nicht zuletzt religiöse Ursachen hatte: Serben, Kroaten und muslimische Bosniaken gehören derselben Ethnie an und sprechen dieselbe Sprache; ob man sich selbst als „Serbe“, „Kroate“ oder „Bosnier“ bezeichnet, hängt lediglich von der Religionszugehörigkeit ab.

Die Trennlinie zwischen dem östlichen und dem westlichen Europa verlief bis zum Ende des Ersten Weltkrieges mitten durch das heutige Rumänien; die Karpaten stellten eine natürliche Trennlinie zwischen Österreich-Ungarn und dem Königreich Rumänien dar. 1918 erhielt Rumänien im Vertrag von Trianon auch die Gebiete jenseits der Karpaten zugesprochen. Heute ist die Bevölkerungsmehrheit auf beiden Seiten des Gebirges rumänisch; trotzdem ist der Unterschied zwischen dem rumänischen „Altreich“ einerseits und Siebenbürgen, dem Banat und der Maramuresch andererseits für den aufmerksamen Reisenden auch heute noch unübersehbar. Südlich und östlich der Karpaten befindet er sich in Osteuropa; er wird dort, neben durchaus beeindruckenden orthodoxen Kirchen und Klöstern eine Vielzahl gesichts- und geschichtsloser Orte sehen, die von der Baupolitik des größenwahnsinnigen Diktators Ceausescu künden und sich heute meist in einem deplorablen Zustand befinden.

Auf der anderen Seite der Karpaten jedoch, in Siebenbürgen, befindet sich der Besucher unverkennbar in Mitteleuropa. Sibiu, auf Deutsch Hermannstadt genannt, beeindruckt durch seine Bausubstanz, die sich über die Jahrhunderte erhalten hat. In einem herrschaftlichen barocken Palais befindet sich die Gemäldesammlung, die der Baron Samuel von Brukenthal im 18. Jahrhundert zusammengetragen hat. Brukenthal war von 1774-1787 als Gouverneur Siebenbürgens der einzige Siebenbürger Sachse, der dieses Amt jemals innegehabt hatte, und also der ranghöchste Protestant im Reich der katholischen Kaiserin Maria Theresia. In seiner Residenz hat er Gemälde der berühmtesten europäischen Maler zusammengetragen, darunter solche von Hans Memling, Tizian, Lucas Cranach und Jan van Eyck und damit eine Sammlung geschaffen, die weit beeindruckender ist als vergleichbare Museen in der ungleich größeren Hauptstadt Bukarest. 

Deutlich weniger herausgeputzt, doch ebenso unverkennbar österreichisch präsentiert sich Temeschwar, die Hauptstadt des Banats, seinen Besuchern. Man hat die Stadt oft mit Wien verglichen, doch auf dem Temeschwarer Domplatz äußert der weitgereiste Begleiter des Berichterstatters die überraschende Ansicht, die Architektur erinnere ihn an spanische Kolonialstädte in Lateinamerika. Tatsächlich gleicht der Platz in seiner Bebauung – niedrige, meist zweistöckige barocke Häuser und ein gedrungener Kirchenbau – verblüffend der Plaza de Armas im peruanischen Cusco und erinnert damit daran, dass es Zeiten gab, in denen im Reich der Habsburger die Sonne nie unterging.

Rumänien hat seit dem Zusammenbruch des Kommunismus eine vorbildliche Minderheitenpolitik betrieben. Die Rechte der relativ zahlreichen Ungarn und der immer weniger werdenden Deutschen sind heute gewährleistet – die Partei der ungarischen Minderheit war an zahlreichen Bukarester Koalitionsregierungen beteiligt und Sibiu hat heute einen deutschen Bürgermeister, der auch in der rumänischen Bevölkerungsmehrheit zahlreiche Anhänger hat. Trotzdem kann man nicht völlig ausschließen, dass die von Huntington gesehene Trennlinie zwischen dem Westen und dem orthodoxen Kulturkreis auch innerhalb Rumäniens wieder bedeutsam werden könnte. In Ungarn träumt die faschistische Jobbik-Partei von einem Groß-Ungarn, aber auch der neugewählte konservative Premierminister Viktor Orban sieht sich selbst als Regierungschef einer ungarischen Nation, deren Grenzen nicht mit denen des gegenwärtigen ungarischen Staates identisch sind. Er leitet zwar daraus noch keine territorialen Forderungen ab, wohl aber einen Vertretungsanspruch, der sich auch auf die außerhalb Ungarns lebenden Ungarn erstreckt.

