Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar hatte am 8. April 2021 zwei Schulen untersagt, das Tragen von Masken, Mindestabstände und die Teilnahme an Corona-Schnelltests anzuordnen. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Erfurt ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung gegen ihn ein, inklusive der Durchsuchung seines Dienstzimmers und seiner Privatwohnung. Matthias Guericke, Thomas Barisic und Jürg Vollenweider vom Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) haben die 62-seitige Anklageschrift auch für Nichtjuristen analysiert und zeigen auf, dass der Staatsanwaltschaft selbst offenbar massive rechtliche Fehler unterlaufen sind. Aus Gründen der Lesbarkeit hat Achgut den Text in zwei Teilen sowie ohne die Fußnoten des Originaltextes veröffentlicht. Teil 2 finden Sie hier. Den Originaltext mit Fußnoten finden Sie hier.
Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar wurde von der Staatsanwaltschaft Erfurt wegen seines Beschlusses vom 08.04.2021 (9 F 148/21) zur Maskenpflicht in zwei Schulen wegen Rechtsbeugung angeklagt. Wie schon der Beschluss hat auch das Strafverfahren von Anfang an große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Es ist eines von deutschlandweit bisher zwei Verfahren, in denen gegen einen Richter bzw. eine Richterin im Zusammenhang mit einer Entscheidung, die Corona-Maßnahmen betraf, Anklage wegen Rechtsbeugung erhoben wurde. Der erste Verhandlungstag vor dem Landgericht Erfurt sollte am 18.04.2023 stattfinden. Nach kurzfristiger Aufhebung dieses Termins soll der Prozess jetzt am 15.06.2023 beginnen.
In diesem Beitrag soll die Anklage der Staatsanwaltschaft Erfurt vom 17.05.2022 (542 Js 11498/21) in einer auch für Nichtjuristen verständlichen Form analysiert werden. Da die Anklageschrift insgesamt 62 Seiten umfasst, von der Staatsanwaltschaft nicht nur ein einziger, sondern eine Vielzahl von Vorwürfen erhoben wird und sich außerdem schwierige Rechtsfragen stellen, ist eine solche Analyse – wenn sie der Sache gerecht werden soll – nicht in einem schwungvollen Durchgang durch den Anklagetext zu haben, sondern nur in vielen – auch für den Leser vielleicht mühsamen – Einzelschritten. Diese Schritte sind folgende:
Nach einem Blick auf den Tatbestand der Rechtsbeugung (Abschnitt 1) folgen kurze Erläuterungen zum Inhalt des von Richter Dettmar erlassenen Beschlusses des Amtsgerichts Weimar vom 08.04.2021, der Gegenstand der Anklage ist (Abschnitt 2). Sodann folgt ein längerer Abschnitt über den infolge des Beschlusses in mehreren gerichtlichen Entscheidungen ausgetragenen Streit über die Frage der Zuständigkeit des Familiengerichts für das Verfahren und wie die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und in der Anklage mit dieser Frage umgegangen ist. Ergänzt wird dies durch Erläuterungen zu dem für den Beschluss zentralen § 1666 Abs. 4 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (Abschnitt 3).
Danach werden die Rahmenerzählung, in die die Staatsanwaltschaft die einzelnen Tatvorwürfe eingebettet hat (Abschnitt 4), der Vorwurf, Richter Dettmar hätte eigene Befangenheit anzeigen müssen (Abschnitt 5) und der Vorwurf, er habe rechtswidrig den Tenor des Beschlusses auf alle Schüler der beiden betroffenen Schulen erstreckt (Abschnitt 6), erörtert. Die verbleibenden Vorwürfe können eher summarisch behandelt werden (Abschnitt 7). Ein Hinweis auf das, was in der Anklage fehlt (Abschnitt 8), leitet über zum abschließenden Fazit (Abschnitt 9).
