Familienrichter Christian Dettmar ist heute wegen Rechtsbeugung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Wie soll man Unverständnis und Empörung in angemessene Worte fassen, die nicht jeden Stil vermissen lassen? Der Nicht-Jurist fragt sich unwillkürlich, wer hier eigentlich das Recht beugt.
Zwei Jahre Haft auf Bewährung wegen angeblicher Rechtsbeugung. Das ist das heutige Urteil gegen den Weimarer Richter Christian Dettmar, der damit auch Beruf und Anstellung verlieren dürfte. Im April 2021 hatte der damalige Familienrichter bekanntlich wegen drohender Kindeswohlgefährdung für zwei Kinder die Maskenpflicht in zwei Schulen aufgehoben. Das sorgte deutschlandweit für Aufsehen, denn seine einstweilige Verfügung hatte er mit eigens angeforderten Gutachten begründet, und das war mehr, als etliche Beschlüsse zur Verhängung restriktiver Maßnahmen zu bieten hatten.
Die ausgewiesene Kompetenz der Gutachter klang beeindruckend. Was die Hygienikerin, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie sowie Fachärztin für Hygiene und Umweltmedizin, Prof. Dr. med. Ines Kappstein, der Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg und Experte im Bereich wissenschaftlicher Methoden und Diagnostik, Prof. Dr. Christof Kuhbandner, und Prof. Dr. rer. biol. hum. Ulrike Kämmerer, die auf dem Gebiet der Virenerkennung promoviert hat und deren Arbeitsschwerpunkte Humanbiologie, Immunologie und Zellbiologie waren, schrieben, ließ für den Familienrichter keinen anderen Schluss zu, als die Schulkinder umgehend von den Masken zu befreien.
Sein Urteil war ein Paukenschlag, denn es stellte die restriktive Corona-Politik nicht nur infrage, sondern drohte mit der Maskenpflicht auch eines ihrer zentralen Symbole zu Fall zu bringen. Insofern waren die Reaktionen des Staates alles andere als rechtsstaatlich gelassen.
Es blieb nicht dabei, dass das Thüringer Oberlandesgericht die Entscheidung mit der Begründung kassierte, dass nicht das Familien-, sondern das Verwaltungsgericht zuständig sei. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Rechtsbeugung gegen ihn, im Büro und in der Wohnung des Familienrichters erschien die Polizei zur Hausdurchsuchung, beschlagnahmte Computer und Mobiltelefon und durchsuchte auch sein Auto. Das sah mehr nach einem Rachefeldzug aus als nach einer rechtsstaatlichen Klärung eines juristischen Streitfalls.
Vorsätzliche Rechtsbeugung?
Dass Juristen darum streiten können, ob ein um das Kindeswohl besorgter Familienrichter ein solches Urteil fällen darf oder es an ein Verwaltungsgericht verweisen muss, ist noch nachvollziehbar und wurde in der Vergangenheit auch von Gerichten durchaus unterschiedlich bewertet. Angesichts dieser Unklarheit kann man mit gesundem Menschenverstand nicht von einer vorsätzlichen Rechtsbeugung sprechen, insbesondere dann, wenn man sich anschaut, wie der Straftatbestand definiert ist.
Das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) hat die nötigen Anmerkungen zum Tatbestand des § 339 Strafgesetzbuch (StGB) hier jüngst so zusammengefasst:
„Der Straftatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 Strafgesetzbuch) hat folgenden Wortlaut:
‚Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.‘
Dem Gesetzestext ist zu entnehmen, wer als Täter in Betracht kommt (Richter, aber auch andere Amtsträger, z. B. Staatsanwälte), in welchem Zusammenhang der Täter handeln muss (‚bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache‘) und dass die Tat zugunsten oder zum Nachteil einer Partei der Rechtssache wirken muss. Was eine ‚Beugung des Rechts‘ ist, ist dem Wortlaut des Tatbestandes aber nicht zu entnehmen und es versteht sich auch keineswegs von selbst. In der Rechtswissenschaft wird darüber intensiv gestritten, maßgeblich für die Gerichte ist aber die Auslegung des Tatbestandes durch den Bundesgerichtshof, weil dieser für Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte (Revisionen) zuständig ist. Seine Rechtsprechung zu § 339 StGB fasst der Bundesgerichtshof im Urteil vom 21.01.2021, 4 StR 83/20, selbst wie folgt zusammen:
‚Als eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB kommen nur elementare Rechtsverstöße in Betracht. Die Schwere des Unwerturteils wird dabei dadurch indiziert, dass Rechtsbeugung als Verbrechen eingeordnet ist und im Falle der Verurteilung das Richter- oder Beamtenverhältnis des Täters gemäß § 24 Nr. 1 DRiG, § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG kraft Gesetzes endet. § 339 StGB erfasst deshalb nur Rechtsbrüche, bei denen sich der Richter oder Amtsträger bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet. Eine unrichtige Rechtsanwendung oder Ermessensausübung reicht daher für die Annahme einer Rechtsbeugung selbst dann nicht aus, wenn sich die getroffene Entscheidung als unvertretbar darstellt. Insoweit enthält das Merkmal der Beugung des Rechts ein normatives Element, dem die Funktion eines wesentlichen Regulativs zukommt. Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände zu entscheiden. Dabei kann neben dem objektiven Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes insbesondere Bedeutung erlangen, von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ.‘“
Maßnahmen belasteten die Familien
Und? Hat der Familienrichter unrechtmäßige Strafen verhängt? Hat sein Urteil jemandem Schaden zugefügt? Ist überhaupt Schaden entstanden? Was motivierte ihn zu diesem Urteil? Seine Antwort auf diese Frage ist vollkommen nachvollziehbar: das Kindeswohl. Und das sollte ja wohl immer im Mittelpunkt der Arbeit eines Familienrichters stehen. In seiner Erwiderung auf die Anklageschrift vom 15. Juni 2021 heißt es dazu:
„Im beginnenden Jahr 2021 hat mich der Alltag gerade der Schulkinder sehr umgetrieben. Geprägt war ihr Schulalltag vor allem von der Verpflichtung, über den ganzen Schultag hinweg Masken tragen zu müssen und unnatürliche, insbesondere nicht kindgerechte Abstände zu den Mitschülern einzuhalten. Hinzu kamen Unterrichtsausfall bzw. sogenannter Distanzunterricht.
Und das alles, obwohl schon seit Mitte 2020 zahlreiche Studien bekannt waren, wonach Kinder das Corona-Virus nur selten weitergeben. Immer wieder wurde ich von Familien darauf angesprochen, wie diese Maßnahmen sie und ihre Kinder belasten. Nicht wenige Kinder litten unter Kopfschmerzen und anderen Beschwerden, reagierten mit Schulunlust oder Schulverweigerung.
Hinzu kamen die Interventionen der Lehrkräfte, wenn ein Kind auch nur für einen Moment die Maske abnahm, um Luft zu holen. Teilweise wurden die Kinder dann vor der Klasse bloßgestellt.
Regelmäßig wurde ich auch gefragt, ob das nicht gerichtlich überprüft und zumindest eingeschränkt werden könne. Zugleich machten mir die meisten Familien aber deutlich, dass sie vor einer solchen gerichtlichen Überprüfung Angst hätten, weil sie in der Folge Repressalien für ihre Kinder befürchteten.
Der Gedanke an Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB lag für mich als Familienrichter nun in der Luft.
Sogenannte Kindschaftssachen, also vor allem Verfahren zur elterlichen Sorge, zum Umgang und eben zur Gefährdung des Kindeswohls, waren für mich in meiner familienrichterlichen Tätigkeit ohnehin immer die wichtigsten. Und wir hatten in der Vergangenheit am Familiengericht viele Verfahren, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls weiß Gott schon für geringere Eingriffe angenommen wurde als für Maßnahmen, die das Kind bei jedem Atemzug daran hinderten, ausreichend Luft zu holen.“
Den fachkundigen Rat von Kollegen gesucht
Dettmar suchte offenbar auch den fachkundigen Rat von Kollegen, wie er in seiner Erwiderung ausführt.
„In unserer Diskussion hinsichtlich der Auslegung des Gesetzes war für uns noch Artikel 3 der seit dem 15.07.2010 im Range eines Bundesgesetzes vorbehaltlos geltenden UN-Kinderkonvention maßgeblich.
In Artikel 3 Absatz 1 UN-Kinderkonvention ist festgelegt, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist.
In Artikel 3 Absatz 2 UN-Kinderkonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, also auch die Bundesrepublik Deutschland, dem Kind in der dort näher ausgeführten Weise ‚den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.‘´
Wir waren uns einig, dass aus dieser verbindlichen Verpflichtung folgt, Kindern zu ihrem Wohl ein amtswegiges Verfahren zur Verfügung zu stellen und vorhandene Vorschriften völkerrechtskonform entsprechend auszulegen, auch den § 1666 Absatz 4 BGB.“
Nun weiß auch jeder Nicht-Jurist, dass Juristen bei der Auslegung von Gesetzen ungemein einfalls- und variantenreich sind. Doch nach irgendeiner Nähe zur Rechtsbeugung klingt das wahrlich nicht.
