Wolfgang Meins / 21.02.2020 / 06:26 / Foto: Pixabay / 151 / Seite ausdrucken

Der Täter von Hanau – eine Diagnose

Dass sich ein zunächst vermeintlich fremdenfeindlich oder auch rassistisch motivierter Anschlag später als Tat einer psychisch schwer gestörten Person herausstellt, die unter dem Einfluss von krankhaften Wahnideen gehandelt hat, ließ sich vor gut einem Jahr in Bottrop beobachten. Auch damals glaubten Medien und Politiker, sofort genau zu wissen, was die Motive des Mannes waren, der in der Silvesternacht mit seinem Auto gezielt in Gruppen von Migranten hineingefahren ist. Mittlerweile hat das Gericht beim Täter aufgrund einer schweren psychischen Störung eine Schuldunfähigkeit festgestellt und die unbefristete Unterbringung in einer forensisch-psychiatrischen Einrichtung beschlossen. 

So würde ein Gericht auch im Falle des Täters von Hanau, Tobias R., urteilen. Nur wird es nicht zu einem Prozess kommen, da der Attentäter sich selbst gerichtet hat. Aber dass es hier sich wiederum um einen Täter handelt, der unter dem Einfluss von wahnhaftem Erleben – oder wie es formal heißt: einer krankhaften seelischen Störung – stand und deswegen unfähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, sollte zumindest dem psychiatrisch etwas Vorgebildeten bereits nach kurzer Lektüre des wirren Manifests des Täters klar sein. Da gibt es auch aus der Ferne kein Vertun. 

Und dementsprechend ist es schlicht Unsinn, zu behaupten, der Täter habe aus fremdenfeindlichen Motiven gehandelt oder – wie der Generalbundesanwalt meint – habe eine „zutiefst rassistische Gesinnung“. Welche Gesinnung der Täter tatsächlich hatte, muss gegenwärtig offen bleiben. Denn dazu muss in Erfahrung gebracht werden, wie dessen Einstellungen und Überzeugungen zu Zeiten waren, wo Denken, Fühlen und Handeln noch nicht unter dem Einfluss seiner krankhaften seelischen Störung standen. Das Manifest des Täters ist deshalb völlig ungeeignet, um auch nur halbwegs sichere Informationen über die „eigentliche“ – die nicht krankhaft bedingte – Gesinnung zu erlangen. Die bisher bekannten Einlassungen von Mitgliedern seines Sportschützenvereins ergeben keine Hinweise auf eine fremdenfeindliche Gesinnung. Aber diese Frage kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund der mageren Quellenlage noch nicht abschließend beantwortet werden. 

Was die Psychiatrie als Denkzerfahrenheit bezeichnet

Das gesamte, nach verschiedenen Medien insgesamt 24 Seiten umfassende und bereits im November 2019 vorliegende Manifest des Attentäters stand mir beim Schreiben dieses Artikels nicht zu Verfügung, aber verschiedene Auszüge. Welche psychiatrischen Symptome lassen sich daraus ableiten? Ganz vorrangig ein Wahn, also eine Veränderung des Erlebens und Denkens, die sich als Fehlbeurteilung der Realität äußert und an der – auch wenn sie im völligen Widerspruch zur Realität steht – festgehalten wird. Inhaltlich handelte es sich beim Täter um einen Verfolgungswahn, in dem auch Größenideen anklingen: Ein nicht genau benannter Geheimdienst überwache ihn, aber nicht nur ihn. Er sei allerdings etwas Besonderes, einige bezeichneten ihn als „Genie“, denn als Einziger habe er die Überwachung bemerkt. 

Es wird dann noch angedeutet, dass diese fremde Macht in Form von (halluzinierten) Stimmen mit ihm kommuniziere. Diese „Schattenregierung“ habe ihn und sein Umfeld beeinflusst durch Gedanken-Kontrolle und Telepathie. Wieder klingen Größenideen an, wenn geäußert wird, dass er auch für die Terroranschläge vom 11. September verantwortlich sei, wobei man ihm entsprechende Träume „eingespielt“ habe. In diesem Stil geht es endlos weiter. Deutlich wird dabei vor allem auch das, was die Psychiatrie als Denkzerfahrenheit bezeichnet: Das Denken und Sprechen verliert für den Zuhörer seinen verständlichen Zusammenhang. 