1. Der Tatbestand des § 339 Strafgesetzbuch (StGB)
Der Straftatbestand der Rechtsbeugung hat folgenden Wortlaut:
„Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.“
Dem Gesetzestext ist zu entnehmen, wer als Täter in Betracht kommt (Richter, aber auch andere Amtsträger, z. B. Staatsanwälte), in welchem Zusammenhang der Täter handeln muss („bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache“) und dass die Tat zugunsten oder zum Nachteil einer Partei der Rechtssache wirken muss. Was eine „Beugung des Rechts“ ist, ist dem Wortlaut des Tatbestandes aber nicht zu entnehmen und es versteht sich auch keineswegs von selbst. In der Rechtswissenschaft wird darüber intensiv gestritten, maßgeblich für die Gerichte ist aber die Auslegung des Tatbestandes durch den Bundesgerichtshof, weil dieser für Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte (Revisionen) zuständig ist. Seine Rechtsprechung zu § 339 StGB fasst der Bundesgerichtshof im Urteil vom 21.01.2021, 4 StR 83/20, selbst wie folgt zusammen:
„Als eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB kommen nur elementare Rechtsverstöße in Betracht. Die Schwere des Unwerturteils wird dabei dadurch indiziert, dass Rechtsbeugung als Verbrechen eingeordnet ist und im Falle der Verurteilung das Richter- oder Beamtenverhältnis des Täters gemäß § 24 Nr. 1 DRiG, § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG kraft Gesetzes endet. § 339 StGB erfasst deshalb nur Rechtsbrüche, bei denen sich der Richter oder Amtsträger bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet. Eine unrichtige Rechtsanwendung oder Ermessensausübung reicht daher für die Annahme einer Rechtsbeugung selbst dann nicht aus, wenn sich die getroffene Entscheidung als unvertretbar darstellt. Insoweit enthält das Merkmal der Beugung des Rechts ein normatives Element, dem die Funktion eines wesentlichen Regulativs zukommt. Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände zu entscheiden. Dabei kann neben dem objektiven Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes insbesondere Bedeutung erlangen, von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ.“
Wichtig ist dabei festzuhalten, dass der Bundesgerichtshof den Tatbestand der Rechtsbeugung restriktiv auslegt. Nicht jede rechtlich unvertretbare Entscheidung erfüllt den Tatbestand, vielmehr muss es sich um einen elementaren Rechtsverstoß handeln. Auch diese nähere Eingrenzung des Tatbestandes enthält zwar noch unbestimmte Begriffe (was ist „elementar“, was „schwerwiegend“?), aber der Rechtsprechung ist damit zumindest eine Linie vorgegeben.
Rechtsbeugung kann nicht nur begangen werden, indem eine Rechtssache falsch entschieden wird, sie ist auch allein durch einen schwerwiegenden Verstoß gegen Verfahrensrecht möglich. Eine gerichtliche Entscheidung (Urteil oder Beschluss) kann also im Ergebnis richtig oder jedenfalls rechtlich vertretbar sein, der entscheidende Richter kann sich aber dennoch wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht haben. Voraussetzung ist insoweit aber, dass durch den Verfahrensverstoß zumindest die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei begründet wurde.
Schließlich kann Rechtsbeugung nur vorsätzlich begangen werden. Ein elementarer Rechtsverstoß aufgrund von Unkenntnis oder eines Versehens (= Fahrlässigkeit), erfüllt daher niemals den Tatbestand der Rechtsbeugung.
Für einen wegen Rechtsbeugung angeklagten Richter geht es immer um seine berufliche Existenz, da – wie vom Bundesgerichtshof im obigen Zitat dargelegt – im Falle einer Verurteilung aufgrund des vorgegebenen Strafrahmens mindestens auf Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erkennen ist und damit das Richterverhältnis (wie auch jedes Beamtenverhältnis) automatisch endet. Eine Einstellung des Verfahrens unter Auflagen ist von vornherein ausgeschlossen, da dies gemäß §§ 153, 153a Strafprozessordnung (StPO) nur bei Vergehen und nicht bei Verbrechen (= Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind; § 12 Abs. 1 StGB) rechtlich möglich ist. Freispruch oder Verurteilung zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe und damit Ende des Richteramts sind also die Alternativen.
