Von Marcus Ermler.
Dass manchmal nur der Name Juliane Nagel ausreicht, um eine ganze politische Klasse in helle Aufregung zu versetzen, zeigt der Rumor rund um die Aussagen der gleichnamigen Leipziger Linkspartei-Politikerin zu den folgenschweren Vorfällen in der Silvesternacht in Leipzig recht eindrucksvoll auf. Juliane Nagel kommentierte die Geschehnisse auf Twitter zunächst mit den Worten:
„Uff. Cops raus aus #Connewitz gewinnt nach diesem Jahreswechsel ne neue Bedeutung. Ekelhafte Polizeigewalt, überrennen unbeteiligter, wirre Einsatzmanöver, kalkulierte Provokation.“ (Tweet vom 31. Dezember 2019)
„Anstatt die Polizei den Kiez einfach mal verlässt, läuft sie immer wiederbehelmt durch die Menge, rennt Menschen um und löscht Feuer. Sinnlos.“ (Tweet vom 31. Dezember 2019)
Woran entzündete sich jetzt genau die Kritik an Nagel? Wie ZEIT Online berichtete, wurde in der Silvesternacht im „linksalternativ geprägten Leipziger Stadtteil Connewitz“ ein Polizist, dem zuvor „der Helm vom Kopf gerissen worden“ war, so schwer verletzt, dass er nach der Attacke „demnach das Bewusstsein“ verlor und sogar „notoperiert“ werden musste.
Der dunkelrote Fleck in der schwarzen Politiklandschaft Sachsens
Daher warf laut Tagesspiegel beispielsweise der AfD-Innenpolitiker Martin Hess nunmehr Nagel vor, dass diese „die linke Gewalt auch noch“ mit ihren Worten rechtfertige. Der Landeschef von Sachsens Linken tadelte nach Bericht des MDR Nagels Tweets als „nicht klug“ und durchaus missverständlich. Rainer Wendt, der Chef der Deutsche Polizeigewerkschaft, ergänzte: „Es ist unfassbar, dass Politiker der Linkspartei es hier an Klarheit mangeln lassen“. Am 1. Januar 2020 führte Juliane Nagel ihre Kritik auf ihrer Homepage ausführlich aus und legte dar:
„Ein MDR-Journalist fragte mich heute, am 1.1.20, ob das die Gewalt rechtfertige. Und ich sage klar: Nein! Wenn mir Politiker*innen der CDU oder rechte Hetzer*innen jetzt vorwerfen, dass ich Gewalt gegen Polizei legitimieren würde, weise ich das klar zurück. Die habe ich an keiner Stelle. Ich beklage alle, die in der Silvesternacht verletzt wurden. Dass es nicht ‚nur‘ Polizeibeamt*innen getroffen hat, sondern auch unbeteiligte Zivilist*innen, vergessen aber die Meisten, die sich jetzt zu Wort melden.“
Die Äußerungen passen je nach eigener politischer Grundausrichtung in das Bild, welches man sich von Nagel imaginiert. Die taz umriss die politische Tätigkeit Nagels, die das einzige Direktmandat der Linkspartei für den sächsischen Landtag hält, im Juni des letzten Jahres recht passgenau und adäquat als „einen dunkelroten Fleck in der schwarzen Politiklandschaft Sachsens“, der geradezu als „rotes Tuch für Rechte“ wirke.
Chaos-Jule als Anführerin der Autonomen
Die sächsische CDU indessen sieht sie „als Anführerin der Autonomen“ und bezeichnet sie als „Chaos-Jule“, die die Leipziger Stadtteile Connewitz und Südvorstadt zur „Autonomenrepublik“ umstrukturieren wolle. Jedoch, so die taz weiter:
„Bislang ist der Umbau zur Autonomenrepublik nicht sonderlich weit vorangeschritten, allerdings gehört ziviler Ungehorsam, wie etwa Sitzblockaden, zu Nagels Politikstil. So versucht sie etwa die Märsche des Leipziger Pegida-Ablegers Legida zu verhindern. Und auch als Anfang Juli in Leipzig Hunderte Menschen die Abschiebung eines kurdischen Syrers verhindert wollten und die Polizei mit Gewalt gegen sie vorging, war Nagel vor Ort.“
Wenn sich Politiker der radikalen Rechten an Nagel abarbeiten, ist das jedoch nicht ohne Ironie. So verkörpert Nagel genau jenen Typus von Politiker, den sich manch nationaldemokratisch wie völkisch Gesinnter insgeheim doch so sehr wünscht: Sie sieht sich nämlich exakt ihrer linken Wählerklientel aus Connewitz verpflichtet und handelt beziehungsweise äußert sich so in deren Sinne. Der Inbegriff der „Bürgernähe“, Nagel als Verfechterin für direkte Demokratie, Basisdemokratie sowie Mitbestimmung des Volkes, befreit von der schädlichen Einflussnahme der Partei. Das entspricht ironischerweise auch dem feuchten Traum eines jeden „konservativen Revolutionärs“ von der „Anteilnahme des Volks an seinem Schicksal“.
