Dirk Maxeiner / 26.06.2022 / 06:29 / Foto: Imago / 80 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Der Zuglauf von Oschatz

Der „Zuglauf von Oschatz“ hat das Zeug, in die Eisenbahn-Geschichte einzugehen, so ähnlich wie der Einsturz der Brücke am Tay, nur nicht so tragisch, sondern heldenhaft. Jedenfalls gab es bei der Weiterfahrt stehenden Applaus.

Der Abstieg der Bahn und der gleichzeitige Aufstieg der volkstümlichen Bahngeschichten sind kommunizierende Röhren. Je schlechter der Mensch auf den Schienen verkehrt, desto besser werden die Geschichten darüber. Das Genre gehört im weitesten Sinne zu den modernen Sagen, neudeutsch „Urban Legends“. Die Protagonisten einer modernen Sage sind meist nicht namentlich bekannt. Oft wird berichtet, die jeweilige Geschichte sei dem Freund eines glaubwürdigen Bekannten passiert. Daher stammt die englische Bezeichnung „FOAF tales“: „friend of a friend tales“.

Das folgende Bahn-Kabinettstück erreichte mich allerdings auf fast direktem Wege. Der Achgut-Kameramann rief heute morgen bei mir an und reichte das Telefon an seine Freundin weiter, die oft mit der Bahn zwischen Leipzig und Dresden pendelt. Sie hat mein Buch „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts“ gelesen und plädierte sogleich für einen Fortsetzungsband mit dem Titel „Hilfe, mein Waggon überholt mich links“, wahlweise „Neun Euro für ein Halleluja“. Und da mir mitunter, besonders wenn es lustig wird, jede Relotiade zugetraut wird, hier der Hinweis: Die Story stimmt, ich schwör. Und sie trug sich am vergangenen Freitag genauso zu. 

Am Hauptbahnhof in Leipzig wartete eine riesige Neun-Euro-Crowd gegen Mittag auf den Regionalexpress nach Dresden. Rucksäcke, Taschen und Koffer in Hab-Acht-Stellung, um jederzeit für den Sturm auf die freien Plätze gewappnet zu sein. Das erinnert ein wenig an den früheren „LeMans-Start“, bei dem sich die Rennfahrer des 24-Stunden-Rennens auf der Fahrbahn gegenüber ihren Boliden aufstellen mussten und auf ein Zeichen hin über die Strecke sprinteten, sich ins Auto schwangen und dann in einem gewaltigen Tohuwabohu losrasten.

Aussteigen, um einen Dienst an der Gemeinschaft zu leisten

Der Zug hatte bei seiner Einfahrt in den Leipziger Hauptbahnhof die übliche akademische Viertelstunde Verspätung, genauer gesagt 20 Minuten, kam also nach Bahnsommerzeit maximal pünktlich an. Es fehlte allerdings ein Waggon. Der muss irgendwo unbemerkt abhandengekommen oder vergessen worden sein. Vielleicht streikte er auch wegen Altersschwäche und wurde auf einem einsamen Abstellgleis künstlich beatmet. Der geschrumpfte Regionalexpress wurde dann entschlossen geentert, ganz so, als handele es sich um die Grenzzäune der spanischen Enklave Melilla. Etwa ein Viertel der Reisewilligen musste allerdings draußen bleiben und guckte verzweifelt in die Röhre beziehungsweise das Ausfahrtsgleis des Leipziger Hauptbahnhofs.

Diejenigen im Zug, die geglaubt hatten, es geschafft zu haben, wurden aber sehr schnell eines Besseren belehrt, denn in Borsdorf, dem nächsten Bahnhof, kam die Neun-Euro-Fuhre ächzend zum Stehen. Über Lautsprecher wurde dekretiert, dass der Zug das maximale Zuladegewicht um fünf Prozent überschreite und deshalb leider nicht weiterfahren könne. Und dass Reisende, die nix Wichtiges vorhätten, bitte aussteigen mögen, um einen Dienst an der Gemeinschaft zu leisten, sie würden von einem Nachfolgezug später aufgelesen. Eine Einladung, die den Angesprochenen so verlockend erschien wie das sozialverträgliche Frühableben.

Jedenfalls zog die Sache sehr viele fragende Gesichter nach sich. Beispielsweise: Ist ein Mathematiker an Bord, der ausrechnen kann, wie viele Reisende fünf Prozent Zuladegewicht ausmachen? Oder: Was krieg ich, wenn ich aussteige? Die Wartezeit konnte für vielfältige Sozialstudien genutzt werden, meine Gewährsfrau überlegt, eine Doktorarbeit zum Thema „Solidargemeinschaft Deutsche Bahn“ zu verfertigen. Da war die Mutter von drei Kindern, die nervös dem Zeitpunkt entgegensah, an dem die zur Besänftigung der Brut dargereichten Süßigkeiten zu Ende gehen würden. Da war der Galgenhumor angesichts des überaus korpulenten Zugführers: „Wenn der aussteigt, haben wir fünf Prozent weniger Gewicht“. Insgesamt zeigte sich das bewundernswerte Talent der Deutschen zur nachhaltigen Leidensgemeinschaft. 