Am Beispiel Rumäniens zeigt sich, dass die politische Mentalität im orthodoxen Osteuropa eine andere ist als im früher ebenfalls kommunistischen Ostmitteleuropa. In Polen und der Tschechoslowakei etwa fand der Übergang zur Demokratie in relativ geordneten Bahnen statt: Regierung und Opposition handelten die Bedingungen an einem Runden Tisch aus. In Rumänien hingegen stellte der Zusammenbruch des Kommunismus eine blutige Abrechnung innerhalb der Kommunistischen Partei dar, die in der schaurigen Fernsehübertragung der Hinrichtung des Ehepaars Ceausescu ihren unrühmlichen Höhepunkt fand. Eine eigentliche Opposition wie in Polen oder Ostdeutschland gab es nicht, der neue Präsident Ion Iliescu war ein Kader der Kommunistischen Partei gewesen, Agenten der berüchtigten Securitate nahmen auch nach der „Revolution“ bedeutende Stellen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein. Im Unterschied zu Tschechien und Polen hat Rumänien während der Wende keine beeindruckenden und respektablen Staatsmänner hervorgebracht. Es gab keinen rumänischen Václav Havel oder Lech Walesa – und es gibt auch heute keinen rumänischen Donald Tusk oder Václav Klaus.

Was für Rumänien gilt, gilt auch für andere Länder des orthodoxen Ostens: teilweise haben sie sich, wie Russland und Weißrussland, nach einer Phase der politischen Öffnung wieder zurückentwickelt in Richtung Autoritarismus. Länder wie Rumänien und Bulgarien sind heute gefestigte Demokratien, aber sie leiden unter Korruption und einer oftmals verantwortungslosen und populistischen politischen Klasse. Kenner Rumäniens haben das rumänische Volk mit dem Nationalgericht des Landes, dem Maisbrei, verglichen: er kocht vor sich hin, bis er unvermittelt explodiert, wenn die Hitze zu groß wird. Eine solche Explosion hat Rumänien 1990 erlebt; danach fiel das Volk zurück in seine Lethargie und überließ das politische Geschäft wieder den Eliten, die nach der Wende häufig dieselben waren wie davor.
Eine lebendige, kritische Bürgergesellschaft wie in Tschechien und Polen ist in Rumänien und Bulgarien nur ansatzweise entstanden, von Russland und Weißrussland ganz zu schweigen. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte: auf dem östlichen Balkan war es die jahrhundertelange Türkenherrschaft, im Russischen Reich die Knute der Zaren, die, zusammen mit den orthodoxen Nationalkirchen, den Prozess der Aufklärung verhinderten oder doch zumindest bremsten. Dies sollte man immer bedenken, wenn man von „Europa“ spricht. Im Gegensatz zu Joseph Roth und vielen seiner Zeitgenossen meinen wir heute mit diesem Wort den ganzen Kontinent. Europa hat aber zwei Hälften, die manche Gemeinsamkeit, aber auch manchen Unterschied aufweisen. Die Grenze zwischen diesen beiden Hälften verläuft nicht entlang des früheren Eisernen Vorhangs, sondern östlich von ihm. Konflikte zwischen den beiden Teilen des Kontinents sind, wie das Beispiel Bosnien zeigt, auch in Zukunft nicht völlig auszuschließen.

Hansjörg Müller schreibt auch für die kolumbianische Online-Zeitschrift „El Certamen“ (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/

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