2. Der Beschluss des Amtsgerichts Weimar vom 08.04.2021
Mit Beschluss vom 08. bzw. 09.04.2021, Az. 9 F 148/21, juris und openJur, hat Familienrichter Christian Dettmar den Leitungen und Lehrern der Schulen von zwei Weimarer Kindern sowie den Vorgesetzten der Schulleitungen untersagt, für die beiden Kinder und alle weiteren an den beiden Schulen unterrichteten Schüler das Tragen von Masken, Mindestabstände und die Teilnahme an Corona-Schnelltests anzuordnen. Außerdem wurde angeordnet, dass Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten ist. Die Entscheidung wurde im Kern damit begründet, dass die genannten Maßnahmen das Wohl der betreffenden Kinder und Jugendlichen gefährden würden und die zugrundeliegenden rechtlichen Regelungen verfassungswidrig und nichtig seien.
Die Entscheidung erfolgte im Wege einstweiliger Anordnung ohne vorherige mündliche Verhandlung in einem Verfahren gem. § 1666 BGB. Die hier relevanten Absätze 1 und 4 des mit der Überschrift „Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ versehenen § 1666 BGB lauten wie folgt:
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.
Bei einem Verfahren gem. § 1666 BGB handelt es sich um ein sogenanntes Amtsverfahren gem. § 24 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Das bedeutet, dass das Verfahren von Amts wegen eingeleitet wird und keines Antrags bedarf. Der Familienrichter kann also von sich aus ein solches Verfahren einleiten – und ist dazu sogar verpflichtet –, wenn ihm Umstände bekannt werden, die den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung begründen. Wenngleich das Verfahren von Amts wegen eingeleitet wird, können Dritte es doch anregen (§ 24 Abs. 1 FamFG). Dies ist in der Praxis fast immer der Fall und typischerweise erfolgt eine solche Anregung durch das Jugendamt, das Kenntnis von kindeswohlgefährdenden Verhältnissen in Familien hat. Vorliegend hatte die Mutter der beiden Kinder angeregt, ein Verfahren gem. § 1666 BGB einzuleiten.
3. Der Streit über die Zuständigkeit des Familiengerichts
Die Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft
Kurz nach Bekanntwerden des Beschlusses wurden mehrere Strafanzeigen gegen Christian Dettmar erstattet, und die Staatsanwaltschaft Erfurt leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung (Az. 542 Js 11498/21) ein. Begründet wurde dies gegenüber der Presse und Öffentlichkeit mit einem einzigen Vorwurf: Es bestehe der Anfangsverdacht, dass Richter Dettmar nicht zuständig und daher nicht befugt gewesen sei, eine solche Anordnung zu erlassen. Anstelle des Familiengerichts wäre das Verwaltungsgericht zuständig gewesen. Auch in dem Durchsuchungsbeschluss vom 22.04.2021, auf dessen Grundlage am 26.04.2021 die Wohnung und das Dienstzimmer von Richter Dettmar von Polizei und Staatsanwaltschaft durchsucht wurden, wurde der Tatverdacht ausschließlich mit dem Vorwurf begründet, dass das Amtsgericht nicht zuständig gewesen sei, weil es sich um eine verwaltungsrechtliche Angelegenheit handele, für die nach § 40 Abs. 1 VwGO ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sei. Zur Begründung wurde weiter angeführt, dass „Dritte“ im Sinne von § 1666 Abs. 4 BGB ausschließlich private Personen seien und nicht Träger öffentlicher Gewalt. Die gesetzliche Kontrolle des Verwaltungshandelns in den Schulen obliege allein den Verwaltungsgerichten.
