Die walisische Regierung findet es fragwürdig, Denkmäler vor allem „mächtigen, älteren Männern ohne körperliche Beeinträchtigungen“ zu widmen, eine afrodeutsche Studienrätin ließ sich wegen eines Buches mit N-Wort beurlauben und eine in der Schweiz lebende Kenianerin lernte das Jodeln.
In Wales finden sich Statuen historischer Persönlichkeiten, wie des bedeutenden Admirals Lord Nelson, oder des Duke of Wellington. Wie lange noch? Die walisische Regierung hat diesen Monat Empfehlungen zur Erinnerungskultur veröffentlicht, in denen sie sich für „größere Diversität“ ausspricht und in Zweifel zieht, dass die Gesellschaft ausgerechnet die Leistungen von „mächtigen, älteren Männern ohne körperliche Beeinträchtigungen“ würdigen sollte. Die teils sogar imperialistische „Aggressoren“ gewesen seien, was heute Anstoß errege.
Schon 2021 hatte man in Wales – als Reaktion auf eine im Zuge von Black Lives Matter erfolgte Entfernung einer Statue im Cardiffer Rathaus – offiziell über 200 Denkmäler und Straßennamen identifiziert, die angeblich Beteiligte des Sklavenhandels beziehungsweise des Kolonialismus glorifizieren. Nun wird spekuliert, dass diverse Statuen vernichtet oder jedenfalls verhüllt werden könnten. Joanna Williams spricht in Spiked von einem „Kulturvandalismus“, der „nicht nur Verachtung für Vergangenheit, sondern auch für Menschen der Gegenwart“ zum Ausdruck bringe. Denn die bräuchten keine regierungsamtliche Betreuung beim Anblick 200 Jahre alter Statuen.
Eine Lehrerin sieht schwarz
Wolfgang Koeppens bedeutender Roman Tauben im Gras von 1951 spielt im Westdeutschland der späten 1940er Jahre, er thematisiert nicht zuletzt Rassismus gegenüber schwarzen US-Besatzungssoldaten. In Baden-Württemberg steht er dieses Jahr auf dem Lehrplan für berufliche Gymnasien. Daher müsste ihn auch Jasmin Blunt durchnehmen, die an der Robert-Bosch-Schule in Ulm, einer Berufsschule, Englisch und Deutsch unterrichtet. Studienrätin Blunt ist dunkel-, insbesondere aber dünnhäutig. So stört sie sich daran, dass oft – nach ihrer Zählung rund hundert Mal – das Wort „Neger“ im Buch auftaucht. Wie im damaligen Sprachgebrauch üblich und ganz ohne Trigger-Warnung oder Anmerkungen dazu. Die Zeit der Lektüre sei „‚einer der schlimmsten Tage‘ ihres Lebens gewesen“, zitiert der SWR die Lehrerin.
Eine Ulmer Initiative hat eine Petition auf den Weg gebracht, damit der „Unterricht zu einem sicheren und rassismusfreien Ort für alle“ werde. So geht das natürlich auch: Wenn man ein Buch, das sich mit Rassismus auseinandersetzt, nicht behandelt, bleiben Schulstunden gewissermaßen frei von Rassismus. Die woke Behauptung, „dass betroffene Bürger*innen durch die Sprache des Romans emotionale Gewalt erleben und ihre Menschenwürde verletzt wird“, unterzeichneten diverse Professoren wie Micha Brumlik und Jürgen Zimmerer (der nur mit Mühe toleriert, wenn Saupreißn bayerische Tracht tragen) oder etwa die Sängerin Nadja Benaissa. Und Schriftsteller Koeppen war, wie Kritiker anmerken, zu allem Überfluss auch noch männlich und weiß.
Allgemein geht der Leipziger Privatdozent Javier Álvarez-Vázquez – der in dieser Kolumne schon mal als Cancel-Betroffener zur Sprache kam – davon aus, „dass ein unerwünschtes Wort nie Ursache, sondern höchstens nur Auslöser von Gefühlen sein kann.“ (H.i.O.) In der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg, die er wiedergibt, gelte: „Gefühle wie zum Beispiel verletzt […] sein, […] wurzeln in tiefgründigen erfüllten oder unerfüllten Bedürfnissen.“ Welche das bei der Lehrkraft Blunt sein mögen, muss hier offen bleiben. Konsequenterweise hat sie sich für das ganze kommende Schuljahr unbezahlt von ihrer Beamtentätigkeit beurlauben lassen, um Trauben im Gras nicht mit ihren Schülern besprechen zu müssen. Wir sehen: Dort wo man Bücher canceln will, cancelt man manchmal auch sich selbst.