Was allerdings bei all den Betrachtungen ob Nagels Engagement für die linksalternative Connewitzer Szene medial meist keinerlei Beachtung findet, ist ihre in vielerlei Hinsicht doch recht konträre Stellung in der Linkspartei in Bezug auf Israelsolidarität und Kritik an Venezuela, dem Lieblingskind deutscher Sozialismusverklärer.
„Venezuela keine Projektionsfläche für einen demokratischen Sozialismus“
Die Linkspartei selbst hat zu beiden Themen eine recht eindeutige Meinung: Sie ist gemeinhin BDS-Freundin und Israelhasserin sowie rührseligste Unterstützerin von Maduros kleptokratischem Terrorregime. So weigerten sich beispielsweise die beiden exponierten Linkspartei-Politikerinnen Sahra Wagenknecht und Christine Buchholz demonstrativ, nach der Rede des damaligen israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres zum 65. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Bundestag aufzustehen, obwohl es parlamentarischer Brauch ist.
Der Linken-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko hingegen trifft sich auch gerne einmal mit dem venezolanischen Staatschef Nicolás Maduro und wirft den USA, der EU wie der Bundesregierung vor eine „verbrecherische“ Politik zu betreiben, die „das Leid der Menschen in Venezuela ins Unermessliche steigern und zahllose Tote zu verantworten habe“. Seine Kollegin Heike Hänsel fügt hinzu, dass die USA und die EU eine „Politik des Regime Change und der Destabilisierung“ ausübten.
Nagels Worte klingen da ganz anders. So spricht sie bezüglich Venezuela von einer „desaströse[n] menschenrechtliche[n] Lage und Armut“. Mehr noch sei die „innenpolitische Lage in Venezuela […] verheerend“ sowie die „Versorgungslage im Land […] desaströs“. Und weiter:
„Seit 2013 regiert Nicolas Maduro als Nachfolger des verstorbenen Hugo Chavez. Maduro ist es nicht gelungen den von Chavez begonnenen Weg der Armutsbekämpfung samt vorsichtiger Gewährung politischer Freiheit fortzuführen. Er hat im Gegenteil ein System der Abhängigkeit und Korruption installiert und versucht seine Macht antidemokratisch und gewaltsam zu erhalten. Die Versorgungslage im Land ist desaströs, zahlreiche Menschen leiden unter Mangel- und Unter- nährung, die Stromversorgung ist prekär, von staatlichen Hilfsprogrammen profitieren vor allem Regierungstreue.“
So kommt Nagel zu dem Schluss, dass Venezuela sich in keiner Weise „mehr als Projektionsfläche für einen demokratischen Sozialismus [sic!]“ eigne.
„Israel bleibt als Konsequenz aus der Shoa in hohem Maße bedroht“
Auch in Bezug auf Antisemitismus und Israelsolidarität sind ihre Worte von vergleichbarer Deutlichkeit. So fungiere„Antisemitismus auch heute als [linke] Projektionsfläche für falsche Kapitalismuskritik und Unwohlsein mit der bürgerlichen Gesellschaft“ und „Israel [bleibt] als Konsequenz aus der Shoa in hohem Maße bedroht, ob durch Sprengstoffgürtelträger*innen oder die internationale Politik“. Und an anderer Stelle, insbesondere im Hinblick auf die BDS-Bewegung und ihr sich anbiedernde Künstler, ergänzend:
„Antisemitismus und Antizionismus sind politische Ideologien und dürfen nicht durch ein künstlerisches Medium salonfähig gemacht werden. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, doch wir erwarten gerade von Kulturschaffenden einen reflektierten Umgang mit politischen Sachverhalten und eine bewusste Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und ihren Konsequenzen. Und dies insbesondere im Hinblick auf den nahenden 80. Gedenktag an die Reichspogromnacht.“
Sicher: Man kann Juliane Nagel für Aussagen wie „Eine emanzipatorische Gesellschaft geht nur ohne Polizei“ kritisieren. Das sind weltfremde Statements, die wie Verlautbarungen aus einem anarchistischen Paralleluniversum klingen. Man sollte dann aber auch nicht ihr Engagement gegen Antisemitismus, ihre Israelsolidarität und ihre Verachtung von Maduros räuberisch-verbrecherischem Regime außen vor lassen. Erkenntnisse, die wie die letzten Einsprengsel von Restvernunft in der sonst dezidiert israelfeindlich irrlichternden beziehungsweise Maduro bis zum letzten Blutstropfen verteidigenden Linkspartei klingen.