Redaktion / 19.04.2023 / 13:01 / Foto: Pixabay / 24 / Seite ausdrucken

Der Familienrichter, die Anklage und die Rechtsbeugung (2)

Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar hatte am 8. April 2021 zwei Schulen untersagt, das Tragen von Masken, Mindestabstände und die Teilnahme an Corona-Schnelltests anzuordnen. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Erfurt ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung gegen ihn ein, inklusive der Durchsuchung seines Dienstzimmers und seiner Privatwohnung. Matthias Guericke, Thomas Barisic und Jürg Vollenweider vom Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) haben die 62-seitige Anklageschrift auch für Nichtjuristen analysiert und zeigen auf, dass der Staatsanwaltschaft offenbar selbst massive rechtliche Fehler unterlaufen sind. Aus Gründen der Lesbarkeit hat Achgut den Text in zwei Teilen sowie ohne die Fußnoten des Originaltextes veröffentlicht. Dies ist Teil 2, bitte lesen Sie zuerst Teil 1, den Sie hier finden. Den Originaltext finden Sie hier.

4. Die Rahmenerzählung vom Missbrauch des familiengerichtli­chen Verfahrens durch Richter Dettmar für andere Zwecke

Außer dem Vorwurf, er habe sich die Zuständigkeit in einer Sache angemaßt, für die die Verwaltungsgerichte zuständig seien, legt die Staatsanwaltschaft Richter Dettmar (je nach Zählweise) mindestens acht weitere (angebliche) Rechtsfehler zur Last. Sie hat buchstäblich jeden Stein in dem Verfahren umgedreht, um zu sehen, ob sich darunter nicht zumindest ein kleiner Rechtsfehler entdecken lässt. Ob jeder dieser (angeblichen oder tatsächlichen) Rechtsfehler für sich den Tatbestand der Rechtsbeugung ausfüllen soll oder ob die Staatsanwaltschaft die Vorstellung hat, dass der Tatbestand der Rechtsbeugung auch kumulativ erfüllt werden könnte nach dem Prinzip: Aus vielen kleinen Fehlern wird in der Summe ein elementarer Rechtsverstoß, darüber wird in der Anklage keine Rechenschaft abgelegt.

Tatsächlich ist eine solche „kumulative Tatbestandserfüllung“ nicht möglich. Einzelne Rechtsverletzungen können nicht aufsummiert werden, nur weil sie in einem Verfahren begangen wurden, denn die Frage, ob ein „elementarer Rechtsverstoß“ vorliegt, kann immer nur an einer konkret verletzten Rechtsnorm geprüft werden. Ein „Zusammenwirken“ verschiedener Rechtsverletzungen ist nur insofern möglich, als Rechtsverletzungen, die im Zusammenhang mit einem bestimmten Rechtsverstoß stehen, das Gewicht dieses Rechtsverstoßes (ggf. bis zur Schwelle des „elementaren Rechtsverstoßes“) erhöhen können.

Dass die Staatsanwaltschaft die Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Vorwürfe untereinander und zum Tatbestand der Rechtsbeugung nicht beantwortet, wird in der Anklage dadurch verdeckt, dass die einzelnen Vorwürfe in eine Rahmenerzählung eingebettet werden. Diese lautet zusammengefasst so: Richter Dettmar sei es zu keinem Zeitpunkt um das Wohl der beiden Kinder gegangen, er habe das Verfahren allein aus persönlichen Motiven geführt, um seine persönliche Meinung zu den Corona-Maßnahmen durch eine Entscheidung mit Breitenwirkung in die Öffentlichkeit zu tragen. Das Verfahren gem. § 1666 BGB habe nur als „Deckmantel“ für die Verfolgung dieses (politischen) Ziels gedient. Um dieses Ziel zu erreichen, habe er bei dem Verfahren elementare Verfahrensvorschriften verletzt und damit das Recht gebeugt.

Diese Erzählung ist allerdings erst einmal nur eine Behauptung, die vor allem etwas über die nicht hinterfragten Annahmen der Staatsanwaltschaft sagt, denn dass es Richter Dettmar gar nicht um die Sache selbst und die beiden Kinder gegangen sei, kann von ihr nicht belegt werden. Die Staatsanwaltschaft kann sich offensichtlich nicht vorstellen, dass ein Richter besorgt darüber war, wie staatlicherseits mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise umgegangen wurde und sich deshalb fragte, ob ihm als Familienrichter nicht eine Verantwortung (und rechtliche Möglichkeit) zukomme, für Kinder und Jugendliche tätig zu werden. Weil Kritik an den Corona-Maßnahmen von ihr offenbar als prinzipiell unangemessen (für einen Richter) betrachtet wird, muss Richter Dettmar von unlauteren Motiven getrieben gewesen sein.

Schon der Gedanke, dass er – die Sache von seinem Standpunkt aus betrachtet – Gutes gewollt haben könnte, nämlich Kindern und Jugendlichen zu helfen, die unter den Corona-Maßnahmen zu leiden hatten, ist daher nicht möglich. Dass die Behauptung, er habe die Maskenpflicht abgelehnt und diese Position in die Öffentlichkeit tragen wollen, das Wohl der Kinder, die der Maskenpflicht unterworfen waren, sei ihm aber gleichgültig gewesen, einen logischen Widerspruch enthält, übersieht die Staatsanwaltschaft dabei. Hätte sie versucht, ihre Voreingenommenheit abzulegen, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass genau umgekehrt ein Schuh daraus wird:

Gerade weil es Richter Dettmar um das konkrete Wohl der Kinder ging, konnte er nicht darüber hinwegsehen, dass durch die Corona-Maßnahmen in der Schule – jedenfalls nach seiner Überzeugung – nicht nur das Wohl der beiden Kinder gefährdet war, sondern genauso das Wohl vieler anderer Schüler. Insofern ist das Bestreben, den Beschluss einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, ohne weiteres verständlich. Der Wunsch nach der Publizität von eigenen Entscheidungen ist auch grundsätzlich nicht illegitim. Tagtäglich geben Gerichte Pressemitteilungen über ihre Entscheidungen heraus und es werden Gerichtsentscheidungen zur Veröffentlichung in juristischen Portalen und Zeitschriften eingereicht, das alles, um die Entscheidungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

5. Der Vorwurf der Nichtanzeige eigener Befangenheit

Auch wenn sie zur Korrektur ihrer ganz am Anfang bezogenen Position nicht in der Lage oder nicht willens war, spricht doch einiges dafür, dass der Staatsanwaltschaft bewusst war, dass sich der Rechtsbeugungsvorwurf mit dem Argument, Richter Dettmar habe ein in der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte liegendes Verfahren an sich gezogen, nicht mehr begründen lässt. Zum Hauptvorwurf der Anklage ist deshalb ein anderer aufgestiegen: Allein im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird auf 23 Seiten die Entstehungsgeschichte des Beschlusses geschildert. Es wird berichtet, dass von verschiedenen Personen gezielt nach einer Familie gesucht worden sei, die eine Anregung für ein Verfahren nach § 1666 BGB bei Gericht stellen würde.