Jazz geht’s mit dem Jodeln los
Im Koeppens Roman fällt der Begriff „Negermusik“ für Jazz. Dass bestimmte Musikstile Schwarzen vorbehalten sein sollten, sah auch Yvonne Apiyo Brändle-Amolo so, eine in der Schweiz lebende Kenianerin. Sie „findet es auch ‚problematisch, wenn Weiße Blues und Jazz‘ spielen“, zitierte sie das St. Galler Tagblatt 2017, als man im deutschen Sprachraum anfing, sich über „kulturelle Aneignung“ zu ereifern. Inzwischen ist Brändle-Amolo, Ehegattin eines Schweizers und bei den eidgenössischen Sozialdemokraten engagiert, bei dieser Thematik einen Schritt weiter. Sie tritt heute als „Volkssängerin“ auf und hat „jodeln gelernt, um den Draht zu den Schweizerinnen und Schweizern zu finden“. Im Rahmen dieser Wandlung gibt sie sich nunmehr versöhnlich gegenüber weißen Jazzmusikern; diese müssten „nur anerkennen und wertschätzen, woher diese Musik kommt“. Und der beste Jodler kommt sowieso von ganz woanders her.
Vorlesungen übers Canceln
Ob die Entlassung der Professorin Ulrike Guérot vor der Arbeitsgerichtsbarkeit Bestand hat, stand zum Redaktionsschluss dieser Kolumnenfolge noch nicht fest. Unabhängig davon macht man sich an der Uni Bonn bereits an die „Aufarbeitung“ des Falls. Genauer gesagt, zwei Professoren, die sich im Ruhestand befinden und denen deshalb weniger Ungemach droht. Konrad Schüttauf, Honorarprofessor für Philosophie und pensionierter Richter, sowie der Mathematik-Emeritus Matthias Kreck organisieren eine Ringvorlesung unter dem Titel „Plagiat?, Politik?, Wissenschaftsfreiheit? – zur Entlassung der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot“.
Diese findet im nächsten Semester und in einem edlen Hörsaal statt. Die Titel der geplanten Vorträge – gegen die mutmaßlich irgendwelche Studenten protestieren werden – lauten zum Beispiel „Die verlorene Ehre der ‚Professorin G.'“ und „Von everybody’s darling zur Geächteten“. Schüttauf will zur Meinungsfreiheit sprechen, der andere Veranstalter Kreck, „einer der angesehensten Mathematiker Deutschlands“ (Berliner Zeitung) zu mathematischen Corona-Modellen, an deren Mainstream-Varianten er schon 2021 öffentlich Kritik geübt hatte. Kreck vertritt die Auffassung, dass die Plagiatsvorwürfe an Guérots Adresse ungerechtfertigt seien. Sein Vater Walter wurde übrigens seinerzeit mit einem „Reichsredeverbot“ belegt, und dessen Doktorvater, der renommierte evangelische Theologieprofessor Karl Barth, verlor seine Stelle an besagter Universität Bonn im Jahr 1935, weil er keinen Amtseid auf den Führer geleistet hatte.
„Der MENSCH Ulrike Guérot ist in der Realität nicht die dämonische Figur, als die sie hingestellt worden ist“, behauptet ein aktuell erschienenes Buch, das ein Gespräch mit der rothaarigen Wissenschaftlerin wiedergibt. Interviews mit Guérot finden Sie außerdem auf dem YouTube-Kanal von Achgut-Redakteurin Ulrike Stockmann (hier und hier).
Polit-Porno bei Twitter
Vor anderthalb Jahren wurde ein deutscher Twitterer für die Parole „Get woke, go broke“ („werd‘ woke, geh‘ pleite“) noch zeitweise gesperrt. Ganz so hart hat es den Briten David Atherton nicht erwischt. Er hatte kürzlich zur Insolvenz der Silicon Valley Bank getweeted, dass die Chefin des Risikomanagements offenbar mehr Interesse an Queer-Paraden und „lesbischer Sichtbarkeit“ hatte als an ihrer eigentlichen Aufgabe, und schloss dies mit genanntem Slogan ab. Den Tweet mit für seine Verhältnisse überdurchschnittlichen Like-Zahlen kann man eingebettet in einen Artikel bei Tichys Einblick lesen. Sonst bei Twitter nicht, ohne eingeloggt zu sein, denn er gilt als „nicht jugendfreier Inhalt mit Altersbeschränkung“.
Diese Beschränkung findet sich haufenweise bei Atherton, als unterhalte er auf der Plattform eine Pornopräsenz. Tatsächlich twittert der Libertäre nur kritisch zu Themen wie Immigrantenkriminalität und Corona. Nun beschwert sich Atherton, dass Twitter seinen Account „gedrosselt“ habe, er erreiche 80 Prozent weniger Leser. Daher ruft er dazu auf, seinen Zweitaccount zu besuchen – mit weniger Followern, aber wiederum sehr vielen „nicht jugendfreien“ Posts. Es besteht also weiterhin „weiche“ Zensur auf der Plattform. Wenn das der Musk wüsste!
Baronin muss draußen bleiben
Während sich Atherton als libertärer Anhänger von Markt und Meinungsfreiheit präsentiert, weicht bei seiner Landsfrau Baronin Claire Fox die Fremdwahrnehmung („rechts“) von der Selbstwahrnehmung („Bolschewistin“) ab. Fox, Chefin des Institute of Ideas und bis zur Abschüttelung des Brüsseler Jochs für die Brexit-Partei kurz im Europaparlament (Achgut interviewte sie), wurde vor wenigen Jahren geadelt und ins britische Oberhaus aufgenommen.
Nicht sprechen darf sie jetzt am Royal Holloway (RHUL), einem College der Universität London. Ein Debattierclub der Hochschule hatte die Gegnerin der Cancel Culture eingeladen, um über die Bedeutung von Diskussion zu reden. Die Woken wollen aber gerade keine Diskussion mit ihnen nicht Genehmen. Und so cancelte die einladende Vereinigung jetzt auf heftigen Druck des AStAs (der Student Union) Fox‘ Teilnahme. Als Grund wurde genannt, dass sie einen Ausschnitt aus einem Auftritt des Komikers Ricky Gervais zustimmend retweetet hatte. Gervais hatte sich darin über „altmodische“ Frauen (mit Gebärmüttern) und „neue“ (mit „Bärten und Schwänzen“) ausgelassen.
Damit verbreite sie „Hass gegenüber Transmenschen“, wie AStA-Chefin Maia Jarvis schreibt. Sechs weitere Studentenvereinigungen hätten ebenfalls Bedenken wegen „Transphobie“ angemeldet. Fox bestreitet, „dass meine genderkritischen Ansichten sich in irgendeiner Form gegen Transmenschen richten“. Das Verhalten des AStA, das zur Absage der Veranstaltung geführt hat, war aus ihrer Sicht schikanös. Fox erläuterte den Fall jüngst in einer Rede im House of Lords, das sich derzeit mit Gesetzgebung beschäftigt, die die Meinungsfreiheit an Hochschulen wiederherstellen soll.
Und der Minister, der hat Zähne …
Im Hohen Haus Deutschlands wiederum hielt der AfD-Abgeordnete Martin Sichert Ende letzter Woche eine Rede, in der er sich kritisch mit der Beimischung von Insekten in Nahrungsmitteln auseinandersetzte. „Eine übergewichtige Ricarda Lang“, führte er weiter aus, „und ein Karl Lauterbach, der selbst sagt, dass seine braunen Gammelzähne vom Schokoladengenuss herrühren, warnen Kinder vor Süßigkeiten“. Das seien „Beleidigungen“, befand Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz. Die SPD-Politikerin – derzufolge es keine „spezifisch deutsche Kultur“ gebe – erteilte Sichert daraufhin einen Ordnungsruf. Zur Grünen-Bundesvorsitzenden habe ich mich übrigens bereits lang und breit geäußert.
Wieder da
Mal etwas Positives weiß der kritische Journalist Boris Reitschuster in eigener Sache zu berichten: LinkedIn hat seinen Account nach über einem Jahr wieder freigeschaltet. Vor der Sperrung hatte das zu Microsoft gehörende Networking-Medium mehrfach Posts Reitschusters bemängelt. „Die Nachrichten, für die ich damals gesperrt worden war, sind heute längst allgemeiner Wissensstand.“ Gerade in Sachen Corona darf man mittlerweile manches wieder äußern, wofür einem verschiedene soziale Medien in den letzten Jahren noch die Hölle heiß gemacht haben.
Antifa USA
Bei einem Auftritt des konservativen Aktivisten Charlie Kirk kam es zu Gewalttätigkeiten. Die Veranstaltung fand Mitte des Monats an der Universität in Davis, die zum kalifornischen Landesuniversitätssystem gehört, statt. Berichten zufolge haben einige Gegendemonstranten Pfefferspray benutzt, um mögliche Teilnehmer am Betreten des Gebäudes zu hindern. Eine Beobachterin spricht von „Antifa und Linksextremen“ – deren Vorgehen hier im Video zu sehen ist. Mit Hilfe von Sicherheitskräften konnte die Veranstaltung durchgeführt werden, obwohl die Vermummten sogar versucht hatten, gewaltsam in die Räumlichkeiten einzudringen.
Charlie Kirk ist Gründer und Frontmann der Organisation Turning Point USA. Eine Veranstaltung der Gruppe an der Universität Pittsburgh, die für kommenden Montag angekündigt ist, soll nach dem Willen von über 10.000 Online-Petenten und zweier Landesparlamentarier der Demokraten aus Pennsylvania ausfallen. Den das Event sei „transphob“, weil dort eine Schwimmerin ausführen soll, wie unfair sich die Beteiligung von sich als weiblich „identifizierenden“ Männern im Frauensport auswirkt.
Drag or drop
Drag-Shows sind an sich noch keine Transsexualität, ihre zunehmende Verbreitung an Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, insbesondere in den USA, ruft jedoch Kritik hervor. Walter Wendler, Präsident der West Texas A&M University hat jetzt eine auf dem Campus verboten. Er beruft sich dabei auf Naturrecht. Die Bürgerrechtsorganisation FIRE hingegen auf das Verfassungsrecht und texanische Gesetzgebung, denen zufolge eine solche Zensur nicht gestattet sei.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Webseite auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de