Was die Staatsanwaltschaft hier als klare Sache darstellte, nämlich dass es sich um eine „verwaltungsrechtliche Angelegenheit“ (der richtige Terminus ist nach § 40 Abs. 1 VwGO „öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art“) handelte, war allerdings alles andere als klar. In der Folge befassten sich eine ganze Reihe von Gerichten mit dieser Frage, darunter das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Jena vom 14.05.2021
Von dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren blieb die Wirksamkeit des Beschlusses vom 08.04.2021 unberührt. Dass das am Verfahren beteiligte Thüringer Bildungsministerium ihn gerne so schnell wie möglich aufgehoben gesehen hätte, liegt auf der Hand. Entscheidungen in Verfahren auf einstweilige Anordnung in Familiensachen sind aber (mit Ausnahme von Entscheidungen über freiheitsentziehende Unterbringungen und unterbringungsähnliche Maßnahmen) gemäß § 57 FamFG nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar, wenn sie – wie hier – nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergangen sind.
Das Bildungsministerium des Freistaats Thüringen hätte daher zunächst gem. § 54 Abs. 2 FamFG Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellen müssen und erst gegen die aufgrund der dann durchgeführten mündlichen Verhandlung (im Fall von § 1666 BGB „Erörterung“ genannt) ergangene Entscheidung gem. § 57 S. 2 Nr. 1 FamFG Beschwerde einlegen können. Das Ministerium stellte aber keinen Antrag auf mündliche Verhandlung, sondern legte gegen den Beschluss direkt Beschwerde mit der Begründung ein, dass das Rechtsmittel sowohl als außerordentliche (d. h. gesetzlich nicht geregelte) als auch als sofortige Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 Gerichtverfassungsgesetz (GVG) zulässig sei.
Die Frage der außerordentlichen Beschwerde kann hier unerörtert bleiben, weil diese vom Oberlandesgericht Jena in seiner Entscheidung vom 14.05.2021 (1 UF 136/21, juris und openJur) als unzulässig zurückgewiesen wurde mit der Begründung, der Beschwerdeführer hätte Antrag auf mündliche Erörterung stellen können und dann eine Beschwerdemöglichkeit gehabt. Die Zulässigkeit der Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG hat das Oberlandesgericht aber bejaht, und an dieser Stelle wird es etwas kompliziert:
Am Abend des 08.04.2021 hatte das Ministerium einen Schriftsatz an das Amtsgericht Weimar gefaxt, in dem es u. a. die Zulässigkeit des Rechtsweges gerügt hatte, weil nicht die ordentliche Gerichtsbarkeit in Gestalt des Familiengerichts zuständig sei, sondern die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dieser Schriftsatz war allerdings verspätet. Richter Dettmar, der mit der Einleitung des Verfahrens das Bildungsministerium beteiligt und diesem auch einen umfangreichen Fragenkatalog übersandt hatte, hatte eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme gesetzt, die bereits am 06.04.2021 abgelaufen war.
Wenn eine Partei den Rechtsweg rügt, hat das Gericht vorab, d. h. vor einer Entscheidung in der Sache, über die Zulässigkeit des Rechtswegs zu entscheiden (§ 17a Abs. 2 S. 2 GVG). Gegen diese Entscheidung kann dann gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG sofortige Beschwerde eingelegt werden. Eine solche Vorabentscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs hat Richter Dettmar nicht getroffen. Laut Oberlandesgericht hätte er das aber tun müssen, weil ihm der Schriftsatz des Ministeriums vom 08.04.2022 noch vor dem Erlass des Beschlusses nach § 1666 BGB bekannt gewesen sei. Dass entgegen der Verpflichtung des Gerichts keine Vorabentscheidung ergangen sei, könne, so das Oberlandesgericht weiter, nicht zum Verlust der Beschwerdemöglichkeit führen, weshalb hier die sofortige Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG für das Ministerium eröffnet sei.
Die Beschwerde sei auch begründet, denn es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit gem. § 40 VwGO,13 weil die Anregung der Kindesmutter das Ziel verfolge, schulinterne Maßnahmen außer Kraft zu setzen und die Rechtmäßigkeit der diesen Anordnungen zugrundeliegenden Vorschriften zu überprüfen. Eine solche Regelungskompetenz sei dem Familiengericht durch § 1666 BGB aber nicht eröffnet.