Bei der Formulierung der Anregung sei der Kindesmutter von anderen Personen, jedenfalls indirekt auch von Richter Dettmar, Hilfestellung geleistet worden und von Mitgliedern des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte, dessen Gründungsgeschichte auch ausführlich referiert wird, sei ein Konzept für ein entsprechendes Verfahren erarbeitet worden. Richter Dettmar habe mit Prof. Ines Kappstein, Prof. Ulrike Kämmerer und Prof. Christof Kuhbandner außerdem bewusst coronamaßnahmenkritische Wissenschaftler als Gutachter bestellt, die zudem alle Mitglieder des Vereins Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie e. V. (MWGFD) sind. Das und noch mehr wird minutiös und detailreich ausgebreitet, als gelte es, die Bildung einer kriminellen Verschwörung aufzudecken.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist es offensichtlich der große Skandal an dem ganzen familiengerichtlichen Verfahren, dass Richter Dettmar es initiiert hat. Nun ist es allerdings so, dass es gerade das Wesen eines amtswegigen Verfahrens wie des Verfahrens gem. § 1666 BGB ausmacht, dass es vom Gericht „initiiert“ wird, dem Gericht initiatives Handeln daher nicht vorgeworfen werden kann, sondern sogar von ihm erwartet wird.

Das weiß auch die Staatsanwaltschaft, wie verschiedentlich in der Anklage deutlich wird. Man könnte daher denken, dass die gesamte, sehr aufwändige und fraglos den Hauptteil der Ermittlungsarbeit ausmachende Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Beschlusses in Bezug auf den Vorwurf der Rechtsbeugung im Nichts enden würde. Dies ist aber nicht der Fall. Da das Initiieren des Verfahrens durch den Richter nicht rechtswidrig ist, greift die Staatsanwaltschaft zu einer Art argumentativem Trick: Die (nicht rechtswidrige!) Vorbereitung des Verfahrens durch Richter Dettmar wird als „Vorbefassung“ deklariert, die zur Befangenheit führe. Diese Befangenheit hätte Richter Dettmar gemäß § 6 FamFG, § 48 Zivilprozessordnung (ZPO) anzeigen müssen. Dass er dies nicht getan habe, stelle eine Rechtsverletzung dar, die den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen würde.

Der „Trick“ besteht hier darin, dass – obwohl ein Richter, der ein Verfahren initiieren darf, dieses selbstverständlich auch vorbereiten darf – die Vorbereitung von dem eigentlichen Verfahren willkürlich abgetrennt und – ohne jede Begründung! – mit dem Begriff „Vorbefassung“ bezeichnet wird, der im Zusammenhang mit der sog. Ausschließung und Ablehnung von Richtern ein Terminus technicus ist und Sachverhalte bezeichnet, die zum Ausschluss des Richters in dem davon betroffenen Verfahren führen.

Dies bedarf näherer Erläuterung und dazu muss etwas weiter ausgeholt werden: Es gibt Fälle, in denen Richter kraft Gesetzes, d. h. auch ohne dass eine Partei ein Ablehnungsgesuch (das ist die Bezeichnung im Gesetz für einen Befangenheitsantrag) anbringt, von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen sind. Diese sind für den Bereich des Zivilrechts in § 41 ZPO geregelt, der über § 6 FamFG auch im Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit anwendbar ist. Beispielsweise darf ein Richter nicht in einer Sache seines Ehepartners (§ 41 Nr. 2 ZPO) oder einer Person, mit der er in gerader Linie verwandt oder verschwägert oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder zum bis zweiten Grad verschwägert ist (§ 41 Nr. 3 ZPO), als Richter amtieren. Auch Fälle der sog. Vorbefassung, die in § 48 Nrn. 4-8 ZPO geregelt sind, führen zum Ausschluss. So ist ein Richter etwa kraft Gesetzes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache früher bereits als Prozessbevollmächtigter einer Partei tätig war (§ 41 Nr. 4 ZPO).

Neben dem Ausschluss kraft Gesetzes gibt es außerdem die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit, die dann möglich ist, „wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen“ (§ 42 ZPO). In diesen Fällen kann eine Partei ein Ablehnungsgesuch stellen, über das dann ein anderer Richter bzw. eine andere Kammer entscheidet. Und schließlich gibt es noch die sog. Selbstablehnung (§ 48 ZPO): Wenn es Umstände gibt, die die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könnten, muss der Richter dies von sich aus anzeigen. Auch in diesem Fall hat dann ein anderer nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständiger Richter bzw. die zuständige Kammer zu entscheiden, ob tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit besteht, was bejahendenfalls zum Ausschluss des Richters von diesem Verfahren führt.

Vorliegend ist keiner der Fälle der Vorbefassung nach § 41 Nrn. 4-8 ZPO einschlägig, das wird auch von der Staatsanwaltschaft nicht behauptet. Eine Vorbefassung, die nicht zu einem Ausschluss des Richters gemäß § 41 Nrn. 4-8 ZPO führt, ist aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Regel nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Die Staatsanwaltschaft müsste also zum einen begründen, weshalb die Vorbereitung des Verfahrens nicht als Teil des gesamten Verfahrens, das vom Familienrichter initiiert werden durfte, zu betrachten ist, sondern als „Vorbefassung“ deklariert werden muss und weshalb diese Art der Vorbefassung zur Befangenheit führen soll. Das tut sie aber nicht, sie wirft einfach das Wort „Vorbefassung“ in den Raum und das Wort „Befangenheit“ hinterher, und damit soll feststehen, dass Richter Dettmar wegen der Vorbereitung des Verfahrens sich selbst gem. § 6 FamFG, § 48 ZPO hätte ablehnen müssen.

