Georg Etscheit / 25.12.2023 / 10:00 / Foto: Heinz Mathis / 69 / Seite ausdrucken

Der entweihte Märchenwald

Der Reinhardswald war für meine Mutter ein Refugium, als sie schon krank an der Seele war. Jetzt entweihen sie den Ort durch den Bau eines gigantischen Windparks, und ich werde ihn nie wieder besuchen können. Es bleibt nur die Erinnerung.

Wir gingen schweigend nebeneinander her, meine Mutter und ich. Sie trug ihren Lammfellmantel im Look der Siebziger Jahre, denn es war schon herbstlich kühl in diesem Oktober des Jahres 1977. Oder war es schon ein Jahr später, so genau weiß ich das nicht mehr. Meine Mutter war damals Anfang fünfzig, sie war keine junge Frau mehr, aber auch nicht alt. Viel Zeit blieb ihr nicht. Denn sie war krank, krank an der Seele. Dämonen hatten sich in ihrem Kopf eingenistet, ergriffen Besitz von ihr und quälten sie. Wenig später nahm sie sich das Leben. 

Langsam lichtete sich der Nebel, denn die Sonne des zur Neige gehenden Jahres hat keine Kraft mehr. Doch irgendwann rissen die feuchtkühlen Schwaden auf, und die schweigenden Wälder des Weserberglandes leuchteten in allen Farben, die der nordhessische Herbst zu bieten hat. Unten im dünn besiedelten Tal floss unhörbar die junge Weser. Wir waren mit ihrem kleinen weißen Renault mit altertümlicher Revolverschaltung auf einer klapprigen Fähre übergesetzt, die noch an über den Fluss gespannten Drahtseilen hing und sich nach den Gesetzen der Trigonometrie nur mit der Schubkraft des fließenden Wassers unter leisem Plätschern von einem Ufer zum anderen bewegte.

Es gibt Bilder, Stimmungen, Schwingungen, Temperaturen, die sich wie Brandmale ins Gedächtnis graben, wahrscheinlich irgendwo tief im limbischen System verankert sind, wo alles haust, was mit Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung zu tun hat, alles was wirklich wichtig ist, wenn man so will. Dieser Tag zusammen mit meiner Mutter nahe der Sababurg im Reinhardswald unweit von Kassel gehören zu diesen unauslöschlichen Erinnerungen, die ich, wann immer mir danach ist, wachrufen kann. 

Es war ihr Refugium

In der letzten Zeit ihres Lebens fuhr meine Mutter gerne auf die zu einem Hotel umgebaute Burg mit ihren zwei, von prägnanten Hauben gekrönten Türmen. Hier hoffte sie, Ruhe zu finden, die Dämonen in ihrem Kopf wenigstens für kurze Zeit in Schach halten zu können. Es war ihr Refugium. Einmal, in jenem Herbst, besuchte ich sie dort. Ich kam wohl, weil ich noch keinen Führerschein besaß, mit dem Zug, und sie holte mich ab am Bahnhof in Kassel. Dann ging es über Hofgeismar in den sagenumwobenen Wald, der von Touristikern in Anspielung auf die Gebrüder Grimm und ihren oberhessischen Wirkungsort als „Märchenwald“ vermarktet wird. 

Doch Grimms Märchen sind oft ganz unmärchenhaft grausig und das genaue Gegenteil dieser überaus friedlich gestimmten Landschaft mit ihren weiten Laubwäldern, durchzogen vom Lauf der Oberweser, durchbrochen von anmutigen Rodungsinseln wie jener um Schloss und Hofgut Beberbeck, durchsetzt von bizarren Huteeichen, Relikten einer überkommenen Art der Waldbewirtschaftung, der Waldweiden. Anstatt es im Stall zu füttern, trieb man das Vieh einfach in den Gemeindewald, wo es alle Triebe und Gräser rund um die größeren Bäume abfraß und diese besonders große Kronen bilden konnten. Deren herabfallende Früchte, insbesondere die Eicheln, waren eine begehrte Mast für die Tiere.   

Gewissermaßen im Schatten der vielhundertjährigen Bäume hatte sich meine Mutter einquartiert. Mir war etwas mulmig zumute, als ich auf der Sababurg eintraf. Auf ihrem Nachttisch fand ich kleine Tierfiguren, die sie aus ihrem Setzkasten zu Hause mitgenommen hatte. Sie kamen mir vor wie Amulette, die böse Geister bannen sollen. Als ich sie sah, krampfte sich mein Herz zusammen. Doch ich drängte die Gefahr, in der sich meine Mutter befand, beiseite, und wir verbrachten hier noch ein paar unbeschwerte Tage. Durch ihre Krankheit hatten wir uns voneinander entfernt. Hier begegneten wir uns wieder, ein letztes Mal.