Dritte im Sinne des § 1666 Abs. 4 BGB seien nicht Behörden, Regierungen und sonstige Träger staatlicher Gewalt. Allerdings komme eine Verweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht nicht in Betracht, weil ein von Amts wegen eingeleitetes Verfahren nicht dem Verwaltungsgericht aufgedrängt werden könne. Das Verfahren sei vielmehr einzustellen, was das Oberlandesgericht dann in seinem Beschluss auch tat.
Laut Oberlandesgericht ist somit zwar der Verwaltungsrechtsweg gegeben, eine Verweisung des Verfahrens an das Verwaltungsgericht aber nicht möglich. Das Verwaltungsgericht ist damit zuständig und zugleich unzuständig, jedenfalls nicht so zuständig, dass es sich damit befassen müsste. Dieser Widerspruch ist kein scheinbarer. Aufgelöst wurde er schließlich von den Verwaltungsgerichten, wie sogleich gezeigt werden wird. Für den Erfolg der Beschwerde war es allerdings notwendige Bedingung, dass das Oberlandesgericht das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit nach § 40 VwGO bejahte. Andernfalls hätte es die Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG zurückweisen müssen und der Beschluss des Amtsgerichts wäre weiterhin wirksam geblieben.
Bemerkenswerterweise hat das Oberlandesgericht die – nur bei Zulassung statthafte – Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof mit der Begründung zugelassen, die Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung (§ 17a Abs. 4 S. 5 GVG). Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Sache auch aus Sicht des Oberlandesgerichts keineswegs eindeutig klar war, denn dann wäre es unnötig, dass der Bundesgerichtshof sich noch dazu äußert. Bereits an dieser Stelle hätte die Staatsanwaltschaft ihren Rechtsbeugungsvorwurf mit dem Argument, nicht das Amtsgericht, sondern das Verwaltungsgericht sei zuständig gewesen, fallen lassen müssen. Denn wenn aus Sicht des Oberlandesgerichts eine Klärung der Rechtsfrage durch den Bundesgerichtshof wünschenswert erscheint, ist die entgegenstehende Auffassung jedenfalls nicht schlechthin unvertretbar und kann daher nicht Grundlage für den Vorwurf einer Rechtsbeugung sein.
Verwaltungsgericht Münster und Bundesverwaltungsgericht widersprechen dem Oberlandesgericht
Inzwischen waren auch bei anderen Amtsgerichten Anregungen auf Einleitung eines Verfahrens gem. § 1666 BGB wegen der Maskenpflicht in Schulen eingegangen, und manche Gerichte wollten sich dieser Sachen mit einer Verweisung der Verfahren an das Verwaltungsgericht entledigen. In zwei solcher Fälle entschied das Verwaltungsgericht Münster (26.05.2021, Az. 5 L 339/21, juris und openJur, 31.05.2021, Az. 5 L 344/21, juris und openJur), dass keine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts gegeben sei. Denn – so die der Argumentation des Oberlandesgerichts Jena diametral entgegengesetzte Begründung – den Anträgen der Eltern sei ausdrücklich zu entnehmen, dass ihr Rechtsschutzinteresse speziell auf ein familiengerichtliches Einschreiten gerichtet sei. Zwar nähmen sie auch Bezug auf in der Corona-Schutzverordnung geregelte Maßnahmen, insoweit beschränke sich das Begehren der Antragsteller jedoch auf eine inzidente Rechtmäßigkeitsprüfung. Den Rechtsstreitigkeiten lägen damit keine öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zugrunde, sondern von den Familiengerichten von Amts wegen zu betreibende Kindschaftssachen.