Da offenbar aber auch der Staatsanwaltschaft (mehr oder weniger) bewusst ist, dass sie Befangenheit damit nur behauptet, aber noch nicht begründet hat, schiebt sie zur Begründung hinterher, dass sich die Befangenheit von Richter Dettmar auch daraus ergebe, dass er dem Verfahrensgegenstand nicht neutral und objektiv gegenübergestanden habe. Dies ist ein anderes Argument als Vorbefassung und es ist grundsätzlich richtig, dass fehlende Objektivität in der Sache die Besorgnis der Befangenheit begründen kann.

Allerdings will die Staatsanwaltschaft dann doch wieder fehlende Neutralität und Objektivität im Sinne einer Befangenheit schon allein deshalb als gegeben ansehen, weil Richter Dettmar das Verfahren vorbereitet habe. An dieser Stelle dreht sich die Sache im Kreis. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, dass er bei Einleitung des Verfahrens nicht mehr neutral gewesen sei, aber das ist in Verfahren nach § 1666 BGB immer der Fall: Erst wenn der Richter einen hinreichenden Verdacht einer Kindeswohlgefährdung bejaht hat, er also gerade nicht mehr neutral ist, sondern sich bereits eine (mindestens vorläufige) Meinung in der Sache gebildet hat, sind die Voraussetzungen für die Einleitung eines solchen Verfahrens überhaupt gegeben.

Nun lassen sich die diesbezüglichen Ausführungen in der Anklage aber auch dahingehend verstehen, dass Richter Dettmar vorgeworfen wird, er habe nicht nur eine „vorläufige“ Meinung gehabt, sondern sie sei bereits „verfestigt“ gewesen, etwa seine Meinung zur Wirksamkeit einer Maskenpflicht. Auch das geht aber an der Sache vorbei. Von einem Familienrichter wird auch nicht gefordert, dass er bei Einleitung des Verfahrens nach § 1666 BGB zumindest noch „etwas neutral“ im Hinblick auf die Frage der Kindeswohlgefährdung sein müsse. Wenn etwa eine Anordnung nach § 1666 BGB aufgrund einer Anregung des Jugendamtes im Wege einstweiliger Anordnung wegen Gefahr im Verzug ohne vorherige Anhörung der Beteiligten ergeht, dann findet oft gar keine weitere Ermittlung des Sachverhaltes zwischen Einleitung des Verfahrens und Entscheidung statt: Der Richter liest das Schreiben des Jugendamtes, leitet das Verfahren ein und erlässt direkt den Beschluss. Er weiß also schon bei Verfahrenseinleitung, wie er entscheiden wird.

Nach der Vorstellung der Staatsanwaltschaft hätte Richter Dettmar bei oder vor Verfahrenseinleitung eine Selbstanzeige gem. § 48 ZPO des Inhalts machen müssen, dass er der Frage, ob die Maskenpflicht in Schulen kindeswohlgefährdend ist, nicht „neutral“ gegenüberstehe (aufgrund welcher Umstände das der Fall war, wäre für die Selbstanzeige unerheblich). Wenn das nach dem Gesetz verlangt wäre – wobei die Nichtanzeige hier sogar den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen soll! – dann müsste jeder Familienrichter bei oder vor Einleitung eines Verfahrens nach § 1666 BGB eine Selbstanzeige gem. § 48 ZPO machen. Die Absurdität dieser Konsequenz zeigt, dass die Staatsanwaltschaft – entgegen anderslautenden Versicherungen in der Anklageschrift – die Besonderheiten des Amtsverfahrens gem. § 24 FamFG bei ihren Vorwürfen schlicht nicht berücksichtigt hat.

Die Vorbereitung des Verfahrens ist aber nicht das einzige Argument, mit dem der Vorwurf fehlender Objektivität gegenüber dem Verfahrensgegenstand belegt werden soll. Dieser soll sich auch aus der Auswahl der (für eine coronamaßnahmenkritische Position bekannten) Sachverständigen ergeben. Auch hier ist aber noch vor der Erörterung der Frage, ob die Auswahl dieser Sachverständigen eine Besorgnis der Befangenheit begründen kann, festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft ihren eigenen Vorwurf, der eine Rechtsbeugung begründen soll, nicht durchbuchstabiert:

Da die Selbstablehnung nicht darin besteht, dass ein Richter erklärt, er halte sich für befangen (das ist irrelevant), sondern dass er „von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte“ (§ 48 ZPO), müsste der Vorwurf der Staatsanwaltschaft hier konkret lauten, Richter Dettmar hätte dem für die Entscheidung über seine Ablehnung zuständigen Richter mitteilen müssen, dass er in dem Verfahren die Professoren Kappstein, Kämmerer und Kuhbandner mit Gutachten beauftragt habe. Das erscheint schon allein deshalb seltsam, weil die Beauftragung der Sachverständigen in dem Verfahren offen zu Tage lag. Die betreffenden Beweisbeschlüsse waren den Beteiligten übersandt worden, so dass auch das Bildungsministerium davon wusste und deshalb auch selbst einen Befangenheitsantrag hätte stellen können (was es nicht getan hat). Dass aber angesichts dieser Umstände die Verletzung dieser (angeblichen) Pflicht zur Selbstanzeige sogar ein rechtsbeugungsrelevanter „elementarer Rechtsverstoß“ sein soll, ist auch auf der Basis der vorgängigen Überlegungen der Staatsanwaltschaft unbegründbar.

Im Übrigen lässt die Auswahl maßnahmenkritischer Sachverständiger aber auch keineswegs auf fehlende Objektivität gegenüber der Sache schließen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn es eine allgemein erwiesene und von jedem Richter seiner Arbeit zu Grunde zu legende Tatsachenwahrheit wäre, dass die Corona-Politik „richtig“ und Kritik daran „falsch“ war. Die Staatsanwaltschaft legt diese Annahme den Vorwürfen gegen Richter Dettmar allerdings offensichtlich zugrunde. Nach ihren Vorstellungen wäre die Beauftragung z. B. von Prof. Christian Drosten mit einem Gutachten zum PCR-Test mutmaßlich unproblematisch gewesen, die Beauftragung von Prof. Ulrike Kämmerer soll dagegen – weil sie die Corona-Politik und insbesondere die massenhafte Anwendung des PCR-Tests kritisiert hat – ein Zeichen mangelnder Objektivität sein. Um die Sachverständigenauswahl kritisieren zu können, müsste sich die Staatsanwaltschaft erst einmal mit dem Inhalt der eingeholten Gutachten befassen und prüfen, ob die Gutachten wissenschaftlichen Kriterien und den Standards von Gerichtsgutachten standhalten. Das tut sie aber nicht, wie sie auch sonst allen inhaltlichen Fragen aus dem Weg geht. Die Feststellung, dass die drei Gutachter Mitglieder des Vereins MWGFD e. V. sind, soll offenbar die inhaltliche Auseinandersetzung ersetzen. Damit werden die Vorurteile der Staatsanwaltschaft zur Grundlage von strafrechtlichen Vorwürfen gegen Richter Dettmar gemacht.

