Chaim Noll / 29.01.2021 / 12:00 / Foto: Pixabay / 143 / Seite ausdrucken

„Der Aufstieg der Unfähigen“: Gibt es ein Entrinnen?

Spätestens während der „Pandemie“ haben wir alle am eigenen Leib erlebt, was es bedeutet, von Dilettanten und despotisch Veranlagten regiert zu werden. In meiner Generation war es ein stehender Witz, dass, wer zu nichts anderem taugt, aber großen Ehrgeiz spürt, in die Politik geht. Wenn man von einem Studenten hörte, er sei sehr aktiv bei der Jungen Union, den Jusos, Grünen, Jungen Liberalen etc., wusste man, dass es für ihn oder sie nur zwei Möglichkeiten gab: entweder nach ein paar Jahren enttäuscht auszusteigen oder sich in den zunehmend korrupten und verfilzten Parteien-Betrieb einzupassen.

Leider habe ich die Erfahrung gemacht: Es waren stets die Intelligenteren, die ausstiegen. R. beispielsweise, Sohn eines seinerzeit einflussreichen Abgeordneten in Berlin, der über alle Möglichkeiten verfügte, die besten Verbindungen und Vorkenntnisse hatte, warf sein Abgeordneten-Mandat in einem Provinz-Parlament, in das er schon jung, als Student, gewählt wurde, nach einigen Jahren angewidert hin. Er war bald mit der enttäuschenden Realität konfrontiert worden, dass er dort nicht, wie angenommen, die Interessen seiner Wähler zu vertreten hatte, sondern die des allmächtigen Parteiapparats. Die Parteien sind heute – ähnlich wie die Einheitspartei zu DDR-Zeiten – zentralistisch strukturiert und „durchregiert“, Initiativen gehen nicht von unten nach oben oder in beiden Richtungen, sondern fast immer von oben nach unten. Das deutsche Wahlsystem, in dem die meisten Abgeordneten nicht durch Direktmandate, sondern über innerparteilich aufgestellte „Landeslisten“ ins Parlament gelangen, begünstigt die Dominanz schattenhafter Parteifunktionäre, die niemals direkt gewählt worden sind.

Er wolle nicht sein Leben mit diesen „Kungeleien“ verbringen, sagte R., ehe er als Jurist in die Wirtschaft ging, wo er mehr Freiheiten hat und ein besseres Gewissen. Ich erinnere mich auch an die resignierten Untertöne in den Bemerkungen des jungen M., damals Bundesvorsitzender der Jungen Union und schon mit 26 Jahren Abgeordneter des Deutschen Bundestags, bei einem Besuch in Israel. M. war hochintelligent, motiviert, politisch und organisatorisch begabt. Zugleich bemühte er sich um Regierungstreue und ließ sich in diesem Sinn zu Aussagen nötigen, die seinen – zumindest im Gespräch geäußerten – Überzeugungen widersprachen. Er ist überraschend, noch jung, vor einigen Jahren gestorben, weshalb ihm schwere Konflikte mit seiner Parteiführung und der begabtenfeindlichen Kanzlerin – die ihn offenbar nicht besonders mochte – erspart geblieben sind.

„Aufstieg der Unfähigen“

Das Problem von begabten jungen Leuten in deutschen Partei-Apparaten ist der Konflikt zwischen eigenen Ideen, vielleicht sogar Idealen, womöglich einem ausgeprägten Gewissen, im Interesse ihrer Wähler zu handeln, mit dem dort herrschenden unwiderstehlichen Zwang zu Anpassung und Unterwerfung. Begünstigt werden die Mittelmäßigen, wegen Mangels an eigenen Gedanken Verfügbaren, zu „jeder Schandtat Bereiten“. Der 2009 verstorbene sowjetische Schriftsteller Grigorij Baklanow nannte dieses Phänomen innerparteilicher Auslese in den frühen achtziger Jahren „Aufstieg der Unfähigen“. Er diagnostizierte es für die damalige Sowjetunion und sah darin einen der Gründe ihres bevorstehenden Untergangs. Sein Protagonist sinniert über einen ihm persönlich bekannten Aufsteiger, einen inzwischen einflussreichen Funktionär: „Ich habe nie erlebt, dass seine Augen von einer Idee aufgeleuchtet hätten ... Was verbirgt sich dort im ewigen Dunkel? Was kann sich schon verbergen, außer Hohlheit? Das größte, am strengsten gehütete Geheimnis ist Hohlheit.“

Die Folge dieser negativen Selektion, dieser Auswahl der Unfähigen durch den Apparat, ist erst sein eigener, dann allgemeiner Niedergang: „Ein unfähiger Mensch zieht überall das Leben auf sein niedriges Niveau herab, und rings um sich bringt er immer neue Unfähigkeit hervor“, schrieb Baklanow in seinem 1983 erschienenem Roman, der bezeichnenderweise den Titel trug: Der geringste unter den Brüdern. In guten Tagen mag diese fundamentale Schwachstelle des Parteiensystems nicht so auffällig sein, nicht so katastrophal in ihren Auswirkungen wie heute, in Krisenzeiten. Wir leben dieser Tage mit dem beunruhigen Gefühl, dass wir von Politikern regiert werden, die mit den Herausforderungen unserer Zeit nicht fertig werden, die zu einfallslos sind, zu ängstlich, zu eigensüchtig, zu sehr durch apparative Kalkulationen und Rücksichten behindert, kurz: die unfähig sind, im allgemeinen Interesse sinnvoll zu handeln.