Besonders deutlich wird das an den Stellen, in denen es um seine „Abneigung“ gegen bestimmte Völker geht, die Vernichtung großer Teile der Weltbevölkerung und, dass er sich eine „Halbierung“ der deutschen Bevölkerung „vorstellen“ könne. Darüber hinaus klingt in wirrer Form auch an, die Erde vor ihrer Entstehung mittels einer „Zeitschleife“ vernichten zu wollen, um das spätere „Millionenfache Leid“ zu vermeiden. Aber zu dieser Rettung sei nur ein Teil der Menschheit befähigt, der andere Teil müsse vorher eliminiert werden. 

Es bleibt eine furchtbare Tat

Eine solche Symptomatik wie beim Attentäter kann grundsätzlich durch verschiedene Erkrankungen des Gehirns verursacht werden. Am wahrscheinlichsten handelt es sich hier jedoch um Symptome im Rahmen einer Schizophrenie. Ob diese – meist chronisch verlaufende – Erkrankung sich tatsächlich erst in den letzten Monaten entwickelt oder schon über Jahre in stark abgeschwächter Form bestanden hat, muss beim jetzigen Informationsstand offen bleiben. 

Auch wenn der Täter von Hanau aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage war, das Unrecht seiner Tat einzusehen, bleibt es eine furchtbare Tat. Wenn Mainstream-Politiker und -Medien sowie neuerdings auch der Generalbundesanwalt diese Tat als Ausdruck einer rassistischen oder fremdenfeindlichen Gesinnung bezeichnen, dann folgen sie bloß ihren niederen politischen Instinkten und ihrem Kalkül – wie es sich in den letzten Jahren eben so eingeschliffen hat. 

Tatsächlich aber lässt die Tat einer Person, die unter dem Einfluss eines wirren Verfolgungswahns, einhergehend mit einem hochgradigen Realitätsverlust, überhaupt keine Rückschlüsse über dessen eigentliche Gesinnung zu. Die Art des Wahnthemas wird natürlich beeinflusst durch die beherrschenden gesellschaftspolitischen Themen: Früher ging es mehr um Religion, im Kalten Krieg dann um CIA, KGB und Stasi. Aber ansonsten folgt das wahnhafte Erleben den eigenen Gesetzen der zugrunde liegenden Krankheit. Das beim Täter in seinem Manifest vordergründig aufscheinende fremdenfeindliche Motiv kann natürlich auch in gesunden Tagen bei ihm vorhanden gewesen sein, aber ebenso auch das genaue Gegenteil oder alles, was dazwischen liegt. 

Früher war das auch allen klar, allerdings waren die vorherrschenden Wahnthemen zu Zeiten des Kalten Krieges auch politisch nicht so brisant, wie es manchmal heute der Fall ist. So erinnere ich mich an einen schizophrenen Patienten, der sich im Rahmen eines Krankheitsschubes vom KGB kontrolliert und abgehört wähnte. Auch sein treuer Dackel, an dem er sehr hing, wurde schließlich in das Wahnsystem mit einbezogen, leider in der Rolle als KGB-Spitzel, was dem Hund dann das Leben kostete. Aber niemand wäre damals auf die Idee gekommen, ihn deshalb für einen notorischen Tierquäler zu halten oder gar die sowjetische Regierung für den Tod des Dackels verantwortlich zu machen. 

 

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.                  

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Klaus Beck / 21.02.2020

Vielen Dank für die Analyse und die fachliche Einordnung.

Gudrun Dietzel / 21.02.2020

Danke, Herr Meins, für diese fundierte Einordnung. Grob fahrlässig handeln der Generalbundesanwalt, die Politiker, die Medien und all jene, die diese Tat als rassistisch motiviert und damit politisch abtun. Selbst für den Laien ist hier unschwer erkennbar, daß dieser Mann krank und ein Fall für die Psychiatrie war. Das Tragische oder besser das Unverantwortliche ist, daß offenbar keiner der den Täter umgebenden Personen die Krankheit bemerkte (oder bemerkt haben will). Was ich unglaubwürdig finden würde. Das aber und die schnellen Einschätzungen der oben Genannten birgt eine große Gefahr, die ich mittlerweile für hochpotenziert halte: Daß, um „RECHTS“ weiter verfolgen zu können, die elementaren Aufgaben von Politik, Ermittlungsorganen und öffentlichen Meinungsbildnern gar nicht mehr wahrgenommen werden, was dazu führt, daß, wie in diesem Fall, dringend zu behandelnde kranke Menschen zur Gefahr für das Land und seine Bürger werden können. Das ist auch eine Art von Bürgerkrieg.