6. Die Ausweitung des Beschlusstenors von zwei Kindern auf alle Schüler der beiden Schulen

Richter Dettmar hat sich nicht darauf beschränkt, eine Anordnung in Bezug auf die beiden Schüler, deren Eltern das Verfahren angeregt hatten, zu treffen, sondern hat den Beschluss auf alle Schüler der beiden Schulen der Kinder ausgeweitet. Das war äußerst ungewöhnlich, um es zurückhaltend auszudrücken, und wirft eine Reihe von Problemen auf: Der Beschluss erstreckte sich damit auf Personen, die dem Gericht namentlich noch gar nicht bekannt waren, die gesetzlichen Vertreter der betroffenen Schüler wussten nichts von dem Verfahren und die Durchführung einer – im einstweiligen Anordnungsverfahren auf Antrag und im Hauptsacheverfahren in jedem Fall obligatorischen – mündlichen Erörterung mit den Beteiligten (Hunderte Eltern!) wäre praktisch gar nicht durchführbar gewesen.

Gleichwohl muss man festhalten, dass im Verfahren der einstweiligen Anordnung, wenn Gefahr im Verzug bejaht wird, ein Beschluss ergehen kann, ohne dass Kind(er) oder Eltern angehört wurden, sogar, ohne dass die Eltern überhaupt von dem Verfahren wissen, solange nur aus Sicht des Gerichts die Kindeswohlgefährdung hinreichend glaubhaft ist. Dies kommt in der Praxis auch gar nicht selten vor. Alle notwendigen Verfahrenshandlungen können nach Erlass des Beschlusses nachgeholt werden. Und auch wenn die Schüler nicht namentlich bekannt waren, war doch hinreichend bestimmt, wen der Beschluss betraf.

Ein echter Fehler bei der Ausweitung des Tenors liegt allerdings darin, dass Richter Dettmar nach der Geschäftsverteilung des Amtsgerichts Weimar nicht für alle Schüler der beiden Schulen zuständig war, sondern nur für Schüler, deren Familiennamen mit den Buchstaben B, E, F, H, I, J, L, Q, R, S, T, U, V oder X begann. Da schon rein statistisch auszuschließen ist, dass die gesamte Schülerschaft zweier Schulen allein aus Schülern besteht, deren Familienname mit diesen Buchstaben beginnt, hat er damit für Kinder und Jugendliche mitentschieden, bei denen die Sache gar nicht auf seinem Tisch gelandet wäre, wenn die Eltern ein Verfahren gem. § 1666 BGB bei Gericht angeregt hätten. Zwei Fragen stellen sich hier: Hat Richter Dettmar dabei vorsätzlich gehandelt oder war es ein Versehen? Und falls Vorsatz zu bejahen wäre: Wäre das ein elementarer Rechtsverstoß, ein so schwerwiegendes „Entfernen von Recht und Gesetz“, dass es den Vorwurf der Rechtsbeugung tragen könnte?

Hinsichtlich des Vorsatzes muss man fragen, ob es vorstellbar ist, dass einem erfahrenen Richter ein solcher Fauxpas, nicht an seine „Buchstabenzuständigkeit“ zu denken, unterlaufen kann. Die Staatsanwaltschaft wird sicher sagen: nein, so etwas passiert keinem Richter aus Versehen, das ist nach der Lebenserfahrung ausgeschlossen. Allerdings passieren, wo Menschen handeln, immer wieder Dinge, die man zuvor „nach der Lebenserfahrung“ für ausgeschlossen gehalten hätte. Vermutlich jeder hat schon mal erlebt, dass ihm – gerade in einer Stresssituation – ein Versehen unterlaufen ist, von dem er zuvor gedacht hat, das werde ihm auf keinen Fall passieren. Und die Vermutung liegt jedenfalls nicht fern, dass Richter Dettmar bei Abfassung des Beschlusses unter ganz erheblichem Stress und Anspannung stand, weil er ahnen konnte, dass der Beschluss enorme, für ihn nicht nur positive Wellen schlagen würde. Dies wäre jedenfalls eine mögliche Erklärung für ein Versehen, das ihm „normalerweise“ nie passiert wäre.

Und noch eine weitere Überlegung spricht gegen Vorsatz: Was sollte das Motiv gewesen sein, um einen solchen klaren Rechtsfehler, der vollkommen unnötig die Angreifbarkeit des Beschlusses erhöhte, in Kauf zu nehmen? Dass der Beschluss durch die Einbeziehung einer Vielzahl von Schülern mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregte, als wenn es bei zwei Kindern geblieben wäre, versteht sich von selbst. Aber wäre die Aufmerksamkeit wirklich geringer gewesen, wenn sich die Ausweitung des Tenors auf alle Schüler, deren Familienname mit den Buchstaben B, E, F, H, I, J, L, Q, R, S, T, U, V oder X beginnt, beschränkt hätte? Wohl kaum, möglicherweise wäre sie sogar noch größer gewesen.

Geht man nun – rein hypothetisch – doch davon aus, dass Richter Dettmar sehenden Auges die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten haben könnte, ist damit die Frage, ob dies eine elementarer Rechtsverstoß i. S. v. § 339 StGB wäre, noch nicht beantwortet. Die Staatsanwaltschaft, die erst im Laufe des Ermittlungsverfahrens auf die Idee gekommen ist, die Überschreitung der Grenzen der Buchstabenzuständigkeit könnte für eine Rechtsbeugung ausreichen, obwohl das Problem von Anfang an bekannt war, versucht das damit zu begründen, dass die Schüler, für die Richter Dettmar nicht zuständig war, ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden wären, was einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) darstelle.