Einschätzungen längst weitgehend bestätigt
Auch den Zweifeln der Staatsanwaltschaft an der Unabhängigkeit der Gutachten und der Gutachter tritt Dettmar entgegen:
„Alles, was die Staatsanwaltschaft mir vorwirft, hat nicht den geringsten Einfluss auf den Inhalt der Gutachten gehabt. Hätten die Gutachter den Gutachtenauftrag mit denselben Beweisfragen von einem anderen Gericht erhalten, hätten sie exakt dieselben Gutachten erstattet. Um die Annahme einer Kindeswohlgefährdung nicht nur als falsch, nicht nur als unvertretbar, sondern als schwerwiegende Entfernung von Recht und Gesetz darzustellen, müssten die Ermittler sich intensiv mit der Begründung der getroffenen Entscheidung und damit als ihrem integralen Bestandteil den eingeholten Gutachten auseinandersetzen und nachweisen oder zumindest erst einmal nachvollziehbar darlegen, an welcher Stelle und wodurch hier eine solche schwerwiegende Entfernung von Recht und Gesetz stattgefunden haben soll.
Setzt sich die Staatsanwaltschaft auch nur mit einem einzigen Satz mit den Gutachten auseinander und versucht auch nur ansatzweise zu begründen, warum die Annahme einer Kindeswohlgefährdung nicht nur eine unrichtige, nicht nur eine unvertretbare Entscheidung sein soll, sondern mehr noch eine schwerwiegende Entfernung von Recht und Gesetz? Antwort: Gar nicht – sie lässt es einfach!“
Besonders grotesk wirkt das Urteil, das ja der Argumentation der Staatsanwaltschaft in weiten Teilen gefolgt sein muss, angesichts der Tatsache, dass sich die Einschätzungen der Corona-Lage, die Dettmars Entscheidung zugrunde lagen, inzwischen weitestgehend bestätigt haben, wie er den Anklägern ebenfalls entgegenhält:
„Da die Staatsanwaltschaft keine inhaltlichen Fragen stellt, entgeht ihr auch, dass sich die Ergebnisse der eingeholten Gutachten bis zum heutigen Tag in vollem Umfang und eindrucksvoll bestätigt haben. Die Belege dafür sind inzwischen schier unüberschaubar.
Lediglich beispielhaft sei erwähnt, dass der Sachverständigenausschuss zur Evaluation der Coronamaßnahmen nach § 5 Abs. 9 Infektionsschutzgesetz schon in seinem Bericht vom 30.06.2022 offiziell festgestellt hat, dass ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar ist.
Dass die Maskenpflicht in der Schule ebenfalls unnötig war, wie das in dem in meinem Verfahren eingeholten Gutachten die Sachverständige Prof. Dr. med. Kappstein bereits im April 2021 festgestellt hat, hat sich ebenfalls vielfach bestätigt.
Die Cochrane-Gesellschaft, deren Veröffentlichungen als Goldstandard in der evidenzbasierten Medizin gelten, kommt in einer am 30.01.2023 veröffentlichten Meta-Studie zu dem Ergebnis, dass das Maskentragen epidemiologisch gesehen keinen oder allenfalls einen geringen Effekt hinsichtlich der Ausbreitung von Covid-19 hat.“
Wer beugt hier eigentlich das Recht?
Dennoch ist Familienrichter Christian Dettmar heute wegen Rechtsbeugung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Wie soll man Unverständnis und Empörung in angemessene Worte fassen, die nicht jeden Stil vermissen lassen? Der Nicht-Jurist fragt sich unwillkürlich, wer hier eigentlich Recht beugt.
Mit Rechtsbeugung kennt sich Richter Dettmar übrigens aus, denn nach eigenen Angaben war er, bevor er ins Richteramt wechselte, in der Staatsanwaltschaft in einer Schwerpunktabteilung zur Aufarbeitung des SED-Unrechts tätig, die sich auch mit Rechtsbeugungsverfahren gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte der DDR beschäftigte. Rechtsbeugung gab es im Unrechtsstaat reichlich, konnte aber wegen des Rückwirkungsverbots oft nicht verfolgt werden. Es ist ein Treppenwitz, dass wohl kaum einer der SED-Richter, die Menschen wegen versuchter Republikflucht oder angeblicher „staatsfeindlicher Hetze“ zu langen Haftstrafen verurteilten, ein solches Urteil bekam wie Richter Dettmar jetzt für eine Entscheidung für das Kindeswohl.