In den USA wird der Dilbert-Cartoonist Scott Adams gecancelt, Ulrike Guérot wird von der Bonner Uni entlassen und Ian Flemings James-Bond-Bücher fallen Sensibilitätslesern in die Hände.
Nicht zum ersten Mal begegnet uns Ulrike Guérot als Ausgestoßene. An der Uni Bonn, die sich schon von der Position der Politologin zum Ukrainekrieg öffentlich distanziert hat, soll sie jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren. An der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn müsste man vollständig sagen, denn die hat sich im Gegensatz zur Münsteraner bisher nicht umbenannt. Das Rektorat hat gegen die Professorin für Europapolitik „arbeitsrechtliche Schritte eingeleitet“, teilte es Ende letzter Woche mit. Nach eigener Aussage wurde der Hochschullehrerin im Angestelltenverhältnis mit Ablauf dieses Monats gekündigt. Nach nur drei Semestern müsste Guérot also die Uni, an der sie einst studiert hatte, wieder verlassen. Sie klage dagegen.
Anlass und Grund für den Rausschmiss-Versuch unterscheiden sich. Ursächlich ist prominentes Abweichlertum in Sachen Corona und Krieg. Das erkennen auch Twitter-Kommentatoren an, die den Rauswurf begrüßen würden, indem sie z.B. Parallelen zur strafrechtlichen Verfolgung Al Capones ziehen. Dem Chicagoer Unternehmer brach bekanntlich der Umweg übers Steuerrecht das sprichwörtliche Genick. „Die nicht mehr gewollten [sic!] attackiert man mit der Reisekostenabrechnung“, spottet ein (grüner!) Guérot-Unterstützer. Nicht ganz. Vielmehr geht es um Plagiate. Die Uni-Gremien sehen diesen Vorwurf für eine Publikation nach dem Antritt ihrer Stelle „im September 2021 und [bei] einer früheren Veröffentlichung, die für die Berufung von Relevanz war – als erwiesen an“.
Plagiate und Beamte
Guérot zufolge handelt sich um keine wissenschaftliche Publikation, sondern um ein Publikumsbuch von 2016 – also Warum Europa eine Republik werden muss! Bei entsprechenden Vorwürfen in der Vergangenheit verwies Guérot auf „Flüchtigkeitsfehler, dem großen Zeitdruck vor der Abgabe des jeweiligen Manuskripts geschuldet“, wie die NZZ schreibt. Gewiss ist „der Vorwurf des Plagiats […] ein fadenscheiniger Vorwand“ wie ein anderes Schweizer Medium, die Weltwoche, urteilt. Das Vorgehen der Wissenschaftlerin aber als „kleine Nachlässigkeiten wie fehlende Anführungszeichen“ abzutun, wird der Sache nicht gerecht. Sie bietet mit ungekennzeichneten oder sogar erfunden Zitaten in einigen Werken schlicht zu viel Angriffsfläche.
Wie das aber arbeitsgerichtlich in Bezug auf die Professorentätigkeit gewertet werden sollte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Guérot ist keine Lehrbeauftragte auf Honorarbasis, die man relativ einfach loswird. Allerdings auch keine Beamtin, sonst müsste der Dienstherr, wie es Alexander Kissler einschätzt, wegen seiner „besonderen Fürsorgepflicht bei Vorwürfen außerhalb des strafrechtlich relevanten Bereichs [sich] schützend vor Guérot stellen.“ Na, das wäre ein Spaß gewesen. Vielleicht gilt am Ende, was die Aktivistin Aya Velázquez befürchtet: „In Deutschland dürfen eben nur Hauptstadt-Bürgermeisterinnen und Außenministerinnen plagiieren.“
Schwarz-Weiß-Denken
Die beliebten Dilbert-Comics, die seit Jahrzehnten in vielen Medien erscheinen, fliegen nun fast überall raus – zumindest in den USA. Schöpfer Scott Adams hat sich nämlich, wie es heißt, in einem Livestream auf seinem YouTube-Kanal „rassistisch“ geäußert. Tatsächlich bezog sich Adams letzte Woche Mittwoch auf eine Umfrage in den USA, nach der fast die Hälfte der befragten Schwarzen dem Statement „Es ist in Ordnung, weiß zu sein“ nicht zustimmte. Das mache, so der Satiriker, diese Schwarzer zu einer „Hassgruppe“, von der sich weiße Amerikaner fernhalten sollen. „Es hat keinen Sinn, wenn man Weißer ist, schwarzen Amerikanern zu helfen“, dann man werde doch nur als Rassist gebrandmarkt. Er werde daher schwarzen Mitbürgern nicht mehr helfen. Außerdem nerve ihn, ständig in Videos auf Social Media zu sehen, „wie schwarze Amerikaner nicht-schwarze Bürger zusammenschlagen“.
