Der Sonntagsfahrer: Wer kapituliert zuerst?

Für viele deutsche Chefs kommt Kapitulation niemals in Frage. Über zwei Drittel der Führungskräfte, so ergab vor ein paar Jahren eine Umfrage, betrachteten „Aushalten“ und „Durchhalten“ als ganz besonders wertvolle Eigenschaften. Das gleiche dürfte für Politiker jeglicher Couleur gelten. Daher fehlt es den psychatrischen Einrichtungen auch nicht an Patienten. Und dem gemeinen Bürger nicht an Schlafstörungen und Problemen. Die Folgen des eisernen Durchhaltewillens sind vielfach zu besichtigen, am auffälligsten wohl in Gestalt von 30.000 Windrädern und der sogenannten Energiewende. Lieber Blackout als weiße Fahne. 

Der psychologische Hintergrund lässt sich am besten mit einem bekannten jüdischen Witz beleuchten: Ein alter Bauer sitzt in einem Zug in Galizien und jammert von Station zu Station immer lauter. Man fragt ihn, was denn sei und ob man ihm helfen könne. Antwort: „Ich sitze im falschen Zug und mit jeder Station wird die Rückreise immer länger“. Diese Einsicht lässt sich geradezu universell auf gegenwärtige Geschehnisse übertragen: Von der Corona-Politik bis zur Energiewende. 

Das Wort „Wende“ meint mittlerweile das Gegenteil von dem, was es ursprünglich bedeutete. Verordnete „Wenden“ sind inzwischen ein Synonym für die Volldampf-Fahrt geradewegs in die Sackgasse, weil unsere Lockomotiv-Führerin den Rückwärtsgang für eine nationale Bedrohung hält. Sie pflügt voran wie Molli durch das Hochwasser von Bad Doberan. Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Zappelstrom ist Klimarettung! Maske ist Freiheit! Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke! Hausarrest ist Gemeinsinn! 

Von Fakten rundum geschützt und hohlraumversiegelt

Warum ist das Kapitulieren in diesem Lande so einseitig verteilt? Ich will jetzt nicht mit Stalingrad kommen und dem Führerbunker. Auch im Ausland ist man vernagelt, allerdings nicht ganz so gründlich wie die Stuttgarter Innenstadt nach einem Auftritt der Event-Szene. Auch im Privatleben gilt vielen Menschen unbeirrtes Durchhalten als besondere Leistung. Das betrifft auch Überzeugungen. Die meisten Menschen bauen ihre Weltanschauung mit Anfang zwanzig, zunächst noch in Form eines Baumhauses im Hambacher Forst. Im Laufe des Lebens wird die zugige Hütte dann mit Beton ausgegossen. Nach Erreichen der oberen Gehaltsklassen zieht man dann in ein Bauhaus-Ensemble mit kubischen Schießscharten um, das gesinnungsmäßig abgedichtet ist wie ein Null-Energiehaus. Zur Sicherheit wird das Oberstübchen auch noch hohlraumversiegelt. 

Wer das ungeliebte Studium abbricht oder den sicheren Job hinschmeißt, stößt auf Unverständnis. Man ist damit schon haarscharf benachbart mit Skeptikern und Renegaten, und somit dem fahrenden Volk, das der Nation nachts die Wäsche vom Gesinnungsständer klaut. 

Durchhalten bis zur Rente ist ein sozial anerkanntes Ziel. Solange die dann pünktlich kommt, ist die Politik von der Notwendigkeit einer Kapitulation so weit entfernt wie die Uckermark von der Südsee. Wer hierzulande an die Macht kommen und dort bleiben will, muss in erster Linie durchhalten. Der Marsch durch die Parteigremien ist ungefähr so prickelnd wie ein Vatertags-Ausflug mit Karl Lauterbach. Bestimmte Formen des Irrsinns fördern im politischen Gewerk den beruflichen Erfolg. Seit Freud wissen wir, dass der Neurotiker seine Neurose mit aller Kraft verteidigt. Sollte Angela Merkel einmal kapitulieren müssen, wird sie nicht vom Volke dazu gezwungen werden, sondern von der Wirklichkeit. 

Das ist eigentlich schade für sie. Wer gesund bleiben will, sollte öfter mal kapitulieren. Das hält jung. Es ist aber zugegebnermaßen nicht der Karriere förderlich. Es sei denn, man kapituliert vor den bestehenden Verhältnissen, wie derzeit schätzungsweise die knappe Hälfte der Bundesbürger, die nicht vom Staat lebt. 

Ich bin sehr fürs Kapitulieren, aber der Meinung, dass allmählich mal die Anderen dran sind. „Kapitulation“ hieß übrigens einer der größten Hits der Berliner Band „Tocotronic“, ein leicht melancholischer Lobgesang auf das Loslassen können, mit ein paar durchaus hoffnungsvollen Zeilen.

Auszug aus dem Songtext:

Kapitulation ohoh...
Alle, die die Liebe suchen
Sie müssen kapitulieren
Alle, die die Liebe finden
Sie müssen kapitulieren
Alle, die disziplinieren
Sie müssen kapitulieren
Alle, die uns kontrollieren
Sie müssen kapitulieren
Alle, die uns deprimieren
Sie müssen kapitulieren
Lasst uns an alle appellieren
Wir müssen kapitulieren

Kapitulation ohoh...

 

Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Karl Mistelberger / 01.11.2020

In zehn oder zwanzig Jahren ist Deutschland reif für einen deutschen Trump. Der SUV kam auch mit einiger Verzögerung von drüben, hat sich aber letztlich durchgesetzt.

Dieter Weingardt / 01.11.2020

Das Ganze erinnert ein bisschen an den abgedrehten tschechischen Phantasiefilm „auf dem Planeten“ von Karel Zeman.

Stefan Riedel / 01.11.2020

...“Warum ist das Kapitulieren in diesem Lande so einseitig verteilt? “... Naja, ich werde vor Karl Lauterbach, Sawsan Mohammed Chebli [ˈsɔːˌsan ˈʃɪbˌli] (* 26. Juli 1978 in West-Berlin) ist eine deutsche (?), (Fragezeichen von mir, (Wikipedia))  Helge Lindh, Joe Biden,  Angela Merkel… nicht kapitulieren. Und die Achse und ihre Leserbriefe helfen mir dabei.

Dr. Joachim Lucas / 01.11.2020

Ja, Deutschland hat sich in eine hoffnungslose Lage manövriert; aber Kapitulation? Nie! Mehr Wunderwaffen müssen her: die V2, neue Vindräder, dann Mentalbunker für alle, mehr Geld, noch mehr Wir statt Ich und vor allem Glauben, Glauben, Glauben. Dann schaffen wir es noch bis viertel nach Zwölf.

Hans-Peter Dollhopf / 01.11.2020

{“Sollte Angela Merkel einmal kapitulieren müssen, wird sie nicht vom Volke dazu gezwungen werden, sondern von der Wirklichkeit. Das ist eigentlich schade für sie. Wer gesund bleiben will, sollte öfter mal kapitulieren.”} Bitterböse. Was können wir tun, um ihr Schicksal zu erleichtern? Sie wegsperren, bevor sie lichterloh in Flammen steht?

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com