Gastautor / 15.02.2014 / 16:00 / 1 / Seite ausdrucken

Der armenische Patient

Adem Dolas

In einem Jahr werden Armenier der ganzen Welt den 100. Jahrestag des Armenischen Genozids gedenken. Doch ist die armenische Gemeinschaft ein Jahrhundert nach ihrer Golgotha in einer ungemein schlechten Verfassung. Armenier leben in mehr oder weniger kleinen Gemeinschaften über die Erdkugel verstreut, ihr Gemeinschaftsleben ist vielfach auf Kirchenbesuche und Feiertage begrenzt und ihr kulturelles Erbe wird immer weniger tradiert.

Die Republik Armenien wiederum kämpft gegen wirtschaftliche Stagnation, der zivile Aufbau kommt nur sehr langsam voran, das kleine Land leidet an Auszehrung durch die Abwanderung gut ausgebildeter junger Menschen. Das Trauma des Genozids scheint vielfach den normalen Entwicklungsverlauf des armenischen Volkes gestoppt zu haben. Die armenische Gemeinschaft muss ihr Trauma in ihr Leben integrieren, um eine Zukunftschance zu haben!

Ein Völkermord betrifft in erster Linie nicht das einzelne Individuum, sondern zielt auf eine bestimmte Gruppe als organisches Ganzes. Die entsprechende Gruppe ist nicht nur von physischer, sondern auch von geistiger und kultureller Vernichtung betroffen. So zeigen denn auch einzelne Personen und die zugehörige Gesellschaft Formen komplexer posttraumatischer Belastungssyndrome. Individuen und die zugehörige Gesellschaft zeigen Parallelen im Erleben des Traumas sowie in Phasen seiner Bewältigung. Die Heilung der armenischen Gemeinschaft kann daher nicht allein auf der individuellen Ebene erfolgen. Sie muss das öffentliche Leben einbeziehen.

Indes ist Traumabewältigung ein sehr komplexer Vorgang. In der Fachliteratur werden verschiedene Phasen ihrer Verarbeitung unterschieden. Ein Trauma gesamtgesellschaftlich zu bewältigen, erfordert eine gewaltige geistige Leistung. Dennoch ist sie erforderlich.

Als erster Schritt der Bewältigung muss immer die Sicherheit von Leib und Leben der Opfer gewährleistet sein. Traumabewältigung kann nicht in einer Situation möglicher Re-Traumatisierung erfolgen. Sind die Opfer primär stabilisiert, folgt die zweite Phase der Traumaverarbeitung.

Traumatische Erfahrungen müssen in dieser Phase explizit (wieder) erinnert, ausgesprochen, emotional neu durchlebt und betrauert werden. Die Erlebnisse müssen in die persönliche und gesellschaftliche Biographie integriert werden. Diese zweite Phase der Traumaverarbeitung dauert fast immer deutlich länger als das Opfer gerne hätte; aber auch sie ist irgendwann abgeschlossen und eröffnet nunmehr den Weg zur letzten Phase der Genesung. In dieser dritten und letzten Phase müssen Verbindungen der Opfer zum normalen Leben auf individueller und gesellschaftlicher Ebene neugeknüpft werden. Sie sollen vollständig am sozialen Leben teilhaben.

In welcher Phase der Traumaverarbeitung befindet sich nun die armenische Gemeinschaft hundert Jahre nach dem Völkermord? Diese Frage kann weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene präzise beantwortet werden. Jede armenische Gemeinde - je nach Einwanderungsland und Zeitpunkt ihrer Auswanderung, ihrer Zusammensetzung und ihrem Gruppenzusammenhalt, je nach ihrem Bildungsstand und erfolgreicher Integration ins Aufnahmeland - ist in einer anderen Phase der Bewältigung. Die Sicherheit für Leib und Leben der Armenier ist bis auf einige Gemeinden im Nahen Osten gewährleistet; sie gilt für die armenische Diaspora in der westlichen Welt sowie für die Republik Armenien. Das Gros der armenischen Gesellschaft jedoch befindet sich in der zweiten bis dritten Phase der Traumabewältigung. Welche konkreten Schritte sollten nun unternommen werden, um sie zu stärken?

