Aljoscha Harmsen, Gastautor / 20.12.2021 / 12:00 / Foto: Pixabay / 80 / Seite ausdrucken

Der dünne Schleier der Zivilisation ist gerissen

„Geimpft und Ungeimpft“ ist eine Zivilisationsprobe. Verhärmte auf beiden Seiten werden wieder lernen müssen, Demut vor ihrer Fehlbarkeit zu üben. Höflichkeit und Anstand vor dem ohne Not zum Feind gewordenen Freund. Wir werden anerkennen müssen, dass der Schleier der Zivilisation hauchdünn ist. Und wir werden uns mit ihm wieder zu bedecken versuchen, wenn dem einen im Bett zu heiß war und der andere fror. Das wird schwierig, wenn der Schleier gerissen ist – und das ist er jetzt. Nicht an den Rändern, sondern in der Mitte. Zum Wärmen reicht er danach für keinen mehr.

Ob die Impfskeptiker recht haben oder die Impfbefürworter, ist nicht mehr die Frage. Wir sehen in dieser Extremsituation der Pandemie, dass Politik in ihrem tagesaktuellen Emporirren unweigerlich an den Punkt gekommen ist, an dem sie das Vertrauen nachhaltig verloren hat.

Anstatt nüchtern, bescheiden und zurückhaltend die Zahlen auszuwerten, die wir teils nicht hinreichend haben, bricht unter Druck das Rückgrat. Dazu kommt, dass Bürger sich zum Gegenstand, nicht zum Souverän der Politik haben machen lassen. Sie haben sich nach der Manier „teile und herrsche“ zur „Judäischen Volksfront“ und zur „Volksfront von Judäa“ machen lassen – beide wollen freie Bürger und Demokraten sein, aber lassen sich erzählen, dass, wer freier Bürger ist, kein solidarischer Demokrat sein kann.

Ein Ablasshandel für einen Bärendienst

Geimpfte und ihr Gegenstück verlieren sich in extremen Positionen – aus Angst, hinterher nicht auf der richtigen Seite zu stehen. Das Ergebnis sind gegenseitige Anklagen, die immer kontrafaktischer werden, je mehr die persönliche Eitelkeit verletzt wird. Sie wollen solidarisch sein – nicht, weil es notwendigerweise im Wesen liegt, sondern weil das ein Begriff ist, der zum Vorteil gereicht. Dabei gehen sie einen Ablasshandel ein und wollen im Gegenzug die Übrigen zu einem Bärendienst bewegen.

Damit ist nicht diese bestenfalls gutgemeinte Idee gedacht, dass Solidarität auch eine eigene Entscheidung über die Gesundheit einbezieht – diese Entscheidung darf schon deswegen nicht Gegenstand von Solidarität sein, weil sonst der Schwanz mit dem Hund wedelt. Der Gesunde kann solidarisch sein, der Solidarische muss nicht gesund sein.

Solidarität ist Zusammenstehen gegen eine existenzielle Bedrohung, aber nicht gegenseitige, gutgemeinte Übergriffigkeit, die indirekt zum Gemeinwesen beitragen könnte. Wenn alle Risikogruppen gegen eine Erkrankung geschützt sind, ist der Rest allgemeines Lebensrisiko. Das war bis vor kurzer Zeit noch akzeptierter Konsens – erschüttert wurde der bislang nur tagespolitisch, nicht prinzipiell. Es ist ein Konsens, der die Eigenverantwortlichkeit für die Gesundheit geachtet hat. Nicht die übergriffige Fremdverantwortlichkeit, die ihre Grenzen willkürlich verschiebt.

Der Wille, recht zu haben, kennt keine Verhältnismäßigkeit

Was wir anstelledessen erleben, ist die gegenseitige Anklage, an etwas schuld zu sein. Damit reißt der dünne Schleier der Zivilisation. Wer den Diskurs verlässt, während er sich noch darin wähnt, und seine Position mit Gewalt verteidigen will, indem er Zwang anwendet oder androht, hat kein Argument dazugewonnen. Wir erleben, dass der unbedingte Wille, recht zu haben, keine Verhältnismäßigkeit der Mittel mehr kennt. Das betrifft auch die Impfpflicht. Das ist schlimm und das ist nichts anderes als die Aufkündigung eines vormals allgemeingültigen Vertrages unter situativem Druck. Damit ist a priori die Vertragssicherheit wesentlich erschüttert, und das geht den Gesellschaftsvertrag an. Wenn wir den Gedanken von Rousseau verlieren, bleibt nur das Recht des Stärkeren. Und davon ist die Impfpflicht ein Ausdruck, davon ist die medizinisch fragwürdige 2G-Regel ein Ausdruck, die Ungeimpfte als Sündenbock durchs Dorf jagt, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, sich bei der Flucht auf dem Weihnachtsmarkt etwas zu trinken zu kaufen.