Die Entziehung des gesetzlichen Richters ist in der Tat ein Topos bei Rechtsbeugungsfällen, wobei der Vorwurf in diesen Fällen allerdings darin besteht, dass der Richter aus sachfremden Erwägungen die Zuständigkeit an sich gezogen und den tatsächlich zuständigen Richter von der Entscheidung ausgeschlossen habe, um eine Entscheidung herbeizuführen (z. B. den Erlass eines Haftbefehls), die bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften voraussichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre. Letzteres kann man sicher auch von dem hier gegenständlichen Fall sagen, aber dass hier Betroffene ihrem gesetzlichen Richter „entzogen“ worden wären, stimmt allenfalls in einem sehr weiten Sinn:

Hätte Richter Dettmar nicht hinsichtlich dieser Kinder entschieden, hätte mutmaßlich kein anderer Richter darüber entschieden, es wäre einfach keine andere Entscheidung ergangen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung „nur“ auf andere Schüler ausgeweitet wurde, aber von einer tatsächlich bestehenden Zuständigkeit (der Familienname der beiden Kinder beginnt mit „B“) ausging. Hätte Richter Dettmar dagegen eine Anregung betreffend Kinder mit dem Anfangsbuchstaben „A“ an sich genommen (was schon praktisch kaum möglich wäre, weil die Sache dann von der Geschäftsstelle des Gerichts gar nicht für sein Dezernat eingetragen worden wäre) und ein Verfahren nach § 1666 BGB eingeleitet, wäre die Sache sicher anders zu beurteilen. Dann hätte es sich auch um eine „echte“ Entziehung des gesetzlichen Richters gehandelt. Es spricht daher viel dafür, dass, selbst wenn Richter Dettmar vorsätzlich für Schüler, für die er nicht zuständig war, mitentschieden hätte, dies nicht für eine Rechtsbeugung ausreichen würde.

7. Die weiteren Tatvorwürfe

Die übrigen Vorwürfe können kurz abgehandelt werden. Sie lauten:

• Durch das Unterlassen von Anhörungen von Beteiligten vor der Entscheidung sei der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt worden.

• Bei der Auswahl des Verfahrensbeistandes für die beiden Kinder sei Richter Dettmar seiner Prüfpflicht aus § 158 Abs. 1 FamFG alte Fassung nicht nachgekommen. Er habe die Rechtsanwältin, die zuvor noch nicht vom Amtsgericht Weimar als Verfahrensbeistand bestellt worden sei, nur deshalb ausgewählt, weil sie coronamaßnahmenkritisch gewesen sei.

• Dass von der Einleitung des Verfahrens bis zur Entscheidung 3 ½ Wochen vergingen, sei willkürlich gewesen und habe allein dem Zweck gedient, die im Hauptsacheverfahren eingeholten Sachverständigengutachten öffentlichkeitswirksam zu verwerten.

• Nach § 51 Abs. 3 Satz 2 FamFG könnten zwar einzelne Verfahrensergebnisse des Verfahrens der einstweiligen Anordnung in das Hauptsacheverfahren übertragen werden, umgekehrt sei dies jedoch nicht möglich. Die Gutachten hätten daher im Verfahren auf einstweilige Anordnung gar nicht verwertet werden dürfen.

• Der Untersagung der Anordnung der Teilnahme an Schnelltests und dem Gebot der Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts, was von der Kindesmutter gar nicht angeregt wurde, würde in dem Verfahren jegliche rechtliche und tatsächliche Grundlage fehlen.
Dazu ist in Kürze Folgendes zu bemerken:

• Wie bereits dargelegt, können Beschlüsse in Verfahren auf einstweilige Anordnung bei Gefahr im Verzug vor Anhörung der Beteiligten ergehen, die Anhörungen sind dann unverzüglich nachzuholen. Das weiß auch die Staatsanwaltschaft, meint aber, wenn eine Anhörung unterblieben sei, obwohl „Gefahr im Verzug“ nicht zu bejahen gewesen sei (was hier so sein soll), könnte dies den Vorwurf der Rechtsbeugung rechtfertigen. Mit einer mangels Gefahr im Verzug lediglich auf die Zeit nach Beschlusserlass verschobenen (nicht endgültig unterlassenen) Anhörung entfernt sich aber ein Richter niemals „in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz und richtet sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben aus“. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass die Staatsanwaltschaft bei der Suche nach Fehlern in dem Beschluss die maßgeblichen Kriterien für eine Rechtsbeugung aus dem Blick verloren hat.

• Dasselbe gilt für die Auswahl des Verfahrensbeistandes: Selbst wenn die Geeignetheit der betreffenden Rechtsanwältin nicht ausreichend geprüft worden wäre, kann die Verletzung dieser Pflicht niemals das Gewicht eines elementaren Rechtsverstoßes haben. Im Übrigen ist nicht nachvollziehbar, dass die Staatsanwaltschaft meint, für diesen Vorwurf nicht die Frage beantworten zu müssen, ob die ausgewählte Rechtsanwältin tatsächlich ungeeignet war (dass sie coronamaßnahmenkritisch war, besagt insoweit selbstverständlich wieder gar nichts).

• Dass Richter Dettmar vorgeworfen wird, er habe mit dem Beschluss zu lange zugewartet, ist insofern erstaunlich, als ihm zugleich vorgeworfen wird, dass er ihn überhaupt erlassen hat. Für das Bildungsministerium, dem eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen eingeräumt worden war (s. o. Abschnitt 3), kam die Entscheidung noch zu früh und was den Vorwurf der Willkür anbelangt: Vom 27. März bis 11. April 2021 waren in Thüringen Osterferien. Ob der Beschluss am 27. März oder am 8. April erging, war daher für die betroffenen Kinder irrelevant.

• Dass die im Hauptsacheverfahren eingeholten Sachverständigengutachten im Verfahren auf einstweilige Anordnung nicht hätten verwertet werden dürfen, gibt nicht nur der Wortlaut des von der Staatsanwaltschaft zitierten § 51 Abs. 3 Satz 2 FamFG nicht her, es ist auch schlicht falsch. Das Familiengericht entscheidet gemäß § 30 Abs. 1 FamFG nach pflichtgemäßem Ermessen, ob es die relevanten Tatsachen durch eine förmliche Beweisaufnahme nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (Strengbeweisverfahren) oder im Freibeweisverfahren feststellt. Im Verfahren auf einstweilige Anordnung ist es sogar ausreichend, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung glaubhaft gemacht sind (§ 51 Abs. 1 S. 2 FamFG), was ein geringerer Grad an Wahrscheinlichkeit ist als die im Hauptsacheverfahren erforderliche volle Überzeugung vom Vorliegen der relevanten Tatsachen. Für den Freibeweis kommen als Beweismittel alle erdenklichen Mittel in Betracht, die zur Überzeugungsbildung des Gerichts beitragen können.39 Richter Dettmar hätte die Gutachten daher – von urheberrechtlichen Fragen einmal abgesehen – selbst dann im einstweiligen Anordnungsverfahren verwerten können, wenn sie gar nicht von ihm in Auftrag gegeben worden wären, sondern z. B. in einer Fachzeitschrift oder auf einer privaten Webseite der Sachverständigen veröffentlicht worden wären.