Wir glauben ihnen schon längst nicht mehr. Wenn wir ihre sattsam bekannten Gesichter in den Zeitungen und auf den Bildschirmen sehen, wissen wir, dass sie lügen, grundsätzlich lügen, weil sie nicht darüber nachdenken, wie sie am besten unsere Probleme lösen, sondern wie sie ihre Unfähigkeit noch eine Weile vor uns verbergen können. Gibt es eine Möglichkeit, diesen Zustand zu beenden? Wollen wir einen Aufruf starten, gerichtet an begabte, intelligente junge Leute, sie sollen, trotz hoffnungslos scheinender Umstände, in die Politik gehen und versuchen, die an ihrer Unfähigkeit dahinsiechenden Parteien zu kurieren? Oder neue Parteien gründen, die, ehe sie irgendwann ihrerseits pervertieren, wenigstens einige Zeit das tun, was ihre erklärte Aufgabe ist? Oder wollen wir dieses System aufgeben, als ein weiteres, das gescheitert ist (wie das sozialistische Experiment unserer Jugend)? Ich gestehe, dass ich keine Antwort habe. In Tagen, in denen manche alles so genau wissen, stelle ich lieber nur noch Fragen. Das ist schon gefährlich genug.

Foto: Pixabay

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Roland Stolla-Besta / 29.01.2021

Es ist tatsächlich so, wie Sie schreiben, sehr geehrter Herr Noll. Ich würde den Herrschaften „da oben“ nicht einmal die Ablage und schon gar nicht die Registratur in einem großen Betrieb anvertrauen. Und daß wir nach China das größte Parlament haben, ist keineswegs dem teutonischen Drang nach Größe und Wahn geschuldet, nein, die unausgebildeten und daher sonst berufslosen Parteischleimer müssen doch irgendwo kostengünstig - sprich auf Kosten des Steuerzahlers - untergebracht werden!

Stefan Weyhenmeyer / 29.01.2021

wenn Amazon nicht liefert, genügen ein paar Mausklicks der Kunden - und Amazon ist weg vom Fenster. Wenn Politker nicht liefern, wählen sie die Wähler trotzdem noch.

Paul J. Meier / 29.01.2021

Aufstieg der Unfähigen…Ursula von der Leyen, die grad wieder eindrucksvoll ihre These bestätigt hat, macht da weiter, wo sie bei der Bundeswehr aufgehört hat.

Martin Müller / 29.01.2021

In Zeiten des real existierenden Sozialismus war es in der alten BRD schon lebenswichtig, dass sich die Besten auch in der Politik durchgesetzt haben. Nach dem Fall der Mauer war diese Notwendig nicht mehr da. Die alten BRD-Parteien haben dann einen Weg eingeschlagen, der aus Parteien sukzessive sowas wie politische und gesellschaftliche Funktionszentralen gemacht hat. Die nun ungeschützte parlamentarische Demokratie mit ihren Listenmandaten war dabei natürlich hilfreich, weil sich neben politischen auch gesellschaftliche Machtstrukturen verfestigen konnten. Der zunehmende Unwille zur Kontrolle der Politik durch die Medien tat sein Übriges hinzu, es kam sogar zu einer Verschmelzung. Und letztlich erhob sich die Idee von einem neuen Sozialismus aus den Ruinen der Mauer, als die Scham über den Unrechtstaat DDR verblasste. Und so sind die Parteisoldaten wieder sehr gefragt: Leuten, denen weder ihr Eid auf das Wohl des eigenen Volkes noch ihre Wählermandat interessiert, sondern eher ein auf alle beruflichen und privaten Lebenssituationen angedünkter Opportunismus als politische und private Karrierrechance. Die Unfähigen können in einer freien und offenen Demokratie nur schwer politische Privilegienstatus erreichen, dazu brauchen sie die Gesinnungsdemokratie. Kommen dann noch ideologisch links-grüne Fanatiker hinzu, paart sich die Gesinnnungsdemokratie mit der Halbdemokratie. Die Voraussetzung zur großen Transformation in einen neuen Multikulti-Sozialismus, der in einer Super-EU münden wird - in die EUDSSR. Von der Gesichts-Maske zum Maulkorb ist es vielleicht nur ein kleiner Schritt…

Wolfgang Graetz / 29.01.2021

an A.Ostrovsky - Ob sich die Neandertaler oder die “Französische Revolution” auch die Frage gestellt haben: “was dann?” WIR, das Volk, werden geschlossen zum Schlachthof geführt, an einer Kette, und -fast- ALLE sehen nachwievor zu der “gottgleichen” Frau Merkel auf, der ehemaligen FDJ-Funktionärin. Warum HANDELN WIR nicht geschlossen ? jetzt und sofort !

Milan Viethen / 29.01.2021

@ E. Muesch : Haben Sie Kohl fuer faehig gehalten ausser im wegbeissen und vergraulen ? Sonst bin ich absolut Ihre Meinung . Gruss

g.schilling / 29.01.2021

@Eckhard Schiemann: Wer soll das jetzige Wahlsystem denn ändern? Keiner der momentanen Abgeordneten würde eine solche Veränderung unterstützen. (Frösche und Teich!). Um etwas Neues zu schaffen, muss das Alte untergehen. Und das funktioniert nur durch Krieg o.ä. Maßnahmen. Murxel und ihre Auftraggeber arbeiten ja schon an der “Transformation”, die sie allerdings nicht näher erklären. Es werden ganze Kontinente gegeneinander aufgehetzt bis es irgendwo knallt und dann es ab. Sarajewo und der “Überfall auf den Sender Gleiwitz” lassen grüßen.

Eugen Richter / 29.01.2021

Das letzte Bollwerk gegen das alles nach unten ziehende Mittelmaß starb am 3.10.1988.

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