Wir sind an dem Punkt, an dem eine Schuldzuweisung an Millionen von Menschen als politisch nützlich angesehen wird, weil das furchtsam, sogar teils panisch gewordene Gemeinwesen der wohlmeinenden Mehrheit keine bessere Antwort hat. Damit gehen wir auf einen Pfad, auf dem wir hoffentlich niemandem begegnen, der uns unsere Werte einmal beigebracht hat. Vor allem auch nicht einer nachgeborenen Generation, die sich fragt, woher der Hass kam. Zivilisation ist hier kein Wegbegleiter, sondern bestenfalls ein Zaungast ohne Rederecht. Werden wir uns in der kommenden Klimakrise daran erinnern?

Foto: Pixabay

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Frank Baumann / 20.12.2021

1) Der dünne Schleier der Zivilisation ist gerissen => JA 2) bleibt nur das Recht des Stärkeren => JA 3) Geimpfte und ihr Gegenstück verlieren sich in extremen Positionen => NEIN Ich habe keine extreme Position. Ich stehe nur ein für Wahrheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit und es ist mir möglich, zu argumentieren. Aber allein der Versuch der Diskussion, d.h. eine gegenteilige Meinung als die täglich verordnete einzunehmen, ist seit langer Zeit (schon vor Corona) nicht mehr möglich. Das ist nicht mein charakterlicher Fehler, ich habe mir diesbezüglich nichts zu schulden kommen lassen. Mir persönlich ist auch kein “Impfskeptiker” bekannt, der einen Zeugen Coronas bzgl. seiner Entscheidung bedroht hätte und ich bin ihnen gegenüber auch nicht “übergriffig”. Demgegenüber werde ich seit Monaten nicht nur bedroht, sondern auch massiv in meinen Grundrechten eingeschränkt. Dabei geht es mir nicht um einen Restaurantbesuch, das völlig irrelevant, denn dieser ist nur das Symbol einer Schlinge, die sich mehr und mehr zuzieht und in einer Zwangsbeglückung durch den Pieks enden wird, in einem Land, in dem die Demokratie abgeschafft wurde, mit Hilfe williger Claqueure, Grenzdebiler, Ja-Sager, Stromschwimmer, Pöstchenkleber und Gehirngewaschener. Und natürlich sind diese an der Gesamtsituation schuld. Wer denn sonst? Wer hat denn die letzten Regierungen in dieser Zusammensetzung gewählt, daß diese Katastrophe, in allen Bereichen, so überhaupt möglich wurde? Wer hat denn Hr. Lauterbach zu einem erdrutschartigen Wahlsieg in seinem Bezirk verholfen? Etwa die Heinzelmännchen? Und sind wir nicht alle auch das “Tätervolk”? Hier ist eine klare Schuldzuweisung immer eindeutig gewesen, oder irre ich mich da etwa? Dabei habe ich gar nicht den Willen recht zu haben, im Gegenteil, ich wünschte mir, ich hätte Unrecht, aber leider ist alles, wirklich alles, was ich prognostiziert habe,  eingetreten. Und wenn der Rest auch noch stimmt, dann Gnade uns Gott.

Daniela Wagner / 20.12.2021

Bedauern werden es allerdings nur diejenigen, die sich aus Dummheit, Ignoranz oder obrigkeitshöriger Naivität dazu haben hinreißen lassen. Nicht diejenigen, die diese Situation herbeigehetzt, zusammengelogen und erpresst haben.