• Bei der Anordnung bezüglich Schnelltest und Präsenzunterricht und dem diesbezüglichen Vorwurf fehlender rechtlicher und tatsächlicher Grundlagen bleibt unklar, welche Vorschriften verletzt worden sein sollen. Nach der Gliederung der Anklage wird dieser Vorwurf als Verstoß gegen materielles Recht aufgeführt. Dann hätte die Staatsanwaltschaft aber tatsächlich auch Stellung zu der Frage beziehen müssen, ob diese Maßnahmen kindeswohlgefährdend waren oder nicht. Das tut sie aber – wie auch bei der Maskenpflicht – nicht, wirft aber Richter Dettmar vor, dass er es aufgrund des vorliegenden Verfahrensstoffs auch nicht hätte wissen können.

Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaft bei all diesen Vorwürfen übersieht, dass Rechtsbeugung durch einen Verstoß gegen Verfahrensrecht überhaupt nur dann in Betracht kommt, wenn durch die Verfahrensverletzung die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei begründet wurde (s. o. Abschnitt 1). Die Staatsanwaltschaft müsste also darlegen, dass z. B. die (angeblich) mangelhafte Prüfung der Eignung des Verfahrensbeistandes oder das Unterlassen der Anhörung der beiden Kinder die konkrete Gefahr einer materiellrechtlich, also inhaltlich falschen Entscheidung geschaffen oder erhöht habe.

8. Was in der Anklage fehlt

Gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 StPO hat die Staatsanwaltschaft nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung des Beschuldigten dienenden Umstände zu ermitteln. Dies ist die sog. Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft und aufschlussreich ist diesbezüglich bei der Anklage nicht nur, mit welchen Fragen sich die Staatsanwaltschaft beschäftigt, sondern auch, mit welchen nicht. Hier fallen besonders drei Dinge auf:

• Neben dem sog. Anklagesatz, in dem die vorgeworfene Tat geschildert und mitgeteilt wird, wie die Tat aus Sicht der Staatsanwaltschaft rechtlich zu bewerten ist (§ 200 Abs. 1 S. 1 StPO) und der Bezeichnung der Beweismittel (§ 200 Abs. 1 S. 2 StPO), ist in einer Anklage auch das sog. wesentliche Ergebnis der Ermittlungen darzustellen (§ 200 Abs. 2 StPO). Das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen soll den Angeschuldigten, den Verteidiger, aber auch das Gericht und den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft über den Sachstand, die Beweislage und alle sonstigen für die Entscheidung relevanten, nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erkennbaren Umstände unterrichten.

Essentiell ist dabei die Mitteilung der Beweisgründe, die Beweiswürdigung, d. h. die Darstellung, wie die Staatsanwaltschaft zu dem Anklagevorwurf kommt und wie der Vorwurf rechtlich zu bewerten ist. Soweit der Angeschuldigte sich zur Sache eingelassen hat, ist diese Einlassung mitzuteilen und wie sie mit welchen Gründen von der Staatsanwaltschaft bewertet wird. Dieser Verpflichtung genügt die Staatsanwaltschaft in der Anklage nicht einmal ansatzweise. Richter Dettmar hat sich über seinen Verteidiger im Ermittlungsverfahren in mehreren, teilweise umfangreichen Schriftsätzen zur Sache eingelassen. Punkt für Punkt sind dabei die Vorwürfe, die sich aus dem Akteninhalt, aber insbesondere auch aus den beiden Durchsuchungsbeschlüssen ergaben, abgearbeitet worden.

Im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklage, das immerhin 43 Seiten umfasst, wird aber nur an einer einzigen Stelle ein Einwand aus einem Schriftsatz der Verteidigung zitiert, das ist alles. Im Übrigen wird die Einlassung über die Verteidigung mit keinem Satz erwähnt, geschweige denn, dass sie im Zusammenhang mitgeteilt und sich mit ihr auseinandergesetzt würde. Es wirkt, als wäre die Einlassung des Beschuldigten für die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren ohnehin von vornherein irrelevant gewesen.

• Der – für den Tatbestand der Rechtsbeugung essentielle – Vorwurf, Richter Dettmar habe bei sämtlichen, ihm von der Staatsanwaltschaft vorgeworfenen Rechtsfehlern vorsätzlich gehandelt, wird an keiner Stelle näher begründet. Man liest wiederholt, er habe (als erfahrener Familienrichter) gewusst, dass sich dies und das so und so verhalte, die Möglichkeit fahrlässigen Handelns wird dabei aber nie auch nur in Erwägung gezogen. Dadurch entsteht der Eindruck, für die Staatsanwaltschaft verstehe es sich von selbst, dass Richter Dettmar bei allen (tatsächlichen oder vermeintlichen) Rechtsfehlern vorsätzlich gehandelt haben muss.

• Schließlich fällt auf, dass die Anklage inhaltlichen Fragen strikt aus dem Weg geht. Richter Dettmar wird angeklagt wegen eines Beschlusses, in dem Corona-Maßnahmen in der Schule als kindeswohlgefährdend bewertet wurden, die Corona-Maßnahmen sollen aber nicht thematisiert werden. Ob die Maskenpflicht und die anderen Maßnahmen in den Schulen wirksam und die Maßnahmen im Hinblick auf das Kindeswohl unbedenklich waren oder nicht – um nur zwei Fragen von vielen zu nennen – das alles soll im Verfahren keine Rolle spielen. Stattdessen soll es nur um Verfahrensverstöße und eine Gesetzesauslegung (§ 1666 Abs. 4 BGB) gehen. Dies ist aber schon deshalb äußerst fragwürdig, als es – und das wird in der Rückschau auch von Befürwortern der Corona-Maßnahmen in der Schule kaum bestritten werden – letztlich von Anfang an die inhaltlichen Fragen waren, die den Beschluss vom 08.04.2021 in den Augen der Politik, der Presse und auch der Strafverfolgungsbehörden zum „Skandal“ machten.