Das Verwaltungsgericht Münster legte die beiden Sachen dem Bundesverwaltungsgericht vor, um die Zuständigkeitsfrage zu klären, und das Bundesverwaltungsgericht bestätigte die Auffassung des Verwaltungsgerichts Münster mit derselben Begründung (BVerwG, 16.06.2021, 6 AV 1/21, 6 AV 2/21, juris und openJur; ebenso BVerwG 21.06.2021, 6 AV 4/21, juris und openJur). Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zu diesen Entscheidungen vom 25.06.2021 trug die Überschrift „Für die Entscheidung über Anordnungen gegenüber einer Schule gemäß § 1666 Abs. 1 und 4 BGB wegen dort geltender Corona-Schutzmaßnahmen verbleibt es bei der Zuständigkeit der Amtsgerichte/Familiengerichte.“
Der Widerspruch in der Entscheidung des Oberlandesgerichts hatte sich damit in Luft aufgelöst. Es handelt sich nicht um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit gemäß § 40 VwGO, schon allein deshalb, weil es keine „Streitigkeit“ i. S. v. § 40 VwGO gibt, zu der immer zwei Parteien gehören, hier aber die Kindesmutter nur eine Anregung gestellt hat, aufgrund derer das Gericht ein Verfahren gem. § 1666 BGB einleiten konnte oder nicht. Dass ein Amtsverfahren gem. § 1666 BGB nicht an das Verwaltungsgericht abgegeben werden kann, versteht sich von selbst.
Nicht nur kennt die Verwaltungsgerichtsordnung keine Amtsverfahren, ein Verfahren nach § 1666 BGB ist und bleibt ein Verfahren nach § 1666 BGB, für das ausschließlich die Familiengerichte zuständig sind. Welche Anordnungskompetenzen § 1666 BGB vermittelt und ob das Familiengericht auch Anordnungen gegenüber Trägern der öffentlichen Gewalt treffen darf, ist eine andere Frage, die nichts mit dem Rechtsweg zu tun hat. Ist eine Anordnung in einem solchen Verfahren rechtswidrig, weil sie vom Tatbestand des § 1666 BGB nicht gedeckt ist, wird damit aus dem Verfahren keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, es ist nur die Entscheidung unrichtig. Man muss sagen: Im Grunde ist das, was das Verwaltungsgericht Münster und das Bundesverwaltungsgericht dargelegt haben, eine juristische Selbstverständlichkeit.
Wer nun dachte, die Staatsanwaltschaft würde nach den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Münster und des Bundesverwaltungsgerichts den Vorwurf der Rechtsbeugung fallen lassen und das Ermittlungsverfahren einstellen, sah sich allerdings getäuscht. Stattdessen weitete die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe aus, wie sich aus dem Durchsuchungsbeschluss für die Hausdurchsuchung, die am 29.06.2021 bei Richter Dettmar (zum zweiten Mal) und bei weiteren Personen stattfand, ergab.
Der Bundesgerichtshof lässt den Widerspruch der Verwaltungsgerichte verschwinden
Was jetzt noch ausstand, war die Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Jena vom 14.05.2021. Sie erging am 03.11.2021 (XII ZB 289/21), nachdem der Bundesgerichtshof schon am 06.10.2021 in einem ähnlichen Fall entschieden hatte (XII ARZ 35/21). Die Entscheidung war verblüffend: Der BGH drehte das Rad, an dem das Bundesverwaltungsgericht gedreht hatte, zurück und bestätigte die Entscheidung des Oberlandesgerichts in vollem Umfang. Das Oberlandesgericht habe die Anregungsschreiben der Eltern „in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dahin ausgelegt, dass gegen die Schule gerichtete Unterlassungsverlangen durchgesetzt werden sollen. Über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden.“
Dass das Bundesverwaltungsgericht genau entgegengesetzt entschieden hatte, wurde vom Bundesgerichtshof dabei unterschlagen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2021 (6 AV 4/21) wird sogar wiederholt als Beleg für eigene Aussagen zitiert, dass das Bundesverwaltungsgericht aber die Auffassung vertreten hat, dass keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliege, wird verschwiegen.