Lilo Start / 21.02.2020

Viele Bürger, dazu gehören anscheinend unsere politischen “Leitfiguren” samt medialen Anhang, haben sich diesen Persönlichkeiten nie ehrlich ausgesetzt! Sie weichen dem Phänomen aus instinktiven Selbstschutz aus. Das Wort “verrückt” maskiert diese Ausgrenzung. Man kann Freunde haben, die dieses Schicksal ereilt, Familie, Verwandtschaft kann betroffen sein! Man trifft Sie, wenn man in sozialen und medizinischen Jobs arbeitet und als Obdachlose, wenn man, wie ich in Berlin lebt. Angeblich entwickelt ein Prozent der Menschheit, egal woher, Wahn! Nur wenige werden zu Attentäter. Man spürt die zunehmende Unerreichbarkeit dieser Personen und, das ist wichtig, die eigene Hilflosigkeit und, wenn man Distanz entwickelt, erkennt man die Gefahr, die von diesen Personen ausgeht, für sich und ihre Umwelt, bei diesem Tanz auf dem Vulkan. Ich habe mich oft gewundert, wie unwissend und ignorant unsere Gesellschaft mit ihnen und dem Phänomen umgeht. Es braucht Gesetze und umfassende Therapieangebote. Angehörige müssen mit ausgebildet werden. Diese Unwissenheit und Ignoranz ist für mich der Grund, warum diese Tragödie stattfand. Die Verantwortungsabwehr und die billigen politischen Tricks, die man gestern aller ortens ertragen mußte, ist in höchstem Maße abstoßend. Es geht hierin nicht um die Opfer und die Tragödie noch um die mit Phrasen überschütteten Angehörigen.

Fritz kolb / 21.02.2020

Danke für Ihre erste Analyse des Täters, Herr Meins. Nach Lektüre des „Manifests“ war meine, zugegeben laienhafte Interpretation, daß es sich um einen Geisteskranken handeln muss.  Um so abstoßender die spontanen Reaktionen diverser *Politikerinnen*. Es platzte förmlich aus einer Frau Esken heraus, die Ursache und Wirkung der AfD zuschrieb. Weitere hysterische Zuschreibungen folgten dann im Minutentakt. Und die Medien trotteten willig hinterher. Der Generalbundesanwalt, dem ich gerne eine pragmatische Sicht auf die Dinge unterstellen möchte, hat mich mit seiner voreiligen Festlegung auf den Täterhintergrund indes sehr enttäuscht. Blenden ihn die politischen Ränkespiele sosehr, daß er nicht mehr Kurs halten kann? Dann sollte er dringend zum Arzt gehen.

Franck Royale / 21.02.2020

Wenn der Täter von Hanau fabuliert, daß er „für die Terroranschläge vom 11. September verantwortlich sei“, könnte man als Politiker ja auch sagen, Tobias R. ist ein Islamist, im Koran finden sich bekanntlich nicht wenige Stellen, welche die Vernichtung anderer Völker verherrlichen, Muslime müssten stärker beobachtet werden usw. Aber nein, der CDU-Erklärbär Armin Laschet weiß es bei Maybrit Ilner ganz genau: „Ja, der Feind steht rechts“. Eine Wahnsinns-Tat in Hanau, welche gleich nach Thüringen wieder den ganzen Wahnsinn in der Politik offenlegt, live und in Farbe.

U. Lutz / 21.02.2020

Eine Analyse wie diese erwarte ich eigentlich in allen Medien und auch von der Politik. Aber die Tat des Kranken wird jetzt wieder maximal instrumentalisiert, gegen “Rechts”, gegen den politischen Gegner. Ich denke viele durchschauen dieses Manöver mittlerweile. Die Spaltung der Gesellschaft wird jedenfalls weiter vertieft.

Wilfried Cremer / 21.02.2020

Es gibt eine gute Instrumentalisierung und eine böse Instrumentalisierung. Sowie Wahnsinn mit und ohne Weltanschauung. Die Unterteilung nimmt der Merkelstaatsfunk vor.

Andreas Rühl / 21.02.2020

Um es klipp und klar zu sagen: Wer infolge einer derartigen Tat eines wahnkranken Menschen seine Meinung zu Migration meint überdenken zu müssen oder keine AfD wählt oder erst recht AfD wählt, kurz, jeder, der so etwas zum Anlass nimmt, seine durch vernünftige Abwägung von Argumenten gewonnene Einstellung zu ändern zu gesellschaftspolitischen Fragen, hat selbst einen gewaltigen Sprung in der Schüssel. Wer das von andern fordert, ist entweder krank oder ein Demagoge. Das Ausmaß an widerlichkeit ist kaum noch zu ueberbieten.

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