Der „Skandal“, auf den sofort mit Rufen nach dem Strafrecht reagiert wurde, bestand in Wahrheit nicht darin, dass ein Familienrichter die Arbeit von Verwaltungsrichtern an sich gezogen haben sollte, sondern was er entschieden hatte: Dass er in einem gerichtlichen Beschluss erklärte, dass die vom Bildungsministerium angeordneten Corona-Maßnahmen in den Schulen kindeswohlgefährdend seien und dass er dies nicht nur erklärte, sondern auch noch korrigierend eingreifen wollte. Hätte das Verwaltungsgericht Weimar, das von den Eltern der beiden Kinder parallel zu dem familiengerichtlichen Verfahren angerufen worden war, mit dem in diesem Verfahren ergangenen Beschluss die Allgemeinverfügung, die die Corona-Maßnahmen in der Schule regelte, wegen Unverhältnismäßigkeit für verfassungswidrig erklärt, wäre der politische Aufruhr sicher kein geringerer gewesen als nach der Entscheidung des Familiengerichts und das ganz ohne Zuständigkeitsfragen.

Es ist aber auch insofern nicht sachgerecht, als die Frage, ob ein elementarer Rechtsverstoß i. S. v. § 339 StGB vorliegt, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs43 „auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände“ zu beantworten ist und dafür das objektive Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes und die Motive des Richters relevant sind. Bei dieser wertenden Gesamtbetrachtung können aber die inhaltlichen Fragen nicht außer Acht bleiben, denn für Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes bzw. der Rechtsverstöße, die Richter Dettmar vorgeworfen werden, sind die möglichen Folgen von wesentlicher Bedeutung. Mit der Frage, ob er mit dem Beschluss effektive und zugleich Kindern ohne weiteres zumutbare oder aber physisch und psychisch belastende Maßnahmen, für deren Wirksamkeit es zudem keine wissenschaftliche Evidenz gab, zu unterbinden versucht hat, hätte sich daher schon die Staatsanwaltschaft beschäftigen müssen. Sollte die Strafkammer tatsächlich eine Tatbestandserfüllung in Betracht ziehen, wird sie im Prozess jedenfalls an diesen Fragen kaum vorbeikommen.

9. Fazit 

Die Analyse hat gezeigt, dass der Rechtsbeugungsvorwurf der Staatsanwaltschaft gegen Richter Dettmar einer eingehenden rechtlichen Prüfung nicht standhalten kann. Die Staatsanwaltschaft hat sich bemüht, eine Geschichte des Beschlusses vom 08.04.2021 zu schreiben, bei der das Handeln des verfahrensführenden Richters unter den Tatbestand des § 339 StGB subsumiert werden kann. Sie hat dabei im Ermittlungsverfahren einen beachtlichen Aufwand betrieben: Nicht nur bei Richter Dettmar, sondern auch bei den drei Sachverständigen und bei fünf Zeugen wurden Wohnungen und Diensträume durchsucht. Anschließend erfolgte eine monatelange Auswertung der sichergestellten Laptops und Telefone durch die Polizei.

Das alles mit dem Ergebnis, dass Richter Dettmar ein Amtsverfahren, das vom Familiengericht initiiert werden kann und ggf. auch initiiert werden muss, selbst initiiert hat. Angesichts dieses Nullresultats versucht sich die Staatsanwaltschaft in den Vorwurf der Befangenheit zu retten, die Richter Dettmar hätte selbst anzeigen müssen. An dem für die Zwecke eines Rechtsbeugungsverfahrens längst über Bord der Rechtsprechung gegangenen Vorwurf, Richter Dettmar hätte ein Verfahren, für das die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig gewesen wäre, an sich gezogen, hält sie unbeirrt fest, auch wenn sie nach dieser Auffassung – örtliche Zuständigkeit vorausgesetzt – sogar ein Verfahren wegen Rechtsbeugung gegen die Richter des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, die die Beschlüsse vom 16. und 21.06.2021 erlassen haben, hätte einleiten müssen und ihre Kollegen von der Staatsanwaltschaft München II es schon im Juli 2021 besser wussten (s. Endnote 34). Weil sie sich ihrer Sache nicht sicher ist, wird versucht, das Ganze mit einer Reihe weiterer, kleinerer Vorwürfe aufzufüllen, die nur zeigen, dass der Staatsanwaltschaft in ihrer Fehlersuche die Tatbestandsvoraussetzungen des § 339 StGB außer Sicht geraten und auch ihre Kenntnisse im FamFG am Ende doch lückenhaft sind. 

Dieses Strafverfahren ist ein politisches Verfahren: Das Ermittlungsverfahren fällt in die Hochzeit der Corona-Krise, die von Beginn an von einer extremen Diskursverengung und der Ausgrenzung von Kritikern der Corona-Politik aus dem gesellschaftlichen Diskurs geprägt war. Dies muss hier nicht näher ausgeführt werden, weil es inzwischen auch von den (ehemaligen) Verfechtern der Corona-Politik nicht mehr ernsthaft in Abrede gestellt wird. Die Anklageschrift entstand nicht nur in diesem Kontext, sie ist

  • mit der unhinterfragten Annahme, dass die Corona-Maßnahmen (in der Schule) berechtigt, Maßnahmenkritik dagegen unberechtigt gewesen sei,
     
  • mit der Weigerung, die Frage, ob die Maskenpflicht in der Schule möglicherweise kindeswohlgefährdend war, überhaupt zu stellen,
     
  • mit der Einseitigkeit der Ermittlungen und der Einseitigkeit der tatsächlichen und rechtlichen Schlussfolgerungen aus den Ermittlungsergebnissen,
     
  • mit ihrer Ignoranz gegenüber dem Vorbringen der Verteidigung und abweichenden Rechtsauffassungen anderer Gerichte und schließlich
     
  • mit der bereitwilligen und unreflektierten Unterstellung illegitimer Motive auf Seiten von Richter Dettmar 

selbst ein Dokument dieser Zeit. 

Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Diskussion gewandelt. Der Sachverständigenausschuss zur Evaluation der Corona-Maßnahmen nach § 5 Abs. 9 Infektionsschutzgesetz hat schon in seinem Bericht vom 30.06.2022 offiziell festgestellt, dass ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar ist. Dass die Schulschließungen unnötig waren, ist inzwischen allgemeiner Konsens (während die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage der Anordnung der Präsenzpflicht in dem Beschluss vom 08.04.2021 noch mit dem Argument, dafür würden die tatsächlichen Grundlagen in dem Verfahren fehlen, zu begegnen versucht).

Dass auch die Maskenpflicht in der Schule unnötig war, jedenfalls auch nach über zwei Jahren der Krise keine wissenschaftliche Evidenz für ihren epidemiologischen Nutzen gegeben ist, (wie das die Sachverständige Kappstein in ihrem in dem Verfahren eingeholten Gutachten bereits im April 2021 festgestellt hat), hat man zwar noch von keinem der verantwortlichen Politiker gehört. Dass ein Politiker aber gegenwärtig noch äußern könnte, er sei unverändert der Auffassung, dass die Maskenpflicht in der Schule eine richtige Maßnahme gewesen sei, erscheint inzwischen fast undenkbar. 

Die Frage ist nach alledem, ob die 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt bereit ist, in einen Zeittunnel zurück in das Frühjahr 2022 oder 2021 einzufahren und sich die Brille aufzusetzen, durch die die Kritiker der Corona-Maßnahmen als vom Weg der Vernunft abgekommen erscheinen, denen jederzeit Schlimmes (Rechtsbeugung!) zuzutrauen ist, oder ob sie diese Brille liegen lässt und es der Kammer stattdessen gelingt, einen unvoreingenommenen Blick auf den Sachverhalt und die Person des Angeklagten zu werfen. Sie könnte dann vielleicht in Christian Dettmar einen Kollegen erkennen, der auf das – jedenfalls von ihm als solches betrachtete – Unrecht der Corona-Maßnahmen in der Schule mit den Mitteln des Rechts reagieren wollte und dem nichts fernerlag, als Unrecht seinerseits mit Unrecht zu begegnen.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Thomas Müller / 19.04.2023

Kleiner, technischer Hinweis: Wenn man sich den Text vorlesen lässt, bricht das Vorlesen kurz vor Punkt Nr. 8 ab. Ich habe es 2x ausprobiert. Ansonsten ist die Vorlesefunktion allgemein super!

Paul Ehrlich / 19.04.2023

Der Lack ist ab, es kommt endgültig die braune Grundfarbe durch. Hochachtung vor dem Richter und den Ärzten die Maskenateste verschrieben haben. Sie werden jetzt, nachdem jeder weiß, dass alles politische Willkür war, immer noch bestraft und inhaftiert. Und die wahren Verbrecher verleihen sich Orden. Was sollen wir noch erdulden. Wie oft grinst mich dieser Sch…. noch an wenn er wieder lügt.

Wolfgang Richter / 19.04.2023

Wie “Recht und Logik” politischen Anforderungen unterworfen werden, hat ja vor einigen Monaten das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil im Klageverfahren von Luftwaffenoffizieren der Bundeswehr gegen diem dortige “Impfpflicht” klar gemacht, indem die Klagen abgewiesen wurden, die “Impfpflicht” bestätigt wurde, was dann auch für die diversen Piloten galt, dabei völlig außer acht lassend, daß die modRNA-“Brühen” nicht normal zugelassen waren und nasch internationaler Vereinbarung Piloten, die nicht regulär zugelassene Medikamente einnehmen, ggf. an Medikamentenstudien teilnehmen, ihre Fluglizenz verlieren, dies ohne wenn und aber. Und daß es bei der Spritzerei um einen Medikamentenversuch ging, haben nicht zuletzt die Sozen Scholz und Esken mit ihren Reden von den “Millionen Versuchskaninchen”, denen man sich gefälligst aus Gründen der Volkssolidarität anzuschließen habe, öffentlich verkündet. Und hatte die Pilotenfregelung Folgen? Nein. Sie fliegen munter weiter, und das weltweit, weil zB die Amis für sich die Anforderungen an die Fitness von Piloten bei den Regeluntersuchungen einfach herunter gesetzt haben. Und wer fragt schon nach den Fällen von Herzversagen im Cockpit. Niemand hat ein Interesse daran, zB den Tourismus wieder in den Keller zu treten. Na dann, fliegt man schön, gerne auch mit einer Boeing 737Maxx.

Andreas Kollmann / 19.04.2023

Vielen Dank für die m.E. sehr gute Befassung mit der Anklageschrift der StA. Diese Ausführungen klingen für mich gut nachvollziehbar, wobei das Gericht hoffentlich “beide Seiten” (und nicht nur eine) in die Betrachtung einbezieht. - Ich bin gespannt auf das Ergebnis!

Torsten Hopp / 19.04.2023

Gut, dass sich unsere Gerichte mit derart schwerkriminellen Machenschaften beschäftigen. Da kann man sich für Kinderschänder und Vergewaltiger bzw Messerstecher etwas mehr Zeit lassen. Strafen für die Maskenbefreier und Straflosigkeit für die Maskenverordner. Noch Fragen?

Judith Panther / 19.04.2023

@Hans Walter Müller - Zustimmung! Die Rechtsbeuger müssen mit vollem Namen genannt werden! Am besten noch Fotos dazu! Die braucht es allein schon für den nächsten Band von “Möge die Republik ...”! Und um rechtzeitig die Straßenseite zu wechseln. Anscheinend haben solche Herrschaften kein Problem damit, in Zukunft in einem Atemzug mit den anderen furchtbaren Juristen genannt zu werden, deren Namen man auch nur noch mit Abscheu ausspricht.

Jürgen Teuber / 19.04.2023

Bitte auch beachten: Urteil OLG Karlsruhe aus Mai 2021 zum gleichen Thema.

Jürgen Teuber / 19.04.2023

Richter Dettmar hat genau das getan, was in einem funktionierenden Rechtsstaat von einem Familienrichter erwartet und verlangt werden kann. Er hat die grundgesetzlich garantierten Rechte von KINDERN gegen einen übergriffigen Staat verteidigt und bestätigt. Dafür danke ich ihm und dafür gebührt ihm unser aller Dank und Anerkennung. Das Verfahren gegen ihn ist rein POLITISCH und damit rechtswidrig. Das erinnert bis ins Detail an Unrechtsstaaten wie in der DDR. Ich bin überzeugt, dass das zuständige Gericht die Anklage nicht zulassen wird. Es gibt tatsächlich noch unabhängige Gerichte in Deutschland.

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