Fünf Polizisten und ein Krisenberater 

Irgendwann bewegte sich die Fuhre behutsam weiter wie ein Transport mit Eiern aus Bodenhaltung. Sichtbare Abgänge waren kaum zu verzeichnen. Gerade wieder in Schwung, wurde die Erlebnisgesellschaft Deutsche Bahn dann aber an einem weiteren Zwischenstopp in der der Kampfzone Oschatz wieder ausgebremst. Dort warteten fünf Polizisten und ein Krisenberater auf die renitenten Waggon-Besatzer, von denen einige zum Umstieg in einen anderen Zug bewegt werden sollten, der irgendwann tatsächlich am gegenüberliegenden Gleis eintraf.

Der schwergewichtige Zugführer gab dem gespannten Publikum dann bekannt, dass er nun die in solchen Fällen vorgeschriebene „Laufprobe“ machen würde. Will sagen: Wenn er es schafft, sich vom Ende des Zuges bis ganz an den Anfang durch die Passagiermassen zu quetschen, steht einem nach Bahnvorschriften legalen Weitertransport nichts im Wege. Dies geschah unter anfeuernden Rufen und der Darreichung von Kaltgetränken, wie man es sonst nur beim Sprint auf den Mont Ventoux bei der Tour de France sieht. Der Mann kam durch und sah danach aus, als habe er in voller Montur ein Bad in der Elbe genommen. 

Der „Zuglauf von Oschatz“ hat jedenfalls das Zeug, in die Eisenbahn-Geschichte einzugehen, so ähnlich wie der Einsturz der Brücke am Tay, nur nicht so tragisch, sondern heldenhaft. Jedenfalls gab es bei der Weiterfahrt stehenden Applaus, ein Passagier äußerte sogar die Absicht, die Sportart Zuglauf aus ewiger Dankbarkeit als Olympische Disziplin vorzuschlagen. In der Gemarkung Riesa kam es dann zu einem weiteren besinnlichen Aufenthalt, weil das Bahngleis in Dresden naturgemäß nicht frei war. Später dann, kurz vor dem Fahrtende, fand die Bahn souverän zu ihrer gewohnten Genauigkeit und Verbindlichkeit zurück. Der Zugführer gab zufrieden bekannt: „Wir erreichen nun Dresden, unsere Verspätung beträgt derzeit 141 Minuten“.

 

Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.

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Annette Mueller / 26.06.2022

Bei der Auswahl an Hexen im Politbereich wird die Anzahl von Drei aber deutlichst überschritten, da kommt man fix auf dreißig oder auch dreihundert bösartige Wesen in Frauenkleidern, der Bart wurde vorsorglich abrasiert.

Bernd Steinbrink / 26.06.2022

War neulich auch mit der Bahn unterwegs, probehalber, weil die Autobahn und die Brücken defekt sind und Staus verursachen. Doch auch die Bahn hatte von Norden bis zum Bodensee mehr als zwei Stunden Verspätung. Es was sehr stressig, weil kein Anschlusszug erreicht wurde. Mein Fazit, frei nach Karl Lagerfeld: “Wer mit der Bahn fährt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.”

Franz Michael / 26.06.2022

Buch “Schaden in der Oberleitung - Das geplante Desaster der Deutschen Bahn.” 2019 Der Journalist Arno Luik “Ich sitze gerade im Zug. Falsche Wagenreihung, das Bordrestaurant fällt aus, der Zug ist überfüllt, die Reservierungen gelten nicht, wir haben eine halbe Stunde Verspätung, Aggression liegt in der Luft. “, “140 000 Züge fielen 2017 komplett aus”, “diese ausgefallenen Züge tauchen in der Verspätungsstatistik der Bahn nicht auf.”, “Als er (Mehdorn) 1999 an die Macht kam, machte die Bahn noch 95 Prozent ihrer Geschäfte in Deutschland, heute macht sie über 50 Prozent ihres Umsatzes im Ausland. Groß sind die Umsätze, aber die Rendite ist gering, die Investitionen amortisieren sich nicht. Die Deutsche Bahn AG ist in 140 Ländern unterwegs, zu Luft, zu Wasser, auf dem Land. Das ist ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht. Sie agiert zum Beispiel in Aserbaidschan, Malediven, Aruba, Nepal. Sie betreibt Wein- und Minenlogistik in Australien, macht in Großbritannien Krankentransporte, ist Marktführer im Schiffsverkehr zwischen China und den USA. Dieser imperiale Größenwahn hat über zehn Milliarden Euro gekostet.”<—Seit über 20 Jahren haben Politiker einen Schaden in der Oberleitung. Massive globale Korruption und keinen interessiert es. Siehe auch Arriva. Die wahren Zerstörer und Antidemokraten sitzen hinter dem berliner Panzergraben.