Hintergrund dieser absichtlichen Provokation war, wie er einem schwarzen Interviewer erzählt, seine Kritik daran, wie Menschen (z.B. von Weißen in den Medien) „gehirngewaschen“ werden, Weiße als pauschal als Problem zu betrachten. Es gehe ihm darum, den Diskursraum zu erweitern. Nun halten einige ihn für eine Art Ku-Klux-Klan-Mitglied, hunderte US-Zeitungen werden Dilbert nicht mehr bringen, sein Vertrieb, sein (zu Bertelsmann gehörender) Verlag, sein Agent sind allesamt abgesprungen. Ein Redakteur einer Zeitung, die sich von den Cartoons verabschiedet, zitierte ein paar der inkriminierten Äußerungen wörtlich, um nach eigener Aussage so dem Eindruck entgegenzuwirken, dass hier eine „‚Cancel-Culture‘-Entscheidung“ vorgelegen habe…
Adams: „Mir ist klar geworden, dass der Preis für Redefreiheit sehr hoch ist. Und nur wenige sind bereit, ihn zu zahlen. Also habe ich mich entschlossen, ihn zu zahlen.“ Mit 65 dürfte Adams, der in der Vergangenheit bereits durch Trump-Sympathien und Kritik an der Corona-Spritze angeeckt war, seine Schäfchen im Trockenen haben, einen jüngeren bzw. weniger begüterten Kollegen hätte das härter getroffen. Außerdem ist ihm ein noch weit Wohlhabenderer beigesprungen: Elon Musk findet, dass die US-Medien und Elite-Bildungseinrichtungen inzwischen „rassistisch gegen Weiße und Asiaten“ agieren.
God save the Queen Consort
Positiveres gibt es zu berichten im der Fall der Roald-Dahl-Kinderbücher, von denen hier letzte Woche die Rede war. Nach einer Welle der Empörung über die woken Neufassungen hat der (zu Bertelsmann gehörende) Verlag eine, sagen wir, 90-Grad-Wende vollzogen. Er gibt weiter die ursprünglichen Buchfassungen heraus, zugleich aber die von „Sensibilitätsgurus“ verunstalteten. Bei einem Sturm der Entrüstung ziehen Cancel-Verantwortliche oftmals den Schwanz ein. In diesem Fall kam der Gegenwind von zahlreichen Mainstream-Medien, einer Umfragemehrheit der Bevölkerung, dem Premierminister und sogar von der Königin. Camilla hatte bei einer Rede vor Schriftstellern diesen empfohlen: „Bleiben Sie Ihrer Berufung treu, ungeachtet derjenigen, die vielleicht Ihre Äußerungsfreiheit einschränken oder Ihrer Vorstellungskraft Grenzen setzen wollen.“
Lizenz zum Woken
Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Denn, wie mit George Orwell ein anderer Brite in 1984 vorhersah: „Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder verfälscht, jedes Buch überholt, jedes Bild übermalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieses Verfahren geht von Tag zu Tag und von Minute zu Minute weiter.“ Und so trifft es den tiefbritischen Geheimagenten Ihrer (neuerdings: Seiner) Majestät, James Bond höchstpersönlich. Zum 70. Geburtstag von Ian Flemings Buchreihe wurden auch diese Schriften von Sensibilitätslesern unter die Lupe genommen.
Vor allem Äußerungen über Schwarze wurden getilgt, was primär den Roman Leben und Sterben lassen betrifft. Der Autor selbst hatte noch vor seinem Ableben 1964 einem amerikanischen Verlag die Genehmigung erteilt, „Neger“ durch „Schwarze“ zu ersetzen. Heute sollen aber viele Beschreibungen über die Ethnie von Personen gleich gänzlich entfallen. Ein (schwarzes) „Publikum“ darf auch nicht mehr „keuchen und grunzen wie die Schweine am Trog“, sondern wird nun unauffällig beschrieben. Dass Koreaner „in der Hierarchie der Säugetiere unter Affen“ stehen, darf aber bleiben – genau wie Homosexualität an einer Stelle weiter als „Behinderung“ bezeichnet wird.