Die Rezeption des Streits durch die Staatsanwaltschaft
Was hat die Staatsanwaltschaft Erfurt aus diesen Entscheidungen, die ihr nicht zuletzt deshalb bekannt waren, weil in Schriftsätzen der Verteidigung darauf hingewiesen wurde, gemacht? Sie blieb einfach dabei, dass das Verwaltungsgericht zuständig gewesen sei, weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handele. Richter Dettmar habe das als langjähriger Familienrichter auch gewusst. Dafür zitiert die Staatsanwaltschaft den Beschluss des BGH vom 06.10.2021, XII ARZ 35/21, und einen Absatz später als Beleg für diese Auffassung sogar fast wörtlich Sätze aus dem – dieser Auffassung widersprechenden! – Beschluss des BVerwG vom 16.06.2021. Während die Sätze beim BVerwG aber im Irrealis stehen, werden sie in der Anklage in den Indikativ transformiert. Dass das ein Versehen sein soll, kann man sich kaum vorstellen. Die Staatsanwaltschaft wollte offenbar ihren Ausgangsvorwurf nicht korrigieren, und deshalb hat sie ihn nicht korrigiert.
Nachtrag: Die inhaltliche Reichweite des § 1666 Abs. 4 BGB
An dieser Stelle ist noch etwas nachzutragen. Auch wenn man davon ausgeht, dass der Vorwurf, Richter Dettmar habe zu Unrecht seine Zuständigkeit bejaht, weil das Verwaltungsgericht in der Sache zuständig gewesen wäre, ins Leere läuft, könnte ein Rechtsfehler darin bestehen, dass er zu Unrecht die Anordnungen gegenüber Trägern von hoheitlicher Gewalt auf § 1666 Abs. 4 BGB gestützt hätte, während die Norm tatsächlich dem Familienrichter eine solche Kompetenz nicht vermittelt. Wie gezeigt, hat diese Frage mit der Frage nach dem Rechtsweg nichts zu tun, auch wenn beide Fragen vom Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof vermischt wurden. Entschieden werden muss die Frage an dieser Stelle auch nicht, denn ein Rechtsbeugungsvorwurf käme allenfalls dann in Betracht, wenn – wie die Staatsanwaltschaft behauptet – für jeden mit der Rechtsmaterie Befassten offensichtlich und unbestreitbar wäre, dass Behörden und andere Träger hoheitlicher Gewalt nicht Dritte im Sinne des § 1666 Abs. 4 BGB sind und deshalb Anordnungen ihnen gegenüber nicht auf diese Norm gestützt werden können.
Dem war jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses vom 08.04.2021 nicht so: Zunächst ist dem Wortlaut des § 1666 Abs. 4 BGB insoweit nichts zu entnehmen. Der Auffassung, Dritte i. S. v. § 1666 Abs. 4 BGB könnten auch Lehrer und Schulleiter von öffentlichen Schulen sein, stand auch kein allseits bekannter Konsens in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entgegen. Vor dem Beschluss vom 08.04.2021 war nicht einem einzigen Kommentar zum BGB explizit zu entnehmen, dass Träger von Hoheitsgewalt nicht Dritte i. S. v. § 1666 BGB sein könnten. Auch aus der Sache ergibt sich nicht ohne weiteres, warum eine Anordnungskompetenz gegeben sein soll, wenn etwa – theoretischer Fall – ein Arzt das Kindeswohl gefährdet, aber ihre Grenze finden soll, wenn der Handelnde Lehrer einer öffentlichen Schule ist.
Wenn dies so offensichtlich wäre, wie die Staatsanwaltschaft meint, müsste auch der 7. Strafkammer des Landgerichts Erfurt der Vorwurf rechtlicher Ahnungslosigkeit gemacht werden, die noch in einem Beschluss vom 09.06.2021 (7 Qs 131/21) die Frage, ob § 1666 Abs. 4 BGB das Familiengericht dazu berechtigt, Anordnungen gegenüber Behörden zu treffen, dahinstehen ließ, weil es sich – so die Begründung der Kammer – um eine Rechtsfrage handele, die nicht ohne Weiteres beantwortet werden könne, sondern einer genaueren juristischen Prüfung bedürfe.
Kurz: Die Auffassung, dass Träger hoheitlicher Gewalt Dritte im Sinne von § 1666 Abs. 4 BGB sein können, war nicht schlechthin unvertretbar, so dass daran kein Vorwurf eines elementaren Rechtsverstoßes geknüpft werden kann.
Teil 2 finden Sie hier.