Dr. Eberhard Schmidt / 26.06.2022

an Andreas Mertens / 26.06.2022 „Also ich bräuchte da nochmal eine Achgut-Auffrischung zum Thema: “Warum darf genau das Volk seine Herrscher nicht teeren, federn und in die Spree werfen?” “ Also das kann ich Ihnen sagen. So etwas ist möglich und erlaubt in Feudalismus, Autokratie, Sklavenhaltergesellschaften und Kolonialismus. Nicht aber in Demokratien. Denn da, so steht es in allen Lehrbüchern, wählt das Volk seine Herrscher ja selbst aus und kann ihnen daher nicht böse sein. In einer Demokratie kann es daher weder Revolution noch Rebellion geben, und die Herrscher bleiben ungeteert, ungefedert und ungeworfen. Im übrigen wäre das ressourcenbelastend, klimschädlich und wasserverschmutzend.

E. Franke / 26.06.2022

Genießen sie das Leben in vollen Zügen. Ob oder wann sie irgendwo ankommen bleibt ungewiss. Aber immerhin kostet der Spass nur 9 Euro. Ein “Schnäppchen” sozusagen. Immer hereinspaziert, wer will nochmal, wer hat noch nicht. Hier erleben sie Abenteuer, die sie noch ihren Enkeln erzählen können.

Friedrich Richter / 26.06.2022

Gerade auf dieser Strecke hätte das leicht vermieden werden können. Man hätte bestimmt noch einen alten Reichsbahner gefunden, der weiss, wie es geht. Der Dumpingpreis ist schon ein guter Anfang, aber Zugüberfüllungen und Verspätungen haben seitens des Personals souverän ignoriert zu werden. Auskünfte an Reisende haben nicht erteilt zu werden, und vor allem darf nichts versprochen werden, was man nicht halten kann. So erzieht man den Reisenden, und bald freuen sich alle, wenn überhaupt ein Zug fährt, während sie nicht überrascht sind, wenn keiner fährt. Das funktioniert sogar mit deutlich eingeschränkter individueller Mobilität, weil die ganze Gesellschaft darauf eingestellt ist und niemand mehr irgendwelche Erwartungen hat. Dann hat der Sozialismus endlich wieder gesiegt, zumindest für ungefähr 40 Jahre.

Frank Stricker / 26.06.2022

@Winston Schmitt , “In Japan würden sich die Zugführer reihenweise erschießen, bei einer Verspätung von 141 Minuten”. Das ist in Deutschland (Gott sei Dank) nicht möglich, weil schlicht und ergreifend die Munition fehlt! Kein Witz, es gibt Bundeswehrübungen, wo selbst Platzpatronen fehlen. Da werden die Soldaten aufgefordert beim imaginären Schießen “Bumm” zu rufen…....Lambrecht übernehmen Sie ! (Mit oder ohne High-Heels)

Franz Michael / 26.06.2022

Das reale gelebte Schildbürger Land in der eine Demokratie vor allem Wirtschaft simuliert und teuer bezahlt wird. Das rest- und gnadenlose Versagen der gesamten Politik wird überdeutlich. Da werden mittels Blutdiamanten, Waffenschieber, Drogen Schwarzgelder für die lokalen Sparkassen/Banken die im Grundbuchamt stehen die Städte extrem hochverdichtet so das ein normales soziales Leben für Mensch noch Tier nicht mehr möglich ist. Erst generieren Politiker durch die Grundsteuer höhere Steuereinnahmen, dank immer weniger vorhandenen Parkplätzen werden diese für eine Jahresgebühr verkauft. Und im Shithole Hamburg wollen sie die Anwohnerparkgebühr noch erhöhen. Nun lassen viele ihr Fahrzeug stehen und wechseln in die Öffis. Und die waren zuvor schon restlos überfordert. Das nenne ich Demokratie- und Wirtschaftssimulation. Die Regierung und ihre verrückte Politik, sie und andere wurde vom ehemalige Schweizer Geheimdienstoffizier und NATO-Berater Jacques Baud bis in die Grundmauer verurteilt (NDS), und zwar gesamt Europa—>“Bevor irgendein Ergebnis von irgendeiner Untersuchung vorliegt – und das sollte eine internationale, unparteiische Untersuchung sein. Ohne das zu haben, fangen wir schon an, Sanktionen zu verhängen, Entscheidungen zu treffen – ich denke, das zeigt, wie pervertiert dieser ganze Entscheidungsprozess im Westen ist…. was für eine unreife Führungsschicht wir generell im Westen haben. “<—Bei der Bahn fehlt nur noch eine Begrenzung der Körpergröße, die Planung scheint wie bei der Bekleidung, ein asiatischer Faktor Grundlage zu sein. Politiker, Manager sind wohl geistige Gartenzwerge.

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