Die Diskussion darüber scheint der familieneigene Fleming-Verlag (diesmal kein Bertelsmann) offenbar für verkaufsfördernd zu halten, denn man könne die Bücher ja erwerben, um zu schauen, ob einem die Änderungen gefallen. Hilfreicher dürfte der Rat eines Twitterers sein: „Kaufen Sie gedruckte Exemplare jedes Buches, das Sie noch lesen wollen. Und zwar jetzt!“
Rechtsextrem durch Shakespeare
Dass ich eben Orwell zitiert habe, würde mich in den Augen der Regierung Seiner Majestät allerdings verdächtig machen. Kürzlich brachte eine offizielle Untersuchung ans Licht, dass das Antiterrorprogramm Prevent des britischen Staates doppelmoralisch mit Islamismus einerseits und Rechtsextremismus andererseits umgeht. Sie werden kaum vor Überraschung vom Stuhl fallen, wenn ich Ihnen verrate, dass islamistische Ideologie „fehlinterpretiert, missverstanden oder sogar übersehen“ wurde, während man rechten Extremismus so breit wie ein Scheunentor definierte und sogar Jacob Rees-Mogg, ein Spitzenpolitiker der Konservativen Partei, als radikalisierender Einfluss galt.
In diesem Zusammenhang kam eine Analyse von 2019 ans Licht, in der eine Prevent-Organisationseinheit diverse solcher gefährlichen Einflüsse auflistete. Offenbar wird man durch Lektüre der großen Philosophen Hobbes, Locke, Burke und Smith rechtsextrem. Den gleichen Effekt erzielen fiktionale Werke wie Herr der Ringe, die Canterbury Tales aus dem 14. Jahrhundert, das Gesamtwerk Shakespeares – und eben auch 1984. Gewiss könnten diese Bücher radikalisieren, findet Klaus-Rüdiger Mai, denn sie „machen aus einem Bürger keinen Untertan, im Gegenteil, sie fordern […] ihn auf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und selbst zu denken.“ Da klingeln bei „der britischen Stasi“ (Peter Hitchens) die Alarmglocken – und nicht nur dort.
Werbung unerwünscht
Apropos Bücher: Die große Energiekrise und wie wir sie bewältigen können heißt das neue, frisch erschienene Buch von Achgut-Gastautor Fritz Vahrenholt. Vorgestern hat er es auf einer Veranstaltung der Volkshochschule des Landkreises Meißen in Radebeul vorgestellt. Die Veranstaltung war auch auf Facebook angekündigt. Weitergehende Werbemaßnahmen auf der Plattform habe der Konzern allerdings „nicht genehmigt“, wie die VHS Vahrenholt mitteilte. Der frühere Hamburger Senator, Professor und – laut Wikipedia-Stempel – „Klimawandelleugner“ musste 2019 seine Arbeit bei der Deutschen Wildtier Stiftung wegen einschlägiger Kontroversen beenden.
Gesegnete Transklos
Wie wird man als Baptist an einer katholischen Schule zum Märtyrer? An der St. Joseph’s Catholic High School in einem Ort in der kanadischen Provinz Ontario reicht es wohl schon, an die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen zu glauben. Der 16-jährige Josh Alexander bekam Ärger, als er das im Unterricht so formulierte – weil offenbar „Transgender“-Mitschüler anwesend waren. Außerdem kritisierte er die Nutzung von Mädchentoiletten durch Jungs, die sich als etwas anderes identifizieren – nach eigener Aussage auf die Beschwerden von Mitschülerinnen hin. Als eine von ihm mitorganisierte Kundgebung gegen die woke Klopolitik angekündigt war, erhielt Alexander vergangenen November einen temporären Schulverweis. Und nachdem er diesen Monat, nach Beginn des neuen Schulhalbjahres, versuchte, endlich wieder zur Schule zu gehen, wurde er wegen Hausfriedensbruchs verhaftetund darf die Bildungsanstalt bis Ende des Schuljahres nicht mehr betreten.
Die Demo fand übrigens vor der Schule statt; dabei bezeichneten woke Gegendemonstranten die Gruppe um Josh Alexander als „Terrororganisation“, wie die Catholic News Agency berichtet. Der katholische Schulträger kann daran nichts Schlimmes finden: Sogenannte Transfrauen sollen gerne auf die Frauentoilette dürfen und Schüler wie Josh Alexander schüfen durch ihr Verhalten einen „unsafe space“, den man nicht toleriere. Macht Männerbesuch dann ein Frauenklo erst zum „safe space“?