Markus Knust / 20.12.2021

Ich beobachte mit großem Amüsement die deutschen Qualitätsmedien und stelle gewisse Bezüge zu den Storys her, die sie zwecks Migrationskrise aufgetischt haben. Damals lasen wir ständig von armen Flüchtlingen, die fette Brieftaschen fanden und diese gar nicht schnell genug zurückbringen konnten. Nun haben die kleinen Relotias alle umgeschult und werden regelmäßig Zeuge von Covid Leugner*Innen, die zufällig immer dann loslegen, wenn Qualitätsjournos zugegen sind. Bei den Gesinnungskrieger*Innen der ZEIT war heute die Gruselgeschichte einer Impfpass Fälscherin zu lesen, deren staatstreuer Freund sie aber nicht angezeigt hatte. Dann wurde er krank….. Huh! Mich belustigen solche Propaganda Stücke im Grunde nur. Wirklich fassungslos macht mich dagegen, wie viele der Leser diesen Unsinn zu glauben scheinen und sich anschließend durch`s den Kommentarbereich wutbürgern. Völlig unbeleckt von jedwedem demokratischen oder ethischen Gedanken, überbieten sie sich mit Bestrafungs,- und Machtphantasien, die sich schon schon morgen gegen sie selbst richten. Auch die Moderation ist sehr aktiv und löscht vor allem jene, die sich für Grundgesetz und Demokratie aussprechen.  In Deutschland ist es wieder soweit, der Endsieg der Pfizerkratie ist nahe. Geschichte live.

Karsten Dörre / 20.12.2021

Im Grunde genommen befinden wir uns in der Anfangsphase von AIDS. Wer positiv getestet, ist erstmal gesellschaftlich weg vom Fenster. Damals galt es als selbst schuld zu sein, unmoralische Kontakte zu vermeintlich unmoralischen Bürgern zu haben. Heute ist man unsolidarisch, unmoralisch, wenn man Gesetze nicht bricht und (Impf-)Angebote nicht annimmt. Es kann somit keine Impfverweigerer geben, die für Regierungsanordnungen verantwortlich seien, da es keine Corona-Impfpflicht (Impfgesetz) gibt.

Paul J. Meier / 20.12.2021

Ob Impfskeptiker oder Befürworter recht behalten, ist keineswegs irrelevant! Es ist im Gegenteil DIE elementare Frage! Was die Kontrahenten zusammenführen wird, sind dagegen die Kausalitäten, die politischen Strukturen oder wie Merkel das sagte, die neue Architektur! Das wird beide gleichermaßen betreffen und hier werden viele Impfbefürworter oder eben gezwungen Geimpfte zu den Skeptikern überlaufen! Was die Massenimpfungen anrichten wird die medizinische Wirklichkeit aufzeigen und das dürfte insbesonders für die Geimpften nicht irrelevant sein!

Klaus Keller / 20.12.2021

Der dünne Schleier der Zivilisation… lassen sie ihr Kind auf Trisomie 21 untersuchen wenn sie Schwanger sind. Das müssen jetzt auch alle Krankenkassen bezahlen. Das klingt ziemlich harmlos, wenn man kein Fötus mit Trisomie 21 ist. Es gibt keine Therapiemaße außer dem Abbruch der Schwangerschaft. (Mich erinnert das an die Überlegungen und Regeln zur Eugenik unter Reichskanzler Hitler).  Den Grünen machte dieser Anwendungsbereich der Gentechnik wenig schlaflose Nächte. Die Proteste der Kirchen waren auch nicht heftig. Wer sein Kind beim besten Willen nicht lieben kann, kann es zur Adoption freigeben. Von so etwas redet man aber kaum. Wer alternative Möglichkeiten ausschließt landet wahrscheinlich in einer üblen Sackgasse.

Silke Müller-Marek / 20.12.2021

@Petra Wilhelmi: Sie sprechen mir aus der Seele!!!!!  Siehe auch der feine Herr Jens Scholz, Bruder von Olaf und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Irgendwie schlechte Gene…....

HERMANN NEUBURG / 20.12.2021

Es ist eine Seite, einseitig eine Seite, die die andere nicht in Ruhe lassen kann. Die Seite der Geimpften. Die Ungeimpften wollen doch einfach nur in Ruhe gelassen werden und es soll kein 2G sondern nur 3G geben. Das ist es, es sind nicht beide Seiten, nein. Die eine Seite hat die Macht, ist in der Mehrheit und grenzt die andere Seite,  die Minderheit, aus. Was macht also die Minderheit falsch?

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