Unheilige Verbindung aus Geschäftssinn und Weltrettungsattitüde

Zum Frühstück und zum Abendessen trafen wir uns im Speisesaal des Hotels Sababurg, das man in jagdlichem Stil ausstaffiert hatte mit kitschigen Ansichten des Reinhardswaldes und Jagdhörnern, die zu Lampen umfunktioniert worden waren. Durch ein Panoramafenster konnte man auf den Tierpark Sababurg blicken, einen der ältesten und größten Wildparks in Europa. Wir fuhren hinab nach Gieselwerder im Wesertal und besuchten natürlich den Urwald Sababurg, ein Naturschutzgebiet mit besonders imposanten Huteeichen inmitten von Farnwäldern, die sich schon leuchtend gelb gefärbt hatten. Ich ging voran, meine Mutter folgte mit einigem Abstand. Manchmal blieb ich stehen und hielt die Luft an, damit kein Atemzug die fast unwirkliche Stille stören konnte.

Seither ist mir dieser Wald, sind mir die Erinnerungen daran heilig. Ich war entsetzt, als vor gut zehn Jahren Pläne bekannt wurden, dass Investoren auf dem Gelände des Hofgutes Beberbeck, nur wenige Kilometer von der Sababurg entfernt, ein gigantisches Ferienresort mit Hotels, Golfplätzen und einem künstlichen See zu errichten beabsichtigten. Die aus der Zeit gefallene Abgeschiedenheit wäre auf einen Schlag dahin gewesen. Glücklicherweise scheiterten die größenwahnsinnigen Pläne des damaligen Bürgermeisters von Hofgeismar, über den der Kasseler Dokumentarfilmer Klaus Stern den preisgekrönten Film „Henners Traum“ gedreht hatte. Er handelt davon, wie ein Provinzpolitiker aus einer Einöde das größte Tourismusprojekt Europas stampfen wollte. 

Henners Traum blieb ein (böser) Traum. Doch gegen das, was in diesen Tagen geschieht im Reinhardwald, ist offenbar kein Kraut gewachsen. Denn hier verbindet sich Geschäftssinn mit einer Weltrettungsattitüde, die letztlich auch eine Form von Größenwahn ist, aber von wesentlich größerer Durchschlagskraft als die mehr aufs eigene Wohl gerichteten Ambitionen eines von seiner eigenen, angemaßten Bedeutung berauschten Mandatsträgers.

So etwas wie Grabschänder

Wenn sich kein Wunder ereignet, wird sich mitten im Reinhardswald, in Sichtweite der Sababurg, schon bald der größte „Windpark“ Hessens erheben. Jahrelange Proteste gegen das Energiewende-Prestigeprojekt der einstigen schwarz-grünen Landesregierung in Wiesbaden blieben ungehört. Jetzt kreischen die Sägen, dröhnen die Holzerntemaschinen im Wald, um Bauplätze und 14 Kilometer Schneisen freizuschlagen, auf denen die riesigen Masten und Rotoren an ihre künftigen Bestimmungsorte transportiert werden. 

Zunächst sollen auf zwei behördlich ausgewiesenen Windkraftvorrangflächen 18 fast 250 Meter hohen Windkraftwerke in den Himmel ragen, jedes höher als der Kölner Dom. Auf insgesamt sieben solcher Flächen wäre Platz für mindestens fünfzig Windturbinen. Aus dem Wunderwald wird ein Industriegebiet ohne Magie.

Niemand weiß, was hier geschah mit mir und meiner Mutter, natürlich nicht, wie sollte man es wissen. Doch ich dachte insgeheim, dass auch anderen heilig sein müsste, was mir heilig ist. Das man an diesen Wald, an diese Landschaft nicht rühren würde, weil sie unantastbar ist. Für mich sind die, die den Reinhardswald auf dem Gewissen haben, so etwas wie Grabschänder. Nie mehr in meinem Leben werde ich diesen entweihten Ort besuchen. Er wird nur noch in meiner Erinnerung existieren. Die Erinnerung werden sie nicht auslöschen können. 

 

Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik u.a. für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss, und auf Achgut.com eine kulinarische Kolumne. 

Foto: Heinz Mathis CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Rainer Nicolaisen / 25.12.2023

“...Grabschänder…”—nein: MÖRDER !

Uta Buhr / 25.12.2023

Dieses die Natur schändende Projekt setzt der grünen Barbarei die Krone auf. Waren diese Nichtsnutze nicht einmal angetreten, die Umwelt zu retten? Aber alles, was die grüne Pest anfasst, gerät zu nie wieder gut zu machenden Zerstörungen der Natur. Wie geistig behindert muss man sein, um diese Partei immer wieder zu wählen. Ich fasse es nicht. Es verwundert nicht, dass immer mehr qualifizierte junge Menschen dieses kaputte Land für immer verlassen. Zurück bleiben wird eine Wüstenei, bewohnt von Bürgergeld empfangenen Nullleistern. Halt so lange, bis sämtliche Ressourcen erschöpft sind und selbst zu “Sondervermögen” umdeklarierte Schulden nicht mehr drin sind. Willkommen in einer Zukunft, die nicht einmal ein George Orwell sie hätte ersinnen können.

Bastian Kurth / 25.12.2023

Diktatoren haben schon immer versucht der Natur ihren Willen aufzuzwingen, ich denke da an die “Hakenkreuzwälder”, z.B, in Zernikow…...mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

A.Schröder / 25.12.2023

Ich bin dafür den Reinhardswald zu roden und die Fläche nicht nur für Windräder freizumachen. Der weitere Anbau erfolgt mit Hanf, um uns von teueren Importen unabhängig zu machen. Ich bin sicher, über siebzig Prozent der Bevölkerung sind dafür. Herr Etscheit, da müssen einzelne verklärte Erinnerungen der Kindheit hinten anstehen. “Wollt Ihr den totalen Windrad- und Hanfanbau?”

Michael Anton / 25.12.2023

Zur musikalischen Untermalung dieser Ungeheuerlichkeiten empfehle ich Fraydele Oysher, welche das jiddische Volkslied ” Die Milner`s Trern” mit dem Refrain: ” Di Rayder dreyen zikh, die yurn geyen zikh”, so derartig schauerlich interpretiert, daß sich auch die Schrauben im Dachstuhl beginnen zu drehen und eine Wehmut und Verzweiflung dabei aufkommt, die auch dieser Naturschändung ziemt und selbst für Menschen ohne Einspeisehintergrund sehr lange in den Ohren klingelt. Das Gesicht von Fraydele auf Betonstelen wäre eine Möglichkeit, sich bei der Obrigkeit zu bedanken für das shtikl glik, was Sie einem vor Nase und Tür gesetzt haben.

Matthias Ditsche / 25.12.2023

Der Leser eines anderen Blogs hat kürzlich die letzten Wahlergebnisse dieser Region in Nordhessen eingestellt. Fazit: die Leute da oben haben damit kundgetan, daß der Reinhardswald gerodet und mit Habeckhäckslern zugemüllt werden soll. Man fragt sich auch, wo bleiben hier die Berufsrandalierer, um sich abzuseilen, anzuketten, anzukleben, mit Fäkalien zu werfen und sich öffentlichkeitswirksam wegtragen zu lassen. BUND und NaBu finden die Rodungen ergo Vernichtung des einmaligen Habitats gut. Man beachte auch den Einfluß im Vorfeld zur Errichtung dieser Windmonster eines gewissen L . Als Urlaubs und Ausflugsregion ist diese Gegend nicht mehr interessant, die hiesigen Veranstalter und Gastronomen werden das spüren bekommen. So was kommt von sowas.

Lutz Herrmann / 25.12.2023

Die Grünen und ihresgleichen in den anderen Parteien sind absolute Könner in der Umwidmung der Realität. Der Dannenröder Forst ist tatsächlich ein schnöder Wirtschaftswald und wird in den Rang eines Urwalds erhoben, um die A49 zu verhindern. Für den Reinhardswald macht seltsamerweise kein Öko einen Finger krumm und droht mit Protestcamps.

Heiko Stadler / 25.12.2023

“Henners Traum” ist eine großartige Dokumentation aus einer Zeit, als unser Land noch ein Rechtsstaat und Politiker noch nicht korrupt waren. Bürgermeister Henners Traum zerbrach damals an der Realität. Er fand keine Investoren für das Mammutprojekt. Heute, etwa 20 Jahre und eine Abrissbirne später ist das ganz anders. Heute wird der Untertan geplündert bis aufs letzte Hemd, frei von jeder roten Linie und egal wie absurd und teuer das Projekt ist. Die heiligen Symbole der Klimareligion rechtfertigen jede noch so große Plünderung der Staatskasse.

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