Wie bereits erwähnt, müssen die Geschehnisse in einer Atmosphäre der Sicherheit ,,neuerinnert“ werden. Wissenschaftliche Publikationen, insbesondere zum Leben der Armenier in osmanischen Reich vor dem Völkermord und zur Chronologie des Genozids leisten wichtige Dienste und ergänzen das Wissen innerhalb der jeweiligen Familien mit ihren spezifischen Einzelschicksalen. Es ist notwendig, das Leben vor der großen Katstrophe geistig zu rekonstruieren. Wie lebten die Armenier vor dem Völkermord im Osmanischen Reich? Wie gestaltete sich ihr Alltag? Welche Wünsche, welche Vorstellungen und Ziele hatten sie? Die Rekonstruktion der Zeit vor dem Trauma dient der Wiederentdeckung der eigenen Identität. Zum Thema des Ablaufs des armenischen Genozids sind mittlerweile zahlreiche Publikationen erschienen und in der wissenschaftlichen Welt besteht Konsens über den Tathergang und ihre Einordnung.

Nun muss das ,,Unaussprechliche“ öffentlich ausgesprochen werden. Öffentliche Aussagen, insbesondere im Beisein Dritter haben immer einen Zeugnischarakter. Sie fordern von unbeteiligten Dritten keine Statistenrolle, sondern aktive moralische Solidarität. Sie werden aufgefordert, Stellung zu dem Konflikt zwischen dem Opfer und Täter zu beziehen. Zusätzlich müssen Armenier im öffentlichen Raum um ihr gemeinsam erlittenes Schicksal trauern können. Diese Art der Trauer hat eine rituelle Komponente. Museen, Denkmäler, Trauermärsche müssen verstärkt organisiert und öffentlich wahrgenommen werden. Das Ziel ist, die Verbindungen zwischen individuellen und öffentlichen Welten wiederherzustellen.

In der letzten Phase der Genesung schließlich müssen die Bindungen zum normalen Leben wiederhergestellt werden. Traumata erschüttern generell zwischenmenschliche Beziehungen, zersetzen Beziehungen zu Familie und Freunden, Partnern und Nachbarn. Weiterhin untergraben sie das Wertesystem, das dem Leben seinen Sinn gibt und als Bindeglied zwischen dem Individuum und der Gesellschaft dient. Das Urvertrauen in eine natürliche oder göttliche Ordnung wird durch ein Trauma zerstört.

Im Falle dieses ersten christlichen Volkes, für das der christliche Glaube eine zentrale identitätsstiftende Rolle hat, ist dies besonders essentiell. Armenier müssen Antworten auf moralische und theologische Fragen nach Schuld, Verantwortung und Sühne finden; sie müssen ein neues Wertesystem erwägen, das ihrem Leiden einen Sinn gibt. Sie müssen Antworten auf existentielle Lebensfragen, wie der Verwundbarkeit menschlichen Daseins und der menschlichen Fähigkeit zum sogenannten Bösen finden. Schließlich müssen sie das ,,Warum?“ und ,,Warum gerade wir“ emotional zufriedenstellend auflösen. Endlich müssen sie das Stigma des Opfers und seine Isolation überwinden und das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und Kraft wiedergewinnen.

Der Schlüssel zur Zukunft der Armenier liegt in ihrer Vergangenheit. Sie sollten ihre Geschichte besser kennen, um ihre zukünftige Welt neu aufbauen zu können. Weitere Publikationen, insbesondere zum reichhaltigen armenischen Leben vor dem Völkermord im Osmanischen Reich und zur Chronologie des Genozids, sind wünschenswert und notwendig. Ein wachsendes öffentliches Bewusstsein ist für die Traumabewältigung des armenischen Volkes unabdingbar. Armenier müssen ein neues Narrativ ihres Schicksals finden, das nicht mehr von Scham und Demütigung durch einen Völkermord, ihrer Entwürdigung, Entmenschlichung, Ohnmacht und Vernichtung handelt, sondern von Würde und Mut des Überlebens und Widerstands.

Bis zu diesem Tag wird der armenische Fluss zwischen der Zeit vor dem Völkermord und der Gegenwart nicht weiter fließen. Bis zu jenem Tag bleibt die die armenische Uhr am 24. April 1915 stehen.

Adem Dolas, 32, lebt und Arbeitet als Arzt in Düsseldorf

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Tobias Rüger / 16.02.2014

Was der Autor m. E. nicht ausreichend darstellt, ist der Fakt, dass die Republik Armenien - zumindest als Gebiet betrachtet - mit den Geschehnissen im Osmanischen Reich keine Verbindung hat, da sie seinerzeit Teil des Zarenreichs war. Die zahllosen armenischen Diasporagemeinden wurden aber von aus dem Osmanischen Reich geflohenen Menschen begründet. Insofern besteht zwischen der Republik Armenien und den Exilgemeinden keine über die Sprache hinausgehende Verbindung.

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