New York Trans
Wo wir schon dabei sind: Zwei Offene Briefe bezichtigen die alteingesessene New York Times, das Thema Transsexualität nicht woke genug zu behandeln. Einen davon haben über 1.000 Autoren der Zeitung unterzeichnet. Das Presseorgan müsse seine Berichterstattung ändern. Einerseits dürfe man „Transkinder“ nicht als krank darstellen, andererseits müsse man sich Gesetzentwürfen in verschiedenen Bundesstaaten entgegenstellen, die ihnen die medizinische Behandlung auf Staatskosten verweigern. Einerseits sei man gegen „Pseudowissenschaft“, andererseits befänden sich unter den Unterzeichnern auch „Non-Binäre“.
Die New York Times würde „Rechtsaußen-Hassgruppen“ folgen und sich mit der Verfolgung von Menschen, die Bekleidung des anderen Geschlechts anziehen, im 19. Jahrhundert gemein machen; vorwurfsvoll wird sogar ein englischer Fall von 1394 angebracht – fast ein halbes Jahrtausend vor Gründung der Zeitung. Ironischerweise wirft man ihr einen früheren Umgang mit Themen wie Homosexualität und AIDS vor, wie er vor vielen Jahrzehnten fraglos zeitgeistgeprägt war. Dem Zeitgeist zu folgen, würde heute in den USA aber gerade bedeuten, der woken Weltsicht hinterherzulaufen. „Folgt die Zeitung der Kritik der Aktivisten“, wirft die F.A.Z. zutreffend ein, „gäbe sie den Journalismus auf.“
Wie woke darf es sein?
In eine umgekehrte Richtung, wenn auch diesmal weniger extrem, geht wie letzte Woche ein Fall aus Florida. Ein College in Bradenford wollte eine Kunstausstellung auf dem Campus zensieren, da sie mit ihren Bezügen auf „Diversität“, „Inklusion“ und Abtreibung Anstoß erregen könnte. Die Schau weist zweifelsohne einen starken Agitprop-Charakter auf (die inkriminierten Bilder sind hier zu sehen), es stellt sich aber wiederum die Frage, ob man sich der Woken mit den Mitteln des Cancelns erwehren sollte. Die Ausstellung wurde inzwischen vom Hochschulgelände abgezogen.
Erbarmen, die Hetzer kommen
Sie sind im IT-Bereich gut qualifiziert, verstehen aber nichts von Strafrecht und politischem Extremismus? Dann können Sie bei der Meldestelle „HessenGegenHetze“, angesiedelt im Wiesbadener Innenministerium, „gemeldete Beiträge und Kommentare aus sozialen Netzwerken nach extremistischen und strafrechtlichen Gesichtspunkten“ beurteilen. Das verrät eine aktuelle Stellenausschreibung. Auch die „Vorklassifizierung aggressiver Sprache und Fake-News“ würde Ihnen beim Denunziationsportal abverlangt. Strengen Sie sich ein bisschen an, dann trägt der Kampf gegen „aggressive Sprache“ nicht nur im Internet Früchte, sondern am Ende sogar noch im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Das Wandern ist des Neonazis Lust
Aus Hessen stammt Comedian Nikolai Binner, der in dieser Kolumne unter meinem Vorgänger mehrfach Thema war (hier und hier). Am Dienstag musste er ein Video auf YouTube verändert hochladen, weil es zuvor gelöscht worden war. Aus „Warum auch DU ein NAZI bist...“ wurde der neue Titel „Wenn die Nazi-Keule zur Lachnummer wird...“. Binner nimmt sich dort verschiedener Versuche an, Aktivitäten wie Wandern oder Pornoverzicht als rechtsextrem zu framen. Anscheinend war für die Google-Videoplattform vor allem eine kurze Einblendung das Problem, bei der man für eine Sekunde auf einem Bild mit NS-Uniformen eine Hakenkreuzarmbinde sehen konnte. Wenn das nicht einmal im satirischen Kontext mehr möglich sein soll, was darf dann der gute alte John Cleese noch?
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
Ein Archiv der Cancel Culture in Deutschland mit Personenregister finden Sie unter www.cancelculture.de. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind die Betreiber der Webseite